Walter Hövel

Wanderer zwischen Theorie und Praxis

 

Als ich in den1970iger Jahren das „Lehramt“ studierte, konnte ich nichts, aber auch gar nichts mit all den Theorien der Pädagogik wie sie mir in Seminaren und Vorlesungen begegneten, anfangen. Ich verstand sie nicht - und fand sie zudem langweilig.

Ich kapierte nur, dass reformpädagogische Ansätze und Gesamtschulgedanken besser waren als die vielen pädagogischen, fachpädagogischen, psychologischen, soziologischen und politikwissenschaftlichen Ansätze, die „man“ versuchte in mich hinein zu stopfen. Das einzige was mich interessierte, waren die psycholinguistischen und pädagogischen Ansätze der sowjetischen Psychologie. Ein Prof hatte in Moskau studiert und war jetzt bei uns in Köln. Herr Lewandowski lehrte, was er gelernt hatte.

Zu meinem Glück traf ich schnell auf Freinetpädagoginnen, auf Paul le Bohec und deren Lehrmeister Elise und Célestin Freinet. Ich las Anton Makerenko und lernte das Boaltheater, das Schreiben Freier Texte, selber zu forschen und zu fragen.

Zu meinem Glück erinnerte ich mich daran, dass ich selber ein Kind war. Ich gegegnete sehr vielen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Ich versuchte von und mit eigenen Kindern und deren Kindern zu lernen. Und weiterhin versuchte ich von anderen Menschen und mir selbst zu lernen.

Freinet, der meines Wissens nicht zitierte, lehrte mich auf bürgerlich-rechte Wissenschaften zu acheten, ihnen aber nie zu folgen. So lernte ich selbst nie zu vergessen, wo ich herkam. Ich lernte einer Theorie nicht zu folgen, selbst Freinet nicht. Ich wurde ein Anhänger der Menschenrechte und machte so meine eigene Schule. Ich lernte, wie ich später bei dem Pädagogen und Schriftsteller Leo Tolstoi las, mich auf die eigene Erfahrung zu stützen.

Erst viel später begriff ich, dass vielleicht die Schule selbst, die erst einmal für Kinder von Arbeitslosen., Ackerer, Lohnarbeiter, Soldaten und Ungebildeten erkämpft werden musste, selber zum Mittel der eigenen gebildeten Anpassung gemacht wurde. Ich bekomme mit, dass Psychologie und Theorien immer wichtiger werden. Pädagogien und Geschichtliches versucht „man“ unwichtiger werden zu lassen.

Ich erlebte wie sich die Lehrerschaft vom kaiserlich und faschistisch autoritären Personal zu grünen und demokratisch-konservativen Anhängern veränderte. Aber Lehrer*innen setzen mehr denn je unreflektiert um, was sie gelehrt bekommen. Sie sind heute sehr systemkonform.

Zunehmend theoretisierte ich alles was ich praktisch erlebte. Ich tat es furchtbar gerne, so an meiner Hauptschule, als Grundschullehrer und Schulleiter und heute immer noch als Unidozent.

Wenn sich herausstellt, dass Theoretisiertes nicht funktioniert, verwerfe ich es sofort. Ich suche andere Theorien. Ich weiß, dass dies meine konstruktivistische lebensbejahende Suche nach Sinn ist.

Ich probiere gerne neue Theorien aus, die ich höre oder lese, Wenn sie nicht stimmen, liebe ich es alleine oder mit anderen neue Theorien zu machen, - oder ohne sie zu leben.

Wichtig ist mir, dass jeder Mensch Theorien findet, mit denen sie oder er demokratisch handeln kann. Sie sollen sie erproben, verändern, ersetzen, bis sie es besser wissen und können.

Ich bin sehr skeptisch gegenüber allen Theorien, die mir angeboten oder gar oktruiert werden. Oft erkenne ich erst zu spät, dass sie falsch sind und ich nach ihnen lebte und handelte. Dann ärgere ich mich, denn zu viele übernahm ich oder machte sie selbst.

Ich kann Wissenschaftsfeindlichkeit wie z.B. bei den Nazis, nicht ab. Sie machen und fördern nur Theorien, die ihnen nutzen. Leider verhalten sich so auch Industrien, Religionen, Politik und andere Ideologien.

Ich weiß, dass meine eigene Theoriebildung von meiner Erziehung und dem Zeitgeist beeinflusst ist. Ich weiß, dass alles Wissen der Menschen konstruiert ist. Selbst wenn mein Denken relativ modern und links ist, kommt sie aus der bürgerlich-linken, aber selten aus der zeitgeistigen Ecke raus.

