Walter Hövel
„Was beim Schreiben nach Gehör
herauskommt“
Zur sternTV-Sendung am 6.November
2013
Ende Oktober, in den Herbstferien, bekomme ich im
Urlaub von einem freundlichen sternTV-Mitarbeiter einen Anruf: Ob „sternTV, die Firma von Herrn Jauch … an der Grundschule Harmonie Aufnahmen zu
„Lesen durch Schreiben“ machen könne. Es ginge natürlich auch um Rechtschreibung…“
In den nächsten Tagen wurde ich gefragt, ob ich auch ins Studio kommen würde. In meiner „Studio-gastvereinbarung“ vom 4.11. wird nicht mehr von „Lesen
durch Schreiben“, sondern nur noch vom „Thema: Rechtschreibung“ gesprochen.
Am 7. November lese ich bei sternTV auf ihrer Homepage: “ Umstrittene Lernmethode Was beim Schreiben nach Gehör herauskommt….Zahlreiche Eltern vermuteten in der Methode sogar die Ursache
der Rechtschreibschwäche ihrer Kinder.“[1]
Was wurde
vorher und nachher von sternTV gesagt? Und was sagten mir Bekannte und Unbekannte vor und nach der Sendung: „Traue niemals diesen Journalisten, egal wie nett sie auftreten“.
Welchen Schluss zieht man daraus? Mit „diesen Journalisten“ nichts zu tun haben wollen? Der Sensations- und Einschaltqotenpresse ausweichen. Sich mal wieder einschüchtern lassen?
Nicht
anders das TV-Team in der Schule: Sie drehten 8 Stunden lang, erst in einer Klasse und machten danach Interviews mit verschiedenen Lehrerinnen und
Lehrern. Gegen ihre Ankündigung einer „ausgewogenen Darstellung“ suchten sie prompt Rechtschreibklippen heraus, „führten Kinder vor“[2]
und gaben meinen einzigen Grinser zur Rechtschreibung in ihren Drei -Minuten-Zusammenschnitt.
Sie interessierten sich nicht für die anderen Hunderte von gesagten Sätzen von uns und vielen Kindern, und auch nicht um die eigenen Sätze.
Ulli Schulte, die betroffene Klassenlehrerin, schrieb
in einem Brief an die Redaktion:
„ … Finden Sie es fair, die Leistung eines sechsjährigen Mädchens (7 Wochen im
ersten Schuljahr) so verdreht darzustellen und so verdreht zu kommentieren, dass nicht die eigentliche Leistung, nämlich der Weg und die Schritte zum
Lesen lernen dargestellt und entsprechend sachkundig und professio-nell kommentiert werden, sondern diese Leistung in einem ganz anderen
Lernzusammenhang (genannt Rechtschreibung) als Fehler im Fernsehen öffentlich und ausdrücklich hervorgehoben wird.
Ist es das, was Sie mit
Ihrem Team von Anfang vorhatten? Wollen Sie die Methode "Lesen durch Schreiben" gar nicht als Leselernmethode verstehen und darstellen? In unserem Telefonat war besprochen, dass es um die Methode "Lesen durch
Schreiben" als Leselernmethode geht!!!! ... Ich habe mich nach unserem Telefonat auf Ihr Wort verlassen, dass … die Kinder keinesfalls verunsichert
oder vorgeführt/bloßgestellt werden. So viel also zu Ihrem Wort….“
In der Antwort hieß es lapidar: „…Wir haben uns um eine ausgewogene Berichterstattung bemüht, indem wir beide Positionen kompetent besetzen. Ich habe Verständnis für ihre Sichtweise, kann sie aber nicht teilen. Dass Kritiker und Befürworter in dem Beitrag zu Wort kommen werden, wussten Sie im Vorfeld….“
Welche Haltung nahm sternTV ein? Was wollte sternTV? Ich hörte am Abend im Studio keinen Satz so oft wie „Wir sind neutral“. Ein Redakteur sagte sogar: „Ich bin neutral, ich habe noch mit der Fibel gelernt.“ Meine Antwort, dass ich dann ja auch neutral wäre, wollte oder konnte er nicht verstehen.
Im Studio, vor laufender Kamera, durfte ich die „Privaten Medien“ mit ihrer Mischung aus Freundlichkeit und Beredtheit einerseits und Vereinfachung bis zur Unterstellung und Populismus andererseits 1:1 erfahren. Der emotionale Anheizer war mein „kompetent besetztes“ Gegenüber, der im zu kurzen Hemd als Wissenschaftler auftrat und die im Vorfilm enthaltene Botschaft von sternTV: „Sie sind mit ihrer Methode schuld, dass die Rechtschreibung immer schlechter wird“ verlängerte.
Stellen wir uns einmal vor, „Lesen durch Schreiben“ und Menschen wie ich wären das wirklich „schuld“: „Lesen durch Schreiben“ wäre Praxis an der Mehrzahl der deutschen Grundschulen und würde auch noch individualisiert, ohne Mischformen den Kindern als
Selbstlernmethode angeboten.
Die Realität aber ist vollkommen anders. Ohne zuverlässige Zahlen zu haben, schätze ich, dass keine 10% der Grundschullehrerinnen und -lehrer in Deutschland mit „Lesen durch Schreiben“ arbeiten. Das Benutzen einer „Anlauttabelle“ zur Fibel, zu Buchstabentagen oder im frontalen Unterricht ist noch lange kein „Lesen durch Schreiben“ und würde die Zahl nur unwesentlich erhöhen.
In Deutschland herrscht allerspätestens an weiterführenden Schulen der bekannte Unterricht, der so genannte „Rechtschreibunterricht“. Dieser schaffte es nicht vor 100 Jahren, noch vor 10 Jahren
wie auch heute das gesellschaftliche Bildungsproblem der Rechtschreibung zu lösen! Weder in Frankreich oder den USA, in Finnland oder Südafrika, in keinem Land der Welt!
