Walter Hövel

Online sein - auf Linie sein?
„Wie wäre wohl Maître Freinet mit der schönen neuen virtuellen Welt umgegangen?“[1]

 


Im 37. Jahr des Erscheinens der „Fragen und Versuche“ wird ihr „Weiterbestehen“ und ihre „Existenz“[2] in Frage gestellt[3]. Vordergründig ist wohl die Abschaffung der Herausgabe in  Papierform gemeint, wenn auch der angegebene Plan Furcht einflößend lautet: „Die endgültige Entscheidung, ob diese Redaktion leider ‚das Licht ausmacht‘ wird auf der Mitgliederversammlung 2013 getroffen.“[4]

 

Wird da die FuV mit einem „kurzen, knackigen Fragebogen“[5] zur Abstimmung gestellt, um sie mit Mehrheiten erhalten oder abzuschaffen zu können? Geht es um Erhaltungskonservatismus gegen die (un)bekannten Gefahren der neuen Globalisierung und Medienherrschaft? Geht es um eine Grundsatzentscheidung, also so etwas wie Verantwortungsübernahme[6] für die eigene Weiterentwicklung?

 

Wird da geahnt, dass bei einer FuV ohne Papier bei den Freinets anders,  weniger oder gar nicht mehr geschrieben würde?  Wird daher die Ablehnung der Papierform der FuV gleichgesetzt mit „kein Interesse an der FuV“[7]?

 

Wird die Diskussion einer Form verwechselt mit einer Auseinandersetzung über Inhalte? Wird das Thema „Form der FuV“ aufgerufen, anstatt sich der Frage zu stellen:  Sind wir noch genügend Menschen, die  über ihre Haltung, Einstellung zu Schule, Gesellschaft und Mensch und ihre berufliche Praxis schreiben und lesen wollen und können? Und erst dann käme die Frage, welche Formen und Medien brauchen wir dafür.

 

„Ist schon gut“, könnte ich nun denken. „Das entwickelt sich eh alles. Und die Zeitungs-FuV wird noch einige Zeit eine Mehrheit zur Beibehaltung kriegen. Die jetzige Zahl der Empfänger der FuV und eine gewisse menschliche Trägheit garantieren eigentlich ein Weitererscheinen als Heft. Ich gehöre ja eh zu den Vielschreibern und habe daher gelernt nicht nur in der FuV, sondern in Büchern, anderen Zeitschriften und auf Websites zu veröffentlichen. Wenn es also eine Mehrheit dagegen gäbe, ist das halt Demokratie und ich verkrafte andere als meine Entscheidungen.“

 

Aber ich glaube nicht unbedingt an Mehrheitsentscheidungen. Schließlich wurden Hitler und Göring „mit demokratischen Mehrheiten“ gewählt, so die ägyptische Verfassung verabschiedet, das Waffenrecht in den USA wird mehrheitlich begründet. Das gegliederte selektierende Schulsystem, die Schulpflicht, die Notengebung und viele andere lernhemmende und kinderfeindliche schulische „Errungenschaften“ finden in Deutschland Mehrheiten. Schließlich führen wir auch seit einigen Jahren wieder Krieg, sind mehrheitlich für Prostitution, für die Verdummung durch staatliche und private Rundfunksender oder lassen uns die Verbreitung der jetzt schon gar nicht mehr neuen Armut, den täglichen Zeitklau und den Abbau der eigenen Altersversorgung gefallen… Und Demokratie ist für mich mehr.  

 

Ich glaube auch bei den Freinis nicht an Mehrheitsentscheidungen. Selbst, wenn alle durch Gespräche, Austausch, Erfahrungen mit demokratischer Praxis, gebildet und selbst bestimmt wissen, was sie tun, hat keine Mehrheit das Recht andere einzuschränken oder zu behindern. Und ich glaube, diese Haltung wird durch die Leserinnen und Lesern die Form der FuV erhalten.

 

Hier gibt es eben noch Menschen, die Haltungen, Erkenntnisse und Berichte lesen und aufschreiben, Meinungsaustausch als ein Sich-Nehmen-Von-Zeit und  eine Wert-volle Form für Menschen mit Inhalten leben. Einige schreiben, schreiben mit. Andere schreiben nicht oder selten, aber sie hören zu, sie können lesen. Hier gibt es Menschen, die selbst, wenn sie kaum schreiben oder lesen, eine solche Kultur erhalten und mittragen wollen.

 

Für viele ist die FuV im Briefkasten auch eine bewusste oder unbewusste Selbstverständlichkeit geworden. Für einige die letzte, für andere die zentrale Verbindung zur Freinetpädagogik. Manche freuen sich mal wieder etwas von Jenny, Lutz oder Kerensa zu hören. Wieder andere freuen sich über Nachrichten aus Brasilien, der Mathestunde von Petra oder das Kindergartentreffen, und, und, und.

 

Ein solches Forum des Austauschs und der Kooperation kann nicht den realen Austausch und die wirkliche Kooperation ersetzen. Wenn es keine Regionaltreffen, keine Schulentwicklungsgespräche an Schulen oder Kindertageseinrichtungen mit besonderen Profilen, wenn es keine Seminare zu Inklusions- oder Freinetthemen an Universitäten, keine Fortbildungen oder gemeinsame Vorbereitung von schulischem Lernen gibt, ist das Lesen einer FuV nahe an der Einnahme von Instant- und Fastfood.

 

Ich höre manche denken: „Ja, so ist das mit Facebook, Chatforen und Websites. Das entspricht doch den heutigen gesteigerten Bedürfnissen an Häufigkeit, Schnelligkeit und Transparenz von Kommunikation und Austausch. Wenn erst Alle Alles ins Netz setzen, was man und frau in der eigenen, der Praxis anderer, selbst aus anderen Teilen der Welt herausfindet, habe ich doch alles das, was sich die Freinis immer wünschten. Da ist ein unerschöpfliches Reservoir an Techniken, Werkzeugen, Materialien, Karteien, Entwürfen Praxisbeispielen, Ideen, Haltungen, Fragen, Versuchen, Experimenten, freiem Ausdruck, Korrespondenzen, Präsentationen, etc. etc.“   Und so ist es auch!! All das bietet das Netz und die FuV so nicht!   

 

Darum hier eine Antwort auf Hartmut Peetz‘s „Wie wäre wohl Maître Freinet mit der schönen neuen virtuellen Welt umgegangen?“  Ich  fürchte fast, Freinet hätte sich „auf die Seite des Fortschritts schlagen“ können. Er schwärmte schließlich von Technik, von technischen Fortschritt und den neuen Techniken und Wegen, die die „moderne Zeit“ damals für eine „moderne Schule“ bot. Nur so konnten Druckerei, Korrespondenz, Karteien, Erfahrungsberichte aus der Praxis, Bücher, Kooperationsideen, Treffen, sein Fragen und Forschen aus seinem Modernisierungsdenken heraus entstehen.

 

Freinet wäre heute vielleicht für eine radikale Ersetzung der Papierform der FuV, durch eine immer aktuelle, lebendigere digitale Form.  Er hätte sagen können: „Du kannst sie ja ausdrucken, Hartmut, wenn du sie in der Hand halten willst. Schließlich haben die meisten Freinis zwar keine Druckerei mehr in der Klasse, aber einen oder mehrere Drucker an ihre Computer angeschlossen. Mich interessiert nur, wer wirklich austauschen und kooperieren will. Ich will aktive Leser-Schreiber und keine Konsumenten einer Vereinszeitschrift. Das geht mit den modernen Kommunikationsmedien schneller und intensiver als mit einer Zeitschrift, auf die ