Walter Hövel

Unsere Schule heute 1999

 

Eine Kindergärtnerin, 7 Lehrerinnen, 2 Lehrer, ein Schriftsetzer, eine Sekretärin und viele Mütter, Väter und ein Großvater haben etwas gemeinsam. Die Vermittlung von Lehrstoff ist sekundär ge-genüber der Begleitung der Kinder in den eigenen Lernprozessen. Wir alle trauen den Kinder alles zu. Unsinniges, Dummes oder Falsches, aber vor allem, dass sie lernen, trotz und mit Schule.

 

Um es anders auszudrücken, wir nehmen die Kinder als Menschen ernst. Wir sind erwachsene Dialogpartner, Organisationshelfer, Berater, Lernanimateure und Mitlerner. Und wir versuchen einschätzbar, berechenbar, zuverlässig, erreichbar für die Kinder zu sein.

 

Eine unserer Berechenbarkeiten besteht darin, dass wir an unserer Schule keine Schlägereien zulassen. Wir sind hier relativ zuverlässig, da wir jede unserer Handlungen unterbrechen, wenn eine Schlagerei sich entwickelt oder bereits im Gange ist. Die Kinder können uns einschätzen. Sie wissen, dass ein Gespräch folgt, ein Klassenrat, auch mit „betroffenen Gästen“ aus anderen Klassen oder Schulen, wir nicht das Elterngespräch scheuen, Jungengruppen oder „Furien-programme“ (Lutz Wendeler) initiieren, wir Übungen zu Verhaltensalternativen machen, oder schlichtweg sauer sind, wenn einer die Hauptregel missachtet und dies auch zeigen und damit die Betroffenen erreichen.

 

Dies alles ist eingebettet in einen Schulalltag, in dem es keinen Plan und kein Programm gibt, der den Lehrkräften das kindgemäß – offen – frei - arbeitende“ oder „werkstatt – stationen – atelier - orientierte“ oder „freinet – montessori – gestalt – humanistische“ Arbeiten vorschreibt, da es mehrheitlich verabschiedet, vom Schulleiter durchgesetzt wurde. Vielmehr arbeiten wir an einem „neuen heimlichen Lehrplan“.

 

Eines der Grundelemente unserer Philosophie ist, dass traditionelle Schule wahrscheinlich die Dinge des Lernens eher falsch gemacht hat, wir aber, wenn wir’s nicht besser wissen, es genau so wie in der Schule machen (alte freinetische Weisheit).

 

Die Praxis der Didaktik behindert das Lernen der Menschen. So halten wir den frontalen Unterricht (besser „direct teaching“) für eine gute Form der Vermittlung von den Kindern erfragten Inhalten, falls nicht alle zuhören müssen, und uns selbst auch der Sinn des zu Vermittelnden einleuchtet und wir uns selbst bei diesem Thema für kompetent halten.

 

Aber die meiste Zeit verbringen die Kinder bei ihren „Verabredungen“ (Ulrike Strombach), in ihren eigenen Arbeitsgruppen und im Gespräch im Kreis.

 

Die zweite Erkenntnis ist die, dass Menschen nicht auf die Grundlage einer programmatischen Plattform festzunageln sind, auch wenn sie sie selbst erarbeitet haben.

 

Bei der programmatischen Festlegung der Arbeit können sie gar nicht wissen, was für Lernsitu-ationen die Kinder und die Situationen der Zukunft verlangen werden. Und vor allem, woher soll ein Lehrer oder eine Lehrerin wissen, was sie selbst zukünftig leisten können, wo sie sich hin entwickeln werden. Eine Lehrperson, die sich selbst entwickeln soll, die die „Erlaubnis“ bekommt selbst zu lernen und die eigene Professionalität (Hartmut Glänzel) zu erhöhen, kann doch nicht vorher eine Forderung an sich selbst unterschreiben, wenn sie möglicherweise ein normaler Mensch geblieben ist und sich vor Unbekanntem fürchten konnte, auch wenn sie es selbst einmal tun konnte.

 

Es gilt also, am „geheimen Lehrplan“ zu arbeiten, im alltäglichen pädagogischem Kleinkram entlang der Bedürfnisse der Kinder zu kooperieren, es gilt, die eigene Arbeit ständig und immer wieder kritisch zu reflektieren (Klafki) und das kooperativ zu tun (Freinet). Es gilt, das eigene Tun immer wieder einzuordnen, in vorhandene Denkmodelle, in entstehende oder eigene.

 

Erst im Nachherein ergibt es Sinn, dass bereits erreichte in einer Programmatik festhalten zu wollen, damit es nur verloren geht, wenn es nicht mehr gebraucht wird, damit es nicht versehent-lich, aus Unaufmerksamkeit heraus verloren geht.