Das und anderes zu sagen, wäre „neutral“ gewesen, liebe sternTV-Redaktion. So aber wurden Stammtischrunden, Facebookseiten und bereits verunsicherte Eltern mit eingängigen Unterstellungen
gefüttert.
Und, der Redakteur war bestens unterrichtet! Er hatte von Professor Hans Brügelmann die gesamte noch nicht erschienene Ausgabe der Zeitschrift des
„Grundschulverbands“ zum Thema „Recht-schreiben“ erhalten und meine Artikel zu „Lesen durch Schreiben“
gelesen. Er hielt aber sein Wissen „neutral“ unter Verschluss.
Aber warum wird ein solches Thema nicht nur von sternTV, sondern auch von anderen Medien wie der „Zeit“ oder dem „Spiegel“ aufgebauscht? Sind
es Schulbuchverkaufsinteressen von Verlagen?[3]
Ist es gesellschaftliche Absicht Schule nicht verändern zu wollen? Ist es die „Kunst“ mit der „Meinung des Volkes“ zu spielen? Ist es „nur“ die Einschaltquote und ein Thema, das sich gut
verkaufen lässt, um auf einer leicht zu entfachenden Welle zu reiten?
Etwa so: Rechtschreiben ist ein bekanntes Problem und geht alle an, weil alle in der Schule waren. Wenige können ganz gut rechtschreiben, andere mehr schlecht als recht und viele einfach
schlecht. Kann jemand außer dem Duden alles richtig schreiben?
Die meisten Menschen werden bei diesem Thema vorsichtig, weil sie schon in der Schule Opfer der Rechtschreibung als schulisches Selektionsmittel
waren. Im sternTV-Studio–Diktat am gleichen Abend schrieben einen kurzen Text bei dem besten Ergebniss einer mit zwei, einer mit vier Fehlern. Die Fehlerquoten aller anderen stiegen bis über
20.
Wir haben leider durch unsere Erziehung gelernt zu fragen, wer das schuld ist, was uns nicht gefällt! Im privaten Gespräch sehen die meisten Menschen den Fehler bei sich und sie suchen eine auf
sich bezogene Begründung durch eigene Fehler. Auch das ist Erziehung. Wenn aber das Problem, wie in diesem Fall, öffentlich gemacht wird, muss ein „Sündenbock“ her! Es muss doch einer schuld
sein! Und dann die Lösung: Ja es ist eine „Methode“, es sind deren Vertreter, wieder mal Lehrer,… es sind die, die „nach Gehör schreiben lassen“!! Und
schon werden Tatsachen verdreht und wieder ist eine Minderheit gefunden. Dass die Vorwürfe offensichtlich unbegründet und nicht haltbar sind,
interessiert nicht. Es ist eine Minderheit gefun-den, sie wird verantwortlich gemacht. Das kön-nen (noch oder wieder) ganz viele Leute. Und sternTV schwimmt auf dieser Welle.
Sollte die sternTV-Redaktion, die brüsk andere Sichtweisen nicht teilen will, nicht mitbekommen, welche Geister sie ruft. In der Begegnung mit den Menschen des sternTV-Teams sind mir höfliche, engagierte und intelligente Menschen begegnet. Das Team, das an unserer Schule war, gab vor unsere Schule und unsere Arbeit zu mögen. Auch wenn – individuell glaubhaft vorgetragen – niemals die Fütterung von Vorurteilen die Intention war, so haben wir entsprechende Shitstorm-Mails bekommen. Hat das nicht mit Inhalten und Formen der Berichterstattung dieser Medien zu tun?
Diese wenn auch wenigen Mails, sind geprägt von Aussagen, die in die Kategorien Schuldzuweisung, Verunglimpfung und/oder vordemokratische Denkweisen passen. Hier wird „das gebrochene Deutsch der Migranten“ zitiert, Menschen werden für „schwachsinnig“ erklärt und es wird vom „Angriff auf unsere Kultur“ gesprochen. [4] Kennen wir das nicht?
Einer der Väter unserer Schule ist Sinto. Er sagte, nachdem er die Sendung gesehen hatte, ihm würde angst und bang. Er spüre eine Wiederkehr der Verfolgung von Menschen, die anderer Meinung oder Herkunft sind.
Meine Mutter pflegte zu mir zu sagen „Schalte den Verstand ein, bevor du sprichst!“ Religionslehrer drückten es anders aus: „Befrage dein Gewissen, bevor du handelst!“. Heute würde ich den Damen und Herren der sternTV-Redaktion eher fragen: „Benutzten Sie Ihr demokratisches Verantwortungsbewusstsein?“
Es wäre sicherlich eine gewaltige Selbstüberschätzung zu glauben, die Praxis dieser Medien verändern zu können. Wir können nur an uns selbst arbeiten, um unsere Einstellung, unsere Arbeit und unsere Erfolge rüber zu bringen. Auch wenn es sehr schwer ist, in diesen Medien in ihren Sendungen mit Menschen darüber zu reden, wie wir die Lage der Kinder und Jugendlichen in unseren Schulen verbessern können, sollten wir keine Gelegenheit auslassen aufzuzeigen, wo und wie dies schon gelingt.
Fangen wir einmal damit an, dass Emely, in der Sendung sichtbar, das Wort „Uhr“ als „Uar“ hört und schreibt! Emely, im ersten Schuljahr, hat das Recht, das so zu hören! Sie hört es mit „a“ und schreibt es so. Unsere Sache als Lehrerinnen und Lehrer ist es, mit dem Kind daran zu arbeiten, dass „Uhr“ mit „h“ geschrieben wird, es ein Dehnungs-h gibt und wir vieles anders schreiben als wir es aussprechen. Wo ist das Problem?? Das ist unsere Arbeit als Lehrerinnen und Lehrer, das ist die Arbeit die Abertausende von Grundschullehrerinnen und -lehrer leisten!!
