Walter Hövel
Mister Taylors überall

 

Nicht nur unsere Lehrer*innen lernten nur gefragt zu lehren, dabei ihr Weltwissen an die,

die es hören wollten hinzutragen und viele Erkenntnisse mitzunehmen.

 

Mit jedem Menschen, der bei uns war, habe ich mindestens einmal geredet, ob Kind, Besucher*in, Mit-arbeiter*in oder Eltern. Zumindest habe ich es versucht.


Nie verstand ich die Leitung der Schule als nur administrativ-pädagogische Aufgabe. Eher sah ich mich als systemischen Organisationsentwickler einer staatlich demokratischen Firma, deren ersten Klienten Kinder waren.

 

Hier sei nur beschrieben, dass oft über 40 Leute da arbeiteten, wo sonst nur acht bis zehn Lehrer*innen unterwegs waren. Hier wird beschrieben, dass „wir das Dorf sind“ (Herbert Renz-Polster) und wie wir an der Grundschule Harmonie zwischen 1995 und 2015 an der Veränderung des Lernens bastelten.

 

Mit manchen ging ein Gespräch nicht. Entweder ich war nicht da oder der Mensch wollte oder konnte nicht reden. Ich habe jede/n wichtig und ernst genommen.

 

Wie aus Herrn Schneider Mister Taylor wurde

Eines Tages wurde uns wieder von der wirklich tollen Amtsleiterin der Gemeinde ein junger Mann ge-schickt. Ich wusste von ihm, dass er mächtig auf Drogen war und kaum arbeitsfähig.

 

Ich redete mit ihm und – mitten im Gespräch hörte ich mich plötzlich fragen „Sprichst du eigentlich Englisch“. Er überlegte kurz um dann zu antworten „Na klar!“.Er hieß ab sofort nicht mehr „Schneider“, sondern Mister Taylor.

 

Den Kindern sagte ich „Da kommt ein Engländer – der kann kein Deutsch. Das kannten sie. Von unseren ersten Englischlehrer*innen (vor der Einführung des “Faches“) sprachen zwei kein Wort Deutsch. Endlich hatte ich einen, wenn auch künstlichen Native Speaker wieder.

 

Nur dann hörte ich ihn Englisch reden. Er sprach Englisch wie er es gelernt hatte, mit einem deutschen und sächsischen Akzent. Ich wollte das Experiment sofort einstellen, wobei Englisch doch eine angel-sächsische Sprache ist. Doch dann merkte ich, dass die Kinder das Spiel mitspielten. Bis heute weiß ich nicht, ob sie um den Fake wussten oder nicht. Aber es klappte. Alle Kids sprachen Englisch mit ihm und er nie Deutsch, immer nur „sein“ Englisch.

 

Und wie toll er das machte. Er spannte seine Slackline auf und fand immer begeisterte Mädchen und Jungs, die mitmachten. Er hatte eine kleine Gruppe von Kindern, die bei ihm Gitarrespielen lernten. Immer küm-merte er sich um Kinder. Natürlich immer auf Englisch und alle nannten ihn „Mister Taylor“.

 

Leider fehlte er oft. Er selbst führte seinen Kampf mit den Drogen, seine Freude an der Arbeit mit den Kindern - und in seiner Welt. Leider gewannen die Drogen damals. Nach gut einem Dreivierteljahr kam er nicht mehr. Alle, Schule oder Gemeinde verloren trotz unserer, trotz intensiver Bemühungen der Amts-leiterin Martina Schneider den Kontakt zu ihm. Er war unerreichbar weg. Ich weiß nicht, was er heute macht.

 

Ein paar Beispiele anderer Menschen
Da war die junge Frau, die die Schule nach der 9.Klasse, wie sie sagte, „abbrach“. „Wegen Mathe“, sagte sie. Sie wurde eine unserer besten Mathelehrerinnen.

 

Ich erinnere mich an den älteren Mann, der kaum redete. Er baute „unsere“ Freinetdruckerei in der Loge unseres Forums auf. Er brachte als ehemaliger Drucker vielen Eltern das Drucken bei. Sie druckten mit den Kindern. Sie lehrten fast 20 Jahre lang anderen Erwachsenen wieder das Drucken, und unsere Kinder sahen Erwachsene arbeiten. Unser Drucker verließ uns nach einem Jahr, weil er bis zur Pension eine Anstellung als Drucker in Köln fand.

 

Sie war eine Studentin und jobte im großen Kino in der Kreisstadt. Sie organisierte, dass gut 100 Kinder unserer Schule die Premiere des Siebenzwergefilmes mit den leibhaftigen Stars des Streifens miterlebten.

 

Bömmel“, früher Türsteher im „Lords Inn“, hängte als Ein-Euro-Hausmeister alles schief auf. Aber er redete mit den Kindern und führte viele zum (Weiter)lernen. Diese Menschen nannten wir bald „Assistent*innen“. In England sahen wir in den Klassen Menschen, die den Lehrer*innen in ihren Stunden halfen. Sehr bald imitierten wir ihre Ausbildung- nach unseren Methoden. Von diesen Ein-Euro-Kräften arbeiteten als Assistenten bis zu zehn Menschen täglch bei uns.