Es ist schade, dass ich so eingeschränkt bin, also gefangen in meiner Zeit. Ich interessiere mich für neue, entstehende Theorien, designe oder erahne aber sehr selten neue revolutionäre Ideen. Ich bin der Zeit höchstens um messbare Jahre voraus.

Ich bin gerne Ekklektizist, wie Celestine Freinet oder andere. Ich suche „meins“ sehr gerne aus den vorhandenen Theorien aus. Mich interessieren weniger die vorgegebenen Regeln der herrschenden Gesellschaft. Ich glaube daran, dass Theorien so verschieden wie ihre Nutzer sein dürfen. Alle Menschen dürfen „ihre Theorie“ aussuchen, so wie sie in „ihrer Praxis“ leben.

Dabei fühle ich mich „nur“ den Menschenrechten für alle Kinder, Frauen, Männern and anderen Lebewesen verpflichtet. Das mit den anderen Lebewesen kann ich noch nicht richtig. Ich bin gerne Demokrat. Ich mag nicht den Kaptitalismus, nicht den unserer Prägung, geschweige denn faschistischer, realsozialistischer oder maoistischen Färbung.

Uschi Resch antwortete gegenüber einem Professor der Uni Bremen, wie denn ihre Kinder in Wien Lesen und Schreiben lernten, sehr klar. Sie antwortete „Jedes Kind nach der eigenen Methode“. 25 Jahre später sagte der Wiener Lehrer Christian Schreger „Auch Filmen, das Design der Präsentation oder die Elektronik sind nur Werkzeuge der Kinder“.

Immer erlebte ich, dass der pädagogische Alltag stattfand. Mal war er bekannt, mal anstrengend, mal erfolgreich. Mal war er scheinbar sinnlos, mal einfach eine tägliche Routine. Mal überlebte ich, mal zelebrierte ich „Neuheiten“ oder zerging vor Schmerz des Nichtgelingens. Mal war ich allein, mal in der Mitte von Teams.

Mal war ich dem Denken und Fühlen der Kinder sehr nahe und glaubte sie zu verstehen. Andere Male war ich Kindern und Jugendlichen fern, verstand sie nicht - oder sie waren mir egal. Mal half mir Theorie, mal reagierte ich nur “aus dem Bauch“. Ich glaubte Wissenschaften zu verstehen, durch sie verstanden zu haben wie ich mich oder andere verhalten.

Theorien schienen zu helfen, obwohl ihre Protagonisten bei „Fortbildungen“ den Lehrer*innen erklärten, was diese bisher immer falsch machten. Viel öfter waren es die wechselnden Theorien der politischen Parteien der Vorgesetzten. Es waren die neuesten Kapitalinstruktionen der Ausbildung, oft genug versteckt die „neuen“ wissenschaftlichen Ein- und Absichten. Oft waren es Arbeitsplatz erhaltene oder schaffende Theoriephantasien in Büchern und an Universtäten. In der Regel waren sie einfach blödsinnig. Sie waren falsch, unbrauchdar, versuchten mich und Bildung mal klug mal plump an Systeme und Ideologien anzupassen.

Mal glaubte ich etwas Allgemeingültiges gefunden zu haben, verstand aber nur ein Stück des Verhaltens eines Kindes. Noch öfter versuchte ich nur mich selbst zu verstehen.

Zu mir als Theoretiker sagen Wissenschaftler gerne Nein. Ich habe nicht ihre Ausbildung. Ich bin nicht habilitabilitationsfähig, sagen sie. Oder, ich habe keinen Doktor. Ich bin schlechtestenfalls unwissenschaftlich nicht interessant, bestenfalls bin ich ein erwähnenswerter Fall aus der Praxis.

Für Handwerker, oder Menschen ohne Abitur, bin ich aber nicht aus ihrer Praxis. Ich rede zuviel „Theorie“ für sie, und habe zuwenig praktische Erfahrungen in Familie oder Handwerk. Sie zeigen immerhin einen gewissen Respekt gegenüber so vielen Berufsjahren und der Anzahl so vieler eigener und fremder Kinder.

Nach fast 70 Jahren Kindergarten, Volksschule, Gymnasium, Studium, 2.Ausbildungsphase, fast 50 Jahren Lehrerdasein an Volkshochschulen, Berufsschulen, Hauptschulen, Gesamtschulen, Grundschulen und Universitiäten bin ich für sie (auch oder dennoch) ein Theoretiker. Obwohl ich immer ziemlich nahe an der Praxis, am Leben war.