Lesen durch Schreiben
„Lesen durch Schreiben“ ist, was es aussagt: Keine Rechtschreibmethode,
sondern ein Weg des individualisierten Lernens, bei dem das Kind sich selbst beibringt, die selbst gesprochene Sprache so lange zu chiffrieren und dechiffrieren, solange zu entschlüsseln und
verschlüsseln, bis es Lesen kann.
Wenn man oder frau nicht seit Jahren erleben würde, dass dies funktioniert, wäre es wirklich schwer zu glauben, dass dieser Weg bei den meisten Kindern funktioniert, wenn es den Lehrkräften
gelingt, den Kindern den Weg freizumachen, sich selbst das Lesen schreibend beizubringen.
Wichtige Dinge beim „Lesen durch Schreiben – Freies Schreiben“
Die Kinder wissen in der Regel in der Phase vor dem Lesenkönnen nicht, was sie schreiben. Sie können es noch nicht lesen! Sie codieren aber ihre Sprache solange, bis
sie alles was lesbar ist, lesen können. Dies können sie dann von heute auf morgen. Es ist, als wenn
jemand das Licht in den Büchern anknipst. So formen sich Menschen selbst zu höchst interessierten und geübten Leserinnen und Lesern. Sie brauchen
keinen Leseunterricht, sondern wollen lesen, weil aufgeschriebenes Wissen und verfasste Literatur sie
begeistert. Hier können wir Erwachsenen den Kindern helfen, zur eigenen, passenden Literatur zu finden. Auch hier sind alle Kinder wieder verschieden in Anspruch, Inhalt, Form und
Ästhetik.
Auch wenn das erste Schreiben auf dem Weg zum Lesen noch kein Schreiben im Sinne korrekter Orthographie, Schrift, Semantik, Grammatik und sprachlichem Ausdruck ist, erarbeiten die Kinder sich schon in dieser Phase ihre ersten Kompetenzen des Schreibens.
Sie haben bereits im Alter bis zum zweiten Lebensjahr die neuralen Bahnen zum Erlernen von Sprache(n) gelernt. Sie haben (in der Regel) schon mindestens eine Sprache gelernt. Jetzt kennen sie die Buchstaben. Sie haben sich bereits Schreibbewegungen beigebracht. Sie durchlaufen ihrem Alter entsprechend die Schreibphasen wie Brinkmann und Brügelmann sie beschreiben. Sie erobern sich mit dem Leselernen die Fähigkeit eigene Wörter aufzuschreiben. Wenn Schule ihnen die Gelegenheit gibt, werden sie, nachdem sie das Lesen beherrschen, nun konsequent den Weg zum eigenen Text weitergehen. Sie sitzen in ihren Klassen in ihren „Dichterlesungen“ und tragen erst „Ein-Wort-Sätze“ vor, um immer mehr zum eigenen freien Ausdruck in eigenen Texten zu finden. Unsere Aufgabe ist die Förderung von Schreibanlässen durch die Ideen der Kinder, durch Werke von Schriftstellerinnen und Schriftsteller und das Herantragen weiterer Schreibtechniken.
Sie erobern sich schreibend die Sprache, die sie bereits sprechen und unsere Aufgabe ist es, Werbung für die Freude an Rechtschreibung und Schrift genauso zu schüren, wie am täglichen schriftlichen Aufschreiben, Notieren und Ausdrücken dessen, was sie beeindruckt. Sie schreiben nicht einfach „nach Gehör“[5], sondern ihr Gehirn schulend, mit allen Sinnen, sehend und hörend und denkend.
Das Kind lernte bereits mit der Phase des Lesenlernens durch eigenes Schreiben sich selbst bewusst zu steuern, sich zu organisieren und zu strukturieren, selbst zu lernen. Es hat sich selbst als selbstständigen Lerner erfahren. Diese Kinder sind zudem in der Lage diesen Prozess zu verstehen und selbst zu erklären. Sie entwickelten ein Selbst-Wert-Gefühl. Hier greift ein Kern dessen, was uns die Freinetpädagogik vermittelt. Demokratie in der Schule ist nicht nur das Lernen des Begriffs Demokratie, das eigene Praktizieren einer demokratischen Kooperation und die Entwicklung einer demokratischen Grundhaltung, sondern auch das Finden von Arbeitstechniken, die das eigen gestaltete und selbstbestimmte Lernen ermöglichen. Da sind junge Menschen, die sich nicht mehr alles antrainieren lassen wollen, sondern ihr Leben und Lernen selbst in die Hand nehmen.
Die Strategien hin zu einer eigenen Rechtschreibung sind sehr verschieden. Das eine Kind begreift es irgendwann intellektuell: „Ach so, die Wörter werden nicht geschrieben, wie sie gesprochen werden, sondern wie man sie abliest.“ Das nächste Kind lernt Regeln, beginnend mit dem „er“ bei einem gehörten „a“ am Schluss des Wortes, bei der Groß-Klein-Schreibung, etc., etc. Das nächste Kind will viel abschreiben. Das nächste liest viel, wodurch es das Rechtschreiben memoriert, ein anderes liest unendlich viel, ohne dass sich dadurch seine Rechtschreibung verbessert. Das nächste Kind braucht eine Fehleranalyse, um Stück für Stück eine handlungsorientierte Aufmerksamkeit (Interiorisation) zur eigenen Korrektur von eigenen Texten zu entwickeln. Das nächste Kind braucht die Schreibprobleme fokussierenden Arbeitsblätter von Stumpenhorst, wieder das nächste will einzelne Wörter in der Reihenfolge seiner Schreibentwicklung üben. Das nächste will Fehler angestrichen haben, um sie selbst zu korrigieren. Es gibt auch Kinder, die ihren Text vollkommen korrigiert wieder abschreiben wollen oder solche, die darum bitten, ihre Texte unverändert, unverbessert zu lassen. Da muss ich als Erwachsener mit(!) dem Kind herausfinden, ob diese Wege zum Erfolg führen, ob das Korrigieren später einsetzt, oder ob es einfach nicht nötig ist, da das Kind bereits das eigene Rechtschreiben erfolgreich lernt oder die Mutter zuhause mit ihm übt.