 

Er kam als Integrationskraft. Bei uns arbeiteten - von verschiedenen Jugendämtern „besorgt“ - in den möglichen Hauptzeiten bis zu elf Menschen. Sofort -oder gar vor uns – begriff er, dass jedes Kind anders, selbst und am besten frei und kooperativ lernte. Er machte seinen Job immer mit allen Kindern, nicht nur seinem „Zögling“. Hinzu kam, dass er Engländer war, perfekt Deutsch sprach und Türkisch, weil er über ein Jahr in Istanbul lebte. Sofort lernte er u.a. mit einer Gruppe Türkisch sprechender Kinder die englische Sprache. Das tat er mindestens drei Jahre lang.

 

Zwei türkische Frauen halfen als Assistent*innen jahrelang, wie sehr viele andere Frauen und Männer vielen Kindern beim Lernen.

 

Eine Praktikantin arbeitete ein ganzes Jahr jeden Tag ohne jede Bezahlung im Sekretariat unserer Schule. Die Gemeinde „schickte“ und eine Kraft mir 8 Stunden an zwei Tagen. Welch eine Katastrophe das war, sahen wir an der freiwilligen Praktikantin. Sie war ein Traum. Seit vielen Jahren ist sie nun im Büro einer recht großen Firma vor Ort tätig.

 

Zum Girlsday ließen sich die gymnasialen Lehrer*innen einen Boysday einfallen. So kamen ehemalige Schüler*innen unserer Schule für einen Tag zu uns. So kamen auch, wenn des Gymnasium an anderen Tagen als wir „frei“ machte. Zu Beginn gingen sie einfach hin und halfen unseren Kindern bei der Arbeit. Schließlich wussten sie wie das geht. Als immer mehr kamen ließen das Kollegium und ich uns einfallen, dass sie eigene Lernangebote machten.So kam ein Ehemaliger mit seinem Freund vorbei. Dieser wollte einen Scherz machen und schlug lachend den „Satz des Pythagoras“ als Angebot vor. „Sei vorsichtig,“ sagte der Ehemalige, „der (er meinte mich) macht das“. So boten die beiden sehr erfolgreich in einer eintägigen Kinderuni neben vielen anderen Themen anderer, den „Satz des Pythagoras“ und „Kraftraining“ an.

 

Eine tolle Pflegschaftsvorsitzende säuberte an einem Tag mit anderen Eltern und Kindern die Toiletten. Weiter organisierte sie das Backen der traditionellen Weckmänner zum jährlichen Sankt-Martins-Zug in einer türkischen Bäckerei mit Kindern, Eltern und der türkischen Gemeinde.

 

Es gab „Lesemütter,“ die Kindern Woche für Woche vorlasen. Eine andere reparierte mit Kindern Bücher, die kaputt gegangen waren. Andere Mütter brachten uns (also Erwachsenen und Kindern gemeinsam) Französisch und Spanisch bei, eine Inklusionstudentin aus China eineinhalb Jahre Mandarin. Es gelang uns nie Kölsch- oder Romaneskurse anzubieten.

 

Viele Jahre lang waren drei bis sechs Inklusionsstudent*innen von der Uni Siegen bei uns. Sie kamen einmal in der Woche, jede drei Semester lang. Sie waren zur Arbeit mit festen Kindern da oder sie machten Angebote. Einmal im Monat saß ich mit ihnen zusammen um ihre Studien-und Grundschularbeit zu besprechen.

 

Ein von der Gemeinde einmal in der Woche gestellter Hausmeister war eigentlich Schreiner. Er baute uns u.a. eine große, bewegliche Bühne im Musik- und Theaterraum, der - dank des Architekten - zum Forum eine zu öffnende Lamellenwand hatte.

 

In unserem Haus arbeiteten immer Assistent*innen, Eltern, Inklusionsstudentinnen, Doktorand*innen, Praktikant*innen. Bei uns waren in zwanzig Jahren über dreißig Lehramtsanwärter*innen immer für ein bis zwei Jahre, Gäste von Schulen und Hochschulen des In- und Auslandes, ihre Profs, ganze Hochschul- und Ausbildungsseminare, Fortbildungsgruppen, Ministerielle, Institute, Schulaufsichten, Stiftungen, Juries, „Integrations-helfer*innen“ oder „Schulbegleiter*innen“, Referent*innen der schuleigenen Vorlesungen und Kinderunis. Kinder lernten mit vom eigenen Ganztagsverein bezahlten Ganztagskräften, alleine vier „schwer vermittelbare“ Angestellten des Arbeitsamtes mit 30 oder 40 Stunden, von einigen Eltern finanzierte Native Speaker*innen aus der Gemeinde und Lehrer*innen aus dem englischsprachigen Ausland, Schüler*nnen und Student*innen, Angestellten der Kirchen. Studentinnen und Lehrer*innen aus Lettland, England, Dänemark, Polen, Irland, Luxemburg, Frankreich, Kroatien, den USA, Österreich oder der Schweiz schliefen bei Eltern und Kolleg*innen und lernten tagsüber mit den Kindern. Eine Frau der örtlichen Elternberatung nahm einmal im Monat über sehr viele Jahre an unserer Konferenz teil. Es kamen viele Menschen aus dem Ort, der Region, dem ganzen Land oder anderen Ländern. Das Internet stand immer allen zum Lernen offen. Alle arbeiteten mit den Kindern, wie das die Kinder selbst und ihre Lehrer*innen taten.

 

So entwickelten wir keine Schule, die nur ein Konzept1 hatte. Ihre Mitarbeiter*innen waren das Konzept eines „Lernens in der Welt“.

 

1Viele andere Artikel dieser Homepage beschreiben dieses Konzept.