Walter Hövel
Gäste

 

Jeder Besuch an der Grundschule Harmonie, insgesamt weit über 10.000 Menschen, endete mit mindestens einer Stunde der Besprechung. Immer wieder übernahmen Lehrer*innen und Kinder diese Aufgabe. Ansonsten stand der Schulleiter Rede und Antwort. Fast immer begann die Besprechung mit der Frage „Was hast du heute gesehen?“.

 

Einen ganzen Morgen, mehrere Tage oder gar Wochen konnten die hospitierenden Eltern, Lehrer*innen, Studierenden, Auszubildenden, Kinder, Hochschulangehörige, oft ganze Seminare, Betriebsleute, Lehramtsanwärter*innen und ihre Dozenten, Jugendliche, Stiftungsmitglieder, Schulaufsichtsbeamte, Bundestagsabgeordnete, Doktorand*innen, Schriftsteller*innen aus dem In- und Ausland durch jeden Raum und das Gelände, überall hingehen. Sie konnten jede Schüler*in oder Erwachsenen an der Schule ansprechen.

 

Viele verstanden uns, andere teilweise oder nicht. Die Mehrheit wusste allerdings, was sie bei uns suchten und fanden. Die Schulrätin sagte einmal, „Es kommt nicht darauf an zu begreifen was an der Grundschule Harmonie geschieht, sondern das das möglich ist, was hier zu sehen ist.“

 

Einige bekamen schriftliche Antworten. Hier zwei Beispiele.

 
Sehr geehrte Salome Mueller,

mit einer kleineren Gruppe sind sie bei uns willkommen. Bitte machen Sie ein paar Terminvorschläge, damit wir nach einem Blick auf unseren recht vollen Besucherkalender, Ihnen eine Terminbestätigung zukommen lassen können. Wir schicken Ihnen einen Überblick über nahe Pensionen.

 

Die von Ihnen gewünschten Unterlagen können Sie bei Ihrem Besuch gerne kopieren.

 

Unterlagen zum Pro und Contra von altersgemischten Lernen wären jene, die etwa Hans Brügelmann veröffentlicht. M.W. kommt bei wissenschaftlichen Untersuchungen heraus, dass sich beide Systeme im Leistungsausput die Waage halten. Die übergreifenden Systeme gewinnen aber immer in Bezug auf "weiche Kriterien", wie Verantwortungsübernahme, Selbstwertgefühl, solidarische Stimmung, Konfliktbewältigung, etc.

 

Zu unserer Schule ist zu sagen, dass wir bis vor 4 Jahren auch in Jahrgangsklassen ein sehr offenes Lernen praktiziert haben. Wir haben über zwei Jahre mit Kindern und Eltern ohne Druck über die Einführung der Klassen 1 bis 4 nachgedacht. Wir sind heute überzeugt davon, das Richtige getan zu haben. Es ist einfach normaler in altersgemischten Klassenkooperativen zu leben und zu arbeiten.

 

Für uns entscheidend war, dass wir mit dieser Änderung einerseits die Klassenverbände als soziale, familienähnliche Gruppen gestärkt haben und gleichzeitig lernten, unsere Klassentüren noch mehr zu öffnen, mehr Zusammenarbeit über die Klassengrenzen hinweg organisierten und das Schulleben mächtig forcieren konnten.

 

Heute erscheint es uns unverständlich wie eine Schule die Ebene des"Die-ganze-Schule-lernt" ungenutzt verschenken kann. In der Konsequenz dieser Dinge entwickeln wir zur Zeit Dinge wie "Leadershipausbildung für Kinder" (Verantwortungsübernahme), Klassenräume mit einem zweiten Schwerpunkt wie Experimente, Kunst, Mathe, etc. (in Ermangelung zusätzlicher Räume), …

 

Wir verfügen über keinerlei zusätzliche öffentlichen Mittel und Stellen. Unser Klientel sind eher arme Menschen bis zum mittleren Mittelstand. Zusätzliche Mittel sind rar und selbst erarbeitet.

 

Bei ca. 190 Kindern in 8 Klassen verfügen wir zur Zeit über 6 "ordentliche" Lehrkräfte mit je 28 Wochenstunden, eine weitere volle Kraft hat nur das erste LehrerInnenexamen. Dann gibt es 3 LehramtsanwärterInnen, also Menschen in der 2. Ausbildungsphase, die alle zusammen 12 Stunden(!) unterrichten sollten, aber sind alle außer an ihrem Seminartag die gesamte Zeit über da und zählen nicht ihre Stunden. Hinzu kommt eine Sozialpädagogin, die gleichzeitig im Lehramt studiert und auch voll als Lehrerin arbeitet.