Die Praxis des „Lesen durch Schreibens“, des „freien Schreibens“ und des ständigen Präsentierens des Erarbeiteten und Gelernten in der kooperierenden Lerngruppe macht alle Entwicklungen viel deutlicher als gleichschrittiger Unterricht es je könnte. Fehler müssen nicht für Tests und Noten ausgemerzt oder unsichtbar gemacht werden, sondern sie werden sichtbar. Das ist der Effekt des „Lob des Fehlers“. „Fehler“ sind hier Lernmotoren, um den weiteren Weg der Lernentwicklung gehen zu können. Kinder müssen keine Angst vor Fehlerahndung, keine Angst vor vorgegebenen Regeln entwickeln. Regeln und Strukturen sind dazu da, der eigenen Entwicklung zu nutzen. Wenn sie behindern, sind sie abzuschaffen oder zu verändern, auch die selbst gemachten Regeln!
„Lesen
durch Schreiben“ als auch die folgende Weiterentwicklung der gesprochenen und geschriebenen Sprache müssen(!) mit den Eltern generell und individuell erklärt und abgesprochen sein. Einer der oft
falschen Lehrer-Sätze ist: „Lassen Sie mal, das kommt schon“. Wenn wir dies sagen, müssen wir sagen können, was als Nächstes kommt und was das Kind, die Lehrer und die Eltern jetzt tun
werden.
Wenn in sternTV ein Vater aus Brandenburg im 4.Schuljahr merkt, dass sein Kind „Lieber Vater“ mit mehreren Fehlern schreibt, sind mehrere Fragen zu stellen: „Hat ihr Kind ein echtes
Rechtschreibproblem?“ „Wurde etwas zu spät entdeckt?“ „Wieso merken Sie das als Vater jetzt erst?“ „Hat die Lehrerin recht, dass das Kind es schon lernen wird?“ „Hat die Lehrerin es schon lange
gesagt, aber es wurde nicht (zu)gehört?“ „Wird zuhause Rechtschreiben ‚gegen‘ die Schule geübt?“ „Oder…?“
Wir können und müssen als Lehrerinnen und Lehrer mit den Eltern und (!) den Kindern verabreden, wie an der Rechtschreibung gearbeitet wird. Und dabei
sind wir die kompetenten professionellen Berater der Lernentwicklung von Kindern, die dies Eltern erklären können.
„Lesen durch Schreiben“, Rechtschreibmethoden“, grammatikalische Übungen, etc. dürfen Kindern nicht als Methoden übergestülpt werden. Es sind Hilfsmittel der Individualisierung des Lernens der Kinder. Wir bieten sie ihnen als Werkzeuge an, wenn sie sie zum besseren Lernen brauchen können.
Entscheidend ist, dass Jürgen Reichen mit anderen
Schweizer Kolleginnen und Kollegen vor mehreren Jahrzehnten herausgefunden hat, dass die Mehrzahl der Kinder das eigene Lesen durch eigenes
„Schreiben“ (besser Entschlüsseln und Verschlüsseln von Sprache und Schrift) sich selbst erobern können. Wenn es heute Menschen und Kräfte gibt, die diese einfache, aber geniale Erkenntnis wieder
abschaffen wollen, sei ihnen zweierlei gesagt:
Es ließ sich auch nicht die größere Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne dreht, verbieten. Und/oder: Haben Sie etwas Besseres anzubieten?
[1] Homepage von sternTV vom 12.11. 2013. Wie in den Mails blieb die Rechtschreibung wie in den Originalen.
[2] Zitat der Mutter des gezeigten Kindes in einem Brief an sternTV
[3] Gehört nicht auch sternTV zu einem großen Verlag?
[4] „…mit Schrecken mußte ich die Sendung mit Herrn Halaschka sehen, wie Sie mit den Schülern der Grundschule umgehen. Schreiben nach hören. Noch schwachsinniger geht
es wohl nicht. Erst die
scheiss Mengenlehre und nun das. Glauben Sie mir, wenn meine Kinder solch einen Unterricht hätten
ertragen müssten, ich wäre bis vor das Oberverwaltungsgericht gegangen, um dagegen zu klagen….“
„… solch peinlichen Auftritt gesehen wie den Ihres Grundschul-Rektors bei
STERN TV.
Als Redakteur und Ausbilder für Mediengestalter muss ich die Versäumnisse solcher Lehrer ausbügeln.
Lehrer wie er machen es sich einfach und dadurch ihren Schülern sowie den späteren Ausbildern um so schwerer. Wenn wir solche Deutsch-Lehrer haben, können wir die deutsche Sprache gleich
zu Grabe tragen.
Es leben das Kauderwelsch aus Denglisch, Jugendsprache und gebrochenem Deutsch der Migranten!