 

Die dritte Erkenntnis ist die, dass die Freinetpädagogik zwar meine Pädagogik ist, die anderen aber eher Richtung Jürgen Reichen gehen, oder auf die Richtlinien der Grundschule als solche schwören, oder in der zweiten Ausbildungsphase zu Stationsarbeitern geformt wurden, oder wir alle aber im Grunde genommen unsere eigene Pädagogik entwickelt haben, und dieses Selbst-bewusstsein vielleicht schon nach zweieinhalb Jahren Arbeit, so etwas wie einen eigenen päda-gogischen Stil der gesamten Schule hat entstehen lassen. Jede Lehrerin pflegt ihren eigenen Unterrichtsstil, wobei gemeinsame Elemente durch den ständigen Austausch immer wieder ausfindig zu machen sind. Gleichzeitig aber ist die gesamte Schule eingebunden in ein gemeinsames Flechtwerk von Ereignissen, Regeln und Organisationsformen.

 

Alle arbeiten auf den Gängen und im Forum, wo Tische und Stühle stehen, die Kinder arbeiten im Lehrerzimmer, im Sekretariat oder im Schulleiterzimmer, sie sitzen draußen, vor der Klasse, auf Treppen, im Schulgarten oder auf der Wiese, gehen alleine in die Druckerei oder benutzen die Lehrertoilette.

 

Es gibt alle 14 Tage eine Schulversammlung, die jetzt von den Kindern selbst geleitet wird, wo Tänze, Freie Texte, Schattenspiele, Projektergebnisse, Theaterstücke und Lieder genauso vor-gestellt werden, wie Probleme mit über 200 Kindern besprochen werden. Wir beginnen jede Wo-che mit einer Montagsversammlung. Hier werden Geburtstagskinder gefeiert, ein gemeinsames Lied gesungen, Schulnachrichten über unsere eigene Arbeit verbreitet.

 

Wir richten gerade ein „Kinderparlament ein“, dass aus einer konkreten nicht geplanten Situation heraus entstanden ist. Welche Aufgaben es übernehmen wird, werden wir nicht programmatisch planen, sondern es wird sich entwickeln. Alle tragen Hausschuhe im Gebäude, drinnen wird nicht gelaufen, in den Pausen entscheidet jeder selbst, ob sie oder er rausgeht oder im Gebäude bleibt.

 

Immer wieder gibt es Arbeitsgruppen mit Eltern, die Druckerei betreute ein arbeitsloser Schrift-setzer, jetzt zwei Mütter. Es gibt immer wieder klassen- und jahrgangs- übergreifende Projekte,

gemeinsame Arbeitsstunden verschiedener Jahrgangsklassen, der Besuch einzelner in anderen Jahrgangsklassen für Stunden oder Tage. Die Türen stehen auf, wir gehen auch zu den anderen rüber, um eben was zu fragen, um einen Ärger sofort loszuwerden oder weil du ein Material brauchst.

 

Und das alles machen wir Lehrerinnen wie eine Freinetklasse. Die Freinetpädagogik habe ich als Schulleiter verbindlich gemacht, nicht für den Unterricht in den Klassen, sondern als Organisationsmodell für die Lehrerinnen selbst.Unser“ Kollegium ist „meine“ Freinetklasse.

 

Im Zentrum steht die wöchentliche 2-stündige Konferenz wie der Klassenrat in der Klasse.

Eine Wandzeitung bestimmt die Themen unserer Arbeit, ob „Fort – Bildungs - Thema, Problem, Inhalt, Wunsch oder Angebot.

 

Der erste Montag im Monat ist immer die „Kinderkonferenz“. Hier werden die Probleme einzelner Kinder vorgestellt. Gemeinsam erstellen wir so etwas wie „individuelle Lernprogramme“ für diese Kinder. Die Präsidentschaft wechselt wie das Protokoll jede Woche, nur der (supervisionäre) „Joker“ fehlt. Hier wird die Arbeit reflektiert, evaluiert, geplant, gestritten, geklärt, die Schule auch einmal politisch gesehen, gezeigt, gemacht, gearbeitet, - kooperativ - und gelernt.

 

Die vierte Erkenntnis ist die , dass auf den Staat, den Träger der Einrichtung Schule, relativ wenig Verlass ist. Er versucht viel einzufordern, (selbst die selbstverhinderte Qualität-Sicherung). Es scheint genügend Personal da zu sein, um Erlasse und Traktate zur „Leistungskontrolle und dem Üben als tragendes Element der „deutschen Leistungsschule“ zu schreiben, auch wenn wir mit dieser gleichbleibenden Masche seit Jahren im internationalen Vergleich immer mehr absak-ken.

 

Aber ansonsten ist es so, wie es dereinst im real existierenden Sozialismus einmal gewesen sein soll: mal fehlt es an Lehrern, mal fehlt es an Mitteln für die Einrichtung, mal an Einsicht in die Lage der Basis, mal an Geld für Schulbücher, mal an Geld für Reinigungskräfte oder Hausmeister, aber die Planerfüllung muss immer stimmen.

 

Die Brigade vor Ort hat die Probleme schon zu lösen, verantwortlich für den richtigen Einsatz-willen sind die untersten Leitungen. Die Politik stimmt immer, da die Politiker ja alles ...

 

Und hier setzt die fünfte Erkenntnis ein: Wir tun alles, was nicht verboten ist (Werner Mayer), und das hartnäckig, informierend, klug und vermittelnd. Einer meiner Lieblingssätze an Leute, die aus unserer Schule eine „normale“ Schule machen wollen, lautet: „Auch Sie machen aus unser-er Schule keine Schule!“