 

Da uns der Staat keine Lehrerinnen und Lehrer mehr einstellt (der "Markt" ist leer!!!), haben wir in dieser katastrophalen Situation noch eine "halbe" Sozialpädagogin mit 14 Stunden neu bekommen.

 

Wir sind also keine Schule aus der Retorte, sondern haben uns so wie wir sind aus eigener Kraft entwickelt.

 

Die exakten Kosten für eine SchülerIn (Lehrergehälter, Hausbewirtschaftung, Bücher, etc.) habe ich vor Jahren einmal mit ca 8000€ pro Jahr berechnet. Ich werde in einer Stunde der Muße das einmal wiederholen.

 

Mit freundlichen Grüßen

Walter Hövel

 

Von: salome mueller

 Gesendet: 11.04.07 12:08:29

An: grundschule.harmonie@web.de

Betreff: Anfrage Informationen

 

 

 

Sehr geehrte Schuleiter

Sehr geehrte Lehrerinnen und Lehrer

 

Mit grossem Interesse habe ich auf Ihrer Homepage gestöbert und bin von Ihrer Schule völlig begeistert.

 

Zur Zeit arbeite ich an der Fachhochschule Nordwestschweiz in einem Studiengang zur integrativen Begabungsförderung (Weiterbildung für Lehrpersonen) und zudem bin ich in einer Gemeinde im Kanton Baselland für den Aus- und Aufbau der Begabungsförderung zuständig.

 

Gerne würde ich nach und nach einige bewährte Elemente Ihrer Schule adaptieren auf Schweizer Bedingungen und einfliessen lassen.

 

Nun gelange ich mit folgenden Fragen an Sie: Ist es möglich, mit einer kleinen Lehrergruppe Ihrer Schule einen Tagesbesuch abzustatten, um das Modell kennen zu lerne, und sich eine Vorstellung machen zu können?

 

Hätten Sie evtl. Unterlagen, die Sie mir zur Verfügung stellen könnten z. B. über Gestaltung eines individuellen Arbeitsplanes, Selbsteinschätzung der Kinder, Grundlagen für Beurteilungsgespräche und ähnliches?

 

Bisher arbeitet unsere Schule mit einzelnen Projekttagen und Erweiterten Lehr-Lernformen, jedoch noch immer im Jahrgangsunterricht und nach einzelnen 45-50 Minuten -Lektionen unterteilt.

Haben Sie vielleicht Unterlagen zu pro-contra "Mehrjahrgangsstufenklassenbildung"?

 

Wie viele Lehrpersonen sind pro ca. 20 Kinder beschäftigt?

Könnten Sie mir über Kosten der Schule allgemein und für die einzelnen Schüler/innen Auskunft geben?

 

Für Ihre Hilfe und Unterstützung wäre ich sehr dankbar.

Mit freundlichen Grüssen

Salomé Müller-Oppliger

Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz

Studiengänge Begabungsförderung

 

Salomé Müller-Oppliger

Wissenschaftliche Mitarbeit

Kasernenstrasse 31

4410 Liestal

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salome.mueller@fhnw.ch

www.fhnw.ch

 

 

 

Sehr geehrter Herr Hövel,
als Leiterin der Grundschule Harmonie, die beim Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde,
sind Sie vermutlich momentan eine gefragte Persönlichkeit. Ich hoffe, dass Sie mir dennoch
zwei Fragen beantworten werden, die ich im Zuge einer Forschungsarbeit an Sie richten
möchte.

1. Setzen die Lehrerinnen und Lehrer Ihrer Schule vorwiegend Standardmaterialien der Schulbuchverlage im Unterricht ein?
W.H.: Nein. Wir kaufen in der Regel Bücher anstelle von Schulbüchern. Unsere Bibliothek umfasst ca. 4500 Bücher. Wir arbeiten in den Klassen nur mit Mathebücher, bzw. den dazu genötigten Trainern. Diese dienen aber nicht zum Unterrichten, sondern die Kinder arbeiten sie durch.
Immer wieder setzen wir auch andere "Trainer" für einzelne Kinder ein. Didaktisierte oder didaktisierende Materialien setzen wir äußerst zurückhaltend ein.

2. Oder wird eigenes Unterrichtsmaterial erstellt, das dann an Kollegen weitergegeben wird.
W.H.: Nein. Wir besitzen Unmengen von Unterrichtsmaterialien, die wir im Laufe der Jahre angesammelt haben. Dabei sind auch von uns erstellte Materialien. Sie zu erstellen ist aber eher die Ausnahme. Unsere Kinder lernen direkt, das heißt: Das erste "Material" ist die reale Umwelt, die Natur, sie selbst, die Kommune und ihre Menschen, Papier, Stifte, Farben und Töne, Experten, Bücher, Medien, das Netz,...