Meine Meinung: Der Mann gehört als Schulleiter sofort abberufen…“
„… Wie kann man Kindern, immerhin unsere Zukunft, so etwas antun. Ich würde mein Kind sofort in einer anderen Schule anmelden. Nun wundert mich nichts mehr, wenn ich die schriftlichen "Ergüsse" vieler junger Erwachsener über mich ergehen lassen muss. Ich hoffe, dass es noch vernünftige Pädagogen und Politiker gibt, die diesem Treiben bald einhalt gebieten. Ich empfinde diese "Methode" als einen Angriff auf unsere Kultur, die auch auf anderen Gebieten auf dem Weg nach unten ist!“
[5] Und vielleicht gibt es ja wirklich das Dilemma, dass in
Deutschland stärker nach Gehör geschrieben wird und das Geschriebene von Vielen nicht als das Primäre angesehen wird. In der Schweiz kann ich immer wieder bewundern, wie Kinder dort,
Dialekt sprechend, so gut die Rechtschreibung der deutschen Schriftsprache beherrschen. Ist es für sie leichter das Gesprochene/Gehörte vom Geschriebenen/Gesehenen
auseinanderzuhalten?
Oder etwa in Österreich. Wird hier Dialekt gesprochen und ins „Hochdeutsche“ gewechselt, sagen sie, sie „reden nach der Schrift“. Kommt es so auch, dass ein Deutscher , der im Englischen
kein „th“ lernte, das „the“ als „se“ spricht, weil er es so hört, und die Österreicher gerne
„te“ sagen, weil sie ein „t“ geschrieben sehen?
Walter Hövel und Uschi Resch
Was sind heute freie Texte?
Definition
Die aktuellste Definition geben für uns Lothar Klein und Herbert Vogt*:
„Freie Texte (text libre) / Freier Ausdruck
Freie Texte werden regelmäßig geschrieben. Aber sie werden geschrieben, wann und wo das Kind es wünscht. In vielen Klassen besitzen die Kinder dafür ein gesondertes Heft. Weder für den Inhalt noch für die Form gibt es irgendeine Vorgabe oder Einschränkung. Die Lehrer geben keinerlei wertende Kommentare ab. Die Kinder schreiben und zeichnen wirklich das, was sie wollen. Auch die Auswahl des Materials, auf dem der freie Text verfasst wird, erfolgt alleine durch das Kind. Freie Texte sind, wenn das Kind es zulässt, Anlass für einen Dialog. Wer einen freien Text verfasst hat, kann ihn der Klasse vorstellen. Es kommt zum Gespräch und vielleicht entscheidet sich die Klasse dafür, den Text zu drucken. In diesem Fall wird der Text mit Hilfe der anderen Kinder und des Lehrers auf grammatikalische und orthographische Fehler hin untersucht. Die letzte Entscheidung bleibt aber dennoch bei dem Kind, das den Text geschrieben hat. ...
Freie Texte sind außerordentlich aufschlussreich. In ihnen spiegeln sich die ganze Erfahrungswelt des jeweiligen Kindes, seine Gefühle, Erlebnisse und Gedanken. Sie helfen auf diese Weise den Erwachsenen, das Kind zu verstehen. Es kann sich über die Texte ausdrücken. Inzwischen weiß man, dass freie Texte auch therapeutische Wirkung haben können.“*²
Wie ist der Freie Text entstanden?
Vergleichen wir diese Definition mit dem, was Freinet selbst im Jahre 1920 oder 1921 als freien Text einführte, so treffen wir damals auf ein (scheinbar) vollkommen anderes Selbstverständnis. Elise Freinet*³ schildert den Vorgang der Entstehung des freien Texts so:
Freinets erste Veränderung des herkömmlichen Unterrichts besteht darin, dass er mit den Kindern den Klassenraum verlässt, um im Freien, außerhalb der Schule zu lernen. Dies nennt Freinet die „Spaziergangsklasse“*4. Hierbei ging es ihm um Entwicklung von „Aufmerksamkeit“*5, um „ein ständiges Suchen mit den Augen, den Ohren, mit allen für den Zauber der Welt offenen Sinnen*6“, um „Entdeckungsreisen“, „den Beginn des Erfassens der Welt*7“, um eigene „ausgetauschte und gemeinsame Erfahrungen.“ „So wurde“ fährt Elise Freinet fort, „die kindliche Seele befreit“.
„Um dieses wohltuende Eindringen in die freie Natur zu verlängern, schrieb der Lehrer nach der Rückkehr in die Klasse die wichtigsten Punkte der Entdeckungen, die zufällig unterwegs gemacht worden waren, an die Tafel“*8
Es waren keine Schülertexte, die nun von den Kindern von der Tafel abgelesen und abgeschrieben wurden! Es waren Formulierungen des Lehrers Freinet, zusammengesetzt aus seinen Beobachtungen der Natur und der Welt und den Gesprächen, die er mit den Kindern führte. Es waren keine freien Texte, wie wir sie heute definieren! Der freie Text entstand nicht als freier schriftlicher Ausdruck der Kinder, sondern: „so entstand ganz natürlich und durch die Anregung, die das Leben selbst gab, der freie Text.„*9
Der freie Text ist „eine Technik des Lebens“*10.. Das revolutionäre am freien Text ist im Jahre 1920/21 nicht unser heutiges Freiheitsverständnis, sondern dass die Freiheit der Natur, der Welt, des Lebens in die Schule geholt wird. Die Kinder werden befreit von der Muffigkeit der Schulklasse, von der Dummheit, Langeweile und Manipulation der Schulbücher, von einem Lernverständnis, das den Kindern Wissen eintrichtern zu können glaubt. Das Revolutionäre des Herrn Freinet ist, dass er wirklich die Schule verlässt, dass er wirklich am und im Leben mit den Kindern lernen geht. Die Verschriftlichung der selbsterfahrenen Inhalte des Lebens macht den freien Text zu einem „Freien Text„. Die Form des Arbeitens ist zunächst sekundär. Die Entdeckung des Schöpferischen und der Freiheit in der Ausdruckskraft des Kindes, wird erst nach diesem ersten Schritt der Befreiung folgen.