Zudem komme ich nicht aus dem Bürgertum, obwohl ich von ihnen gebildet wurde. Ich komme aus den arbeitenden und nichtarbeitenden Unterschichten (Manchmal arbeitslos, in der Ausbildung oder pernsioniert. Andere sind das nicht so oft). „Richtig“ gearbetet habe ich zwischen 16 und 26 ein paar Mal, regelmäßig, um meinen „Lebensunterhalt“ selbst zu verdienen. Mit 29/30 wurde ich dann ordentlicher Lehrer. Ich wurde verbeamtet. Mit 65 wurde ich immer noch versoldet, in den Ruhestand versetzt.

Manches Mal finde ich mich in Verteidigungspositionen gegenüber beiden wieder. Ich selbst fühle mich als „Wanderer“. Oft mache ich dieses Gefühl, oft genug kommt es auf mich zu. Oft genug habe ich - zu Ungunsten der staatlichen Schule erfahren, wie ich von Heute auf Morgen bei der Pensionierung entwertet wurde. Die Wissenschaft hingegen machte sich dann über Lehraufträge aufgrund ihrer Hilfsbedürftigkeit in praktischer Erfahrung und Lehre zum Part, der mein Wissen und Können noch anerkannte.

Richtig gearbeitet,und gleichzeitig studiert, habe ich vielleicht zehn Jahre lang, Als Lehrer arbeitete ich von 1979 bis 2014, also weitere 35 Jahre. Davon war ich fast 20 Jahre ein Schulleiter und vorher nochmals 5 in Schulleitungen.

Ich lernte, dass Wisenschaft oft Theorien der Herrschenden sind. Ich lernte, dass ich selbst Theorien weitergab. Nichts desto trotz mussten Hochschulen wissenschafte Erkenntnisse jener übernehmen, die selber Praxis auch theoretisierend veränderten. Sie hießen Freinet, Korczak, Pikler, Montessori, Malaguzzi, Juul, Fröbel, Renz-Polster, Scrobel, Boal, Precht, Freire, Lago. ...

Seit 1982 gehe ich auf Fortbildungen und bot sie selber an. Seit 1992 hatte ich durchgehend bis heute, 2021, Lehraufträge an Unis. Fast 30 Jahre lang hatte ich weiteren universitäten Kontakt zu „Wissenschaften“. Vorher wurde ich 20 Jahre selbst gebildet.

Ich wanderte nicht zwischen Theorie und Praxis, sondern immer mit ihnen. Ich werde seit meinem 1. Lebensjahr nicht nur ausgebildet, sondern schreibe seit 1982 Aufsätze online, in Fachzeitschriften und sogar in „wissenschaftlichen" Büchern.

Richtige Wissenschaftler*innen“ müssen jetzt auch „Praxis“ nachweisen, mindestens vier Jahre. Viele tun das an Gymnasien. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten „Praxis“ nachzuweisen.

Ich wurde also lebenslang ausgebildet und gebildet, war 40 Jahre Lehrer an Schulen und 50 Jahre an Schüler und Lehrer an Unis.

Und immer noch stoße ich auf das Verständnis, dass Wissenschaften etwas anderes als Praxis sind, und zwar heftig. Wissenschaften gehen mit sich selbst um. Da schlägt ein wirklich kluger Professor vor: „Auf der anderen Seite müssen wir allerdings schauen, dass Du eine erziehungswissenschaftliche Arbeit anfertigst. Am besten geht das, wenn Du die Begriffe ... nicht als Sachverhalte oder Wahrheiten behandelst, sondern als umstrittende Begriffe, auf die es verschiedene Perspektiven gibt. Ich halte es daher für unvermeidlich, dass Du dir in der Vorbereitung das Buch ... besorgst. Auch der kleine Artikel … ist hilfreich. Zum ...begriff hänge ich dir einen Artikel von ... an. Ich hoffe, diese kritischen Herangehensweisen sind nicht allzu ärgerlich für dich. Sie sind aber die beste Möglichkeit, in eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu kommen“.

Scheiße. Meine Arbeit ist schon wieder nicht „wissenschaftlich“ Wirklichkeit muss einer zweiten Wirklichkeit, „der der Wissenschaften“ gegegnen. Und das, obwohl ich doch so viele Menschen „aus der Praxis“ kenne ...

 

Manche Menschen tun mit der falschen Theorie das Richtige. Übrigens auch umgekehrt - und scheinbar ohne Theorie. Theorie bildet sich nachher. Von daher interessierte mich das Doktarat nicht wirklich.