3. Wenn eigenes Material erstellt wird: Gibt es Vorgaben/ Vorlagen/Computerprogramme mit
denen das geschieht?

W.H.: Nein. Nur wenn diese gut oder brauchbar oder anregend sind. Meistens sind die "Vorgaben" eigene Ideen oder gute Ideen anderer KollegInnen und Schulen im In- und Ausland.

4. Wenn eigenes Material erstellt wird, ergibt sich die Frage, wie Sie gewährleisten, dass die Bildungspläne umgesetzt werden. Oder haben Sie im Zuge Ihrer Profilbildung eigene Lerninhalte entwickelt?
W.H.: Wir leben ausgezeichnet mit den Lerninhalten der Richtlinien und Lehrpläne. Es waren keine Dummköpfe, die diese erstellt haben, sondern ausgesprochen fähige und erfahrenen Pädagoginnen. So kommt es, dass, wenn wir Kinder selbst bestimmt und selbst verantwortet arbeiten lassen, dass sie nahezu automatisch die beschrie-benen Inhalte treffen, und vor allem die gewünschten tragfähigen Grundlagen und Schlüsselqualifikationen erlangen.  In der Regel einige Inhalte und Kompetenzen mehr, und wenn mal ein relevanter Inhaltfehlt, bieten wir ihn zum Lernen an. Eigene Lerninhalte der Kinder entwickeln sich, wie in den Richtlinien beschrieben, bei selbstgesteuertem Lernen zwangsläufig.

5.Zum Hintergrund meiner Forschung: Ich gehe der Frage nach, welchen Stellenwert (über das
hinaus, was gute und erfolgreiche Schulen im Zuge ihrer Profilbildung an individuellen
Maßnahmen erarbeitet und umgesetzt haben) Faktoren wie "Lehr- und Lernmaterial" und
"Bildungspläne" haben.

W.H.: Okay, Lehr- und Lernmaterialien sind oft kindisch und nicht kindgemäß, unterfordernd und nicht anregend, verkopft, aber nicht intelligent und verleiten zum Mittelmaß anstatt jedes Individuum und jedes Team zu Leistung, Sinn und Freude am Lernen anzuregen. Diese "Materialien" sind ein Verkaufsobjekt. Es kommt nicht darauf an, dass sie gut oder gar sehr gut sind, sondern dass der durchschnittliche Lehrer sie einsetzt. Und das produziert weiter Durchschnitt und keine PISA-Spitzenplätze. Bildungspläne sind wie Steinbrüche zu benutzen, um jene Dinge zur rechten Zeit am rechten Ort, beim rechten Problem passend zur Lernerpersönlichkeit parat zu haben. Sie bieten viel an. Bildungspläne sind gute Orientierungen um Probleme des Lernens und der Bildung zu erkennen. Bildungspläne können etwas weiter als zu verkaufende Schulbücher gehen. Sie inkludieren, neben der Begründung der Schulbücher,  Anregungen zu gesellschaftlich notwendigen
Veränderungen. Der "durchschnittliche Lehrer" steht traditionell den Bildungsplänen skeptisch gegenüber.

Darüber hinaus möchte ich klären, in wie weit man Schulen für Schulentwicklung motivieren kann, denn der Aufwand ist, diesen Eindruck habe ich zumindest bis jetzt gewonnen, groß.

Zur Schulentwicklung motivieren Lehr- und Lernmaterialien erst sehr spät. Bildungspläne können nur stützen.

Schulentwicklung macht eine demokratische und Menschen würdigende Einstellung, Vertrauen in Menschen und Kinder Mut und Selbstvertrauen der Lehrkräfte, gute pädagogische Vorbilder, Kraft und eigenen Willen eigene freie Lernerfahrungem und die Fähigkeit etwas Eigenes mit Kindern und Eltern entwickeln zu wollen, und der tägliche Versuch so wenig Schule in der Schule zu machen wie möglich. Nur das sich entwickelnde Lernen der sich entwickelnden Menschen entwickelt Schule. Nur das sich frei entwickelnde Lernen der sich frei entwickelnden Menschen entwickelt auch freie staatliche Schulen.

Ich danke Ihnen im Voraus herzlich für Ihre Antwort.
Mit freundlichen Grüßen
Hannelore Ohle-Nieschmidt
Herdweg 75
70193 Stuttgart