Denn was geschieht in der Folge des Abschreibens der ursprünglichen freien Texte in Freinets Klasse? Die Kinder beginnen ihren „Textschreiber“ zu imitieren, sie beginnen eigene Texte über ihren Alltag, ihre Familie und ihr Dorf zu schreiben. Doch was macht Freinet? Hierzu wieder Elise Freinet: „Soweit und so gut sich der junge Lehrer seinerseits von dieser Entstehung des schöpferischen Ausdrucks gewinnen ließ, und um zwischen den kindlichen Persönlichkeiten und der Persönlichkeit des Erziehers Brücken zu schlagen, schrieb er über die Texte der Kinder Gedichte von großer menschlicher Resonanz. Die Kinder nahmen diese schlichten und einfühlsamen Schöpfungen mit großer Freude auf....“.*11 Greift Freinet zu dieser Zeit die Texte der Kinder noch mit der Skepsis eines Lehrers auf und schreibt sie um? Ist Freinet zu dieser Zeit noch nicht auf dem Stand seiner Erkenntnisse, wie 40 Jahre später, als er vielleicht seinen eigenen Lernprozess in der Retroperspektive beschreibt: „Meine Entdeckung war es - aber sie ist doch so natürlich und dermaßen vernünftig - mich in diesem Stadium davon zu überzeugen, dass das Kind - egal, was man darüber sagt - fähig ist, wertvolle Texte zu erstellen, würdig, unsere Lernschule zu beeinflussen.“*12 Oder hat er den eigenen Lernprozess „instinktiv“ richtig begleitet, indem er seine Fähigkeiten als Schreiber den Kindern - nicht aufdrängte, sondern - als kompetenter Erwachsenenpartner im Lerndialog anbot?
Freinet war, so könnte aus der Literatur geschlossen werden, ein Entdecker der „Fähigkeiten„ der Kinder. Durch das „Hereinholen des Lebens*13 in die Tristesse der Paukschule, dadurch, dass er den Kindern die Kraft der Sprache als Ausdrucksmittel der Wirklichkeit für alle erfahrbar anbot, entwickelte sich die vorhandene Fähigkeit des gekonnten Benutzen der lebendigen Sprache.
Vielleicht hat er dann allerdings – auf der ständigen Suche nach der Sinnhaftigkeit*14 einer modernen Schule und des Lernens der Kinder – den Sinn des Schreibens weniger (als z.B. Paul le Bohec) im Zusammenhang von Konstruktion und Selbstkonstruktion von Welt, Mensch und Sprache gesucht, als vielmehr in der Druckerei. Diese rückte er sehr bald immer mehr ins Zentrum seiner schulischen und propagandistischen Aktivitäten, denn in der gesamten Literatur erscheint der freie Text als mit der Druckerei gesetzter Text. Diese Tradition wird in Deutschland heute vor allem noch von wenigen Schuldruckern gepflegt.
In anderen Teilen der internationalen Freinetbewegung setzte sich der Trend weg von der Druckerei fort, in Frankreich stärker hin zum Nutzen der elektronischen Kommunikationstechniken, in Deutschland (mit der Gründung der Pädagogik-Kooperative in den 70er Jahren) hin zum freien individuellen Freien Text als Mittel des persönlichen Ausdrückens, egal ob gedruckt, gemailt, elektronisch oder mit der Hand geschrieben.
Diese Form transportiert natürlich weiterhin den Grundgedanken Freinets. Da Menschen im Freien Ausdruck das ausdrücken, was sie in der Welt beeindruckt (Paul le Bohec), bleibt der Freie Text ein „Text des Lebens„, allerdings meist aus der Sicht des Einzelnen, oder um es zeitkritischer zu formulieren, aus der Ein-Sicht des Vereinzelten. Dieser Geist bleibt vor allen Dingen so lange erhalten, wie FreinetpädagogInnen ihre Erfahrungen mit den Kindern, den freien Texten und dem eigenen Schreiben in Dichterlesungen, in Vorstellungskreisen, in der Kooperation der Klasse austauschen, solange jene Zusammenhänge bestehen bleiben, die eine Technik nicht von der pädagogischen und gesellschaftlichen Einstellung trennen.
Anders wird es, wenn Theoretiker, die nie ein Freinettreffen besuchten, nie selbst Freie Texte schrieben oder Kinder beim Schreiben begleiten konnten, die Techniken des „Freien Texts„ für sich als Motivationsmittel in einer mehr und mehr sinn-losen Schule entdecken. Wenn sie „Schreibkonferenzen„, „Elfchen„ und gar „Klassenräte„ propagieren, ohne zu wissen, was und wer dahintersteckt. So besteht die Gefahr, dass Dinge in die Bildung der LehrerInnen eingebracht werden, die ihren Sinn und ihren Wert als in-halts-leere Formen verlieren.
Unseres Erachtens kommt Freinetpädagogen die Aufgabe zu, nicht nur Formen und Ideen des Freien Schreibens zu zeigen und weiter zu geben, sondern den Zusammenhang zu einer demokratischen Auffassung von Lernen und Erziehung herzustellen.
Daher bitten wir darum, der Definition von Freien Texten voran zu stellen: „Die Technik des Freien Texts ist eine Technik des Lebens„ oder „Freie Texte sind Texte des freien Lebens„ oder.....
Der individuelle freie Text
Kinder kreieren ihre eigenen Texte. Sie lernen selbst ihre vorhandenen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, Gefühle, Intuitionen und Denkfähigkeiten in schriftliche Sprache zu transferieren. Beim Vorlesen in der „Freien-Texte-Stunde“ oder „Dichterlesung“ findet die Steuerung durch die Umgebung statt. Hier findet die eigene „Schreibleistung“ ihre kritische Würdigung, das Hören der Texte der anderen gibt vielfältige Beispiele für andere Schreibstrategien, regt an, erweitert die Erfahrungen der Schreibkunst entlang der Entwicklung der gesamten Schreibgruppe. Dies ist kein Prozess der Belehrung oder der Fremdbestimmung, sondern ein selbstgesteuerter Prozess einer natürlichen Methode des Lernens. Ohne misstrauende Vorgaben von außen können die Kinder ihr Selbstvertrauen in ihren eigenen schriftsprachlichen Ausdruck gewinnen. “ Sie lernen eine Sprache zu beherrschen, die sie beherrschen soll.“ (Paul le Bohec)
„Für die Dichterlesung“, so in der Juni-2011-Chronik (http://www.grundschule-harmonie.de/) der Grundschule Harmonie, „schrieb Pauline eine Geschichte über die Begegnung einer Pommes mit ihren Freunden Ketchup und Mayo, Tomek dachte sich ABC-Wörter aus und verfasste damit einen lustigen Text, indem er die Wörter in alphabetischer Folge einbaute, Zackery erfand eine Fantasy-Geschichte in der permanent unglaubliche Dinge passierten, sodass einem beim Zuhören glatt schwindelig wurde und Jaron verfasste mit Mirko eine Dialoggeschichte.“
Die Freinetpädagogik heute organisiert die Anregung von außen, etwa durch literarische Werke*15, Schreiberfahrungen anderer Kinder*16 oder ausgesuchten Schreibtechniken*17, als Angebote. Angebote sollen animieren, sie schreiben nicht vor, wie zu schreiben ist. Solche Angebote können von den Kindern sofort verändert werden, oder gar abgelehnt werden. Sie werden vom Vorgang „des“ Freie-Texte-Schreibens abgetrennt. Techniken des Freien Schreibens werden in Stunden angeboten, die der Klassenrat beschlossen hat, die in den Tagesplan aufgenommen wurden, oder in Ateliers, wo die Teilnahme freiwillig bleibt. Diese können in eigenen Dichterlesungen vorgelesen oder veröffentlicht werden. Die Erfahrung zeigt, dass es Kinder gibt, die so erlernte Techniken in ihr eigenes Repertoire des freien sprachlichen Ausdrucks übernehmen.
Freier Text als gemeinsames Ausdrucksmittel
Es gibt Themen, die eine Klasse gemeinsam behandeln will. Zum Beispiel: „Was ist ein Kind?“, „Über das Küssen“, „Was uns an Erwachsenen auffällt“, oder „Was können Jungen von Mädchen lernen - was können Mädchen von Jungen lernen?“ Dies sind keine vom Lehrer, oder einem Lehrplan oder einem Wettbewerb einer Sparkasse vorgegebene Themen, sondern eigene Themen, wo es gelungen ist, individuelle mit einer kollektiven Fragestellung innerhalb einer kooperierenden (!) Klasse in Einklang zu bringen. Die Bearbeitung der Frage findet nun mit Mitteln des freien schriftlichen Ausdrucks statt. Die Kinder schreiben ihre freien Texte. Als Dokumentation bietet sich hier u.a. die gute alte Form der Zeitung an.
Kollektive Texte
In den 70iger Jahren taucht in der Freinetpädagogik der Begriff des „kollektiven Texts“ auf.*18 Hier wird das Beispiel der „Rundumgeschichte“ geschildert, wo alle einen Teil zu einer gemeinsamen Geschichte beitragen. Heute gibt es eine Vielzahl solcher Techniken*19 die vielfältig weiterentwickelt und neu erfunden wurden. Das Ergebnis solcher Techniken sind entweder Freie Texte, die kollektiv entstanden sind, oder eigene Texte, die nur durch die Kooperation einer Gruppe entstehen konnten.
Freier Text als individuelle Technik der Erarbeitung
Das Freie Schreiben ist zudem immer mehr ein Mittel geworden, um in der Bearbeitung eines Themas Gedanken, individuelle Ansichten, Erkenntnisse oder Lernergebnisse kreativ darzustellen. Ein Mensch, der in der Bearbeitung eines Inhalts zum Mittel des sprachlichen freien Ausdrucks greift, schreibt zweifelsfrei einen freien Text, solange er selbst entscheidet, sich, in dieser Form ausdrücken wollen.
Freier Text als Technik der kooperativen Erarbeitung
In der Begegnung mit systemischen Denkern*20 entstanden Formen des Schreibens, die das individuelle und kooperative Schreiben zur Erarbeitung und Vertiefung eines Inhalts so integrieren, dass das Ergebnis eines Schreibvorgangs nicht mehr der Summe seiner Einzelteile entspricht. Vielmehr entstehen Prozesse, die durch das Verfassen von Texten Lernsituationen entstehen lassen, die mit Kriterien zu beschreiben sind, die als Metaphern aus der Beschreibung von Eigenschaften und Vorgängen lebender Systeme gewonnen wurden. In der „Rasterlyrik“*21 zum Beispiel, entstehen durch ein kooperatives „Bearbeiten“ individueller Texte wieder individuelle Texte, die Erkenntnisse der bearbeitenden Gruppe in lyrischer Form hervorbringen.
Tagebücher, Texte für sich alleine, Verarbeitungstexte, die niemandem gezeigt werden, können auch von LehrerInnen gewürdigt werden. Dies ist eine Frage des Vertrauens zwischen den Menschen in einer Klassenkooperative.
Freie-Text-Formen vor dem Schreiben gemeinsam erfinden
Als wir mit den Kindern unserer dritten und vierten Klassen „Ich-Texte“ schrieben (vergleiche Fragen und Versuche 88) begannen wir und die Kinder vor dem Schreiben die Formen zu variieren und neu zu erfinden.
Auch heute funktioniert der „klassische“ freie Text. Wer regelmäßig außerhalb der Schule lernt, findet alle Möglichkeiten des Schreibens, um Erfahrenes, Gelerntes, Erkanntes oder Wiedererkanntes selbst oder in der Gruppe für sich selbst oder andere festzuhalten*22. Das schafft Schulbücher ab*23!
*1 Lothar Klein, Herbert Voigt, Freinet-Pädagogik in Kindertageseinrichtungen, Freiburg, Basel, Wien 1998.
Die Autoren sind, wie sie in ihrem Vorwort schreiben, „selbst auf Freinet gestoßen“. Sie haben unabhängig von der Freinetbewegung „ihren“ Freinet in ihrer eigenen Praxis gefunden. Ihre Begründungen beziehen sie aus der „gängigen“ Literatur. Im Gegensatz zu manchen universitären Schreibern stützen sie sich hierbei nicht alleine auf historische Texte der Freinetpädagogik, sondern sind genaue Kenner, Leser und Verarbeiter der Literatur, die die jeweils aktuelle Praxis der Freinetpädagogik im deutschsprachigen Bereich beschreibt und reflektiert. Daher halten wir ihre Definition des freien Textes für recht repräsentativ.
*2 ebenda, S.29f
*3 Elise Freinet, Erziehung ohne Zwang, Stuttgart 1981, S. 20ff
*4 vergleiche hierzu: Herbert Hagstedt, „Freinetpädagogik und Erziehungswissenschaften - ein gestörtes Verhältnis?“, In: Hering/Hövel, Immer noch der Zeit voraus, Bremen 1996, S. 216f. Hier behauptet Hagstedt, Freinet habe die Vokabel bei Berthold Otto (1901) „geborgt“.
*5 Ein Begriff, der in der sowjetischen Lerntheorie (Wygotsky, Leontjew, Galperin) der 60iger und 70er Jahre eine große Rolle spielte.
*6 Das "Lernen mit allen Sinnen" erscheint durch die Überbetonung der Form der Stationsarbeit und esoterische Zeitgeistinterferenzen wie eine Modeerscheinung der 90er Jahre, war aber immer Standard, etwa bei Comenius, Kükelhaus oder eben Freinet
*7 vgl: W.G. Mayer, Der Sachunterricht, Heinsberg 1993.
*8 Elise Freinet, Erziehung ohne Zwang, S.21
*9 ebenda, S.21
*10 So nennt die französische Freinetbewegung (I.C.E.M.) 1979 in ihrer Schrift „Ein erster Blick auf die Freinetpädagogik“ zu allererst den Freien Text, zitiert nach Dietlinde Baillet, FREINET - praktisch, Weinheim und Basel, 1983, S.17f.
*11 Elise Freinet, Erziehung ohne Zwang, S.24
*12 C. Freinet, Praxis der Freinet-Pädagogik, In: Hans Jörg, Praxis der Freinetpädagogik, S.24
*13 vergleiche zum Begriff „Leben“ bei : Roland Laun, Freinet - 50 Jahre danach, S.38f.
*14 vergleiche Viktor Frankl; und Peter Teigeler, In: Hellmich/Teigeler, Montessori-, Freinet-, Waldorfpädagogik, Weinheim und Basel 1994
*15 z.B. Texte von Jandl und Goethe oder Schwitters und Lennon, z.B. in: "Warum nicht Literatur" (Verlag an der Ruhr); Vergleiche auch: Wolfgang Mützelfeld’s Aufsatz in Fragen und Versuche 88, Bremen 1999
*16 übliche Klassenkorrespondenz, Internetseiten für Kids-Texte (Besuchen Sie z.B. einmal: "http.//www.webonaut.com/ortnergasse" von Christian Schreger/Wien oder "Kinderlyrik mit dem Poststempel" und "Die Neue Tapete" (Martin Merz, Kremsmünster) - oder die "Pänzböcher" der 80er Jahre (Klaus Hoff, Köln) oder z.B. Ina Hesse und Heide Wellershoff, "Es ist ein Vogel. Er kann fliegen im Text", Bremen 1996
*17 Karteien wie Schreiblandschaften (aktuell zu finden unter „Artikel“ in http://www.grundschule-harmonie.de/), Vorhang auf Gedichte, Warum nicht freie Texte, Mal und erzähl, alle bei Verlag an der Ruhr) Schreib los (Kaleidoskop), Die Musenkussmischmaschine (nds-Verlag). Den umfassendsten Anschub für die Entwicklung des Freien Schreibens in diese Richtung gab Sepp Kasper Mitte der 80er Jahre mit der Herausgabe von: Kasper, Josef (Hrsg.): Freies Schreiben - Sich frei Schreiben, Verlag Kaleidoskop o.J.
*18 C. Charbonnier, u.a., Anregungen zum freien Ausdruck, In: Christine Koitka, Freinet Pädagogik, Frankfurt am Main 1977, S.33
*19 Siehe Schreiblandschaften: „Sprachteppich“, “Transparente Texte“, „Innenleben“, „Kettengeschichte als Bilderbuch“, „Kettengeschichte als Vorlesetheater“, „Vom Punkt zum Gedanken“, „Die lebende Schreibmaschine“, etc.
*20 Maturana, Batison, von Foerster, (Wolfgang Mützelfeld’s Schulprogramm ist lesenswert: "Lernen heißt lebendig sein, Konzept der Freien Schule PrinzHöfte
*21 “Rasterlyrik“ in Schreiblandschaften.... weitere ähnliche Techniken: „Textteilung“, „Texte einer Ausstellung“, „Fragebogen“; alle in „Schreiblandschaften“
*22Vergleiche hierzu: Walter Hövel, Ursula Resch, "Fragen zur Welt" in Hansen-Schaberg/Schonig (Hrsg), Freinetpädagogik, Hohengehren 2002
*23 C. Freinet, "Schluss mit den Schulbüchern, In: Hering/Hövel, Immer noch der Zeit voraus, S.117f.
Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung eines Textes in Hansen-Schaberg/Schonig (Hrsg), Freinetpädagogik, Hohengehren 1. Auflage 2002, 2.Auflage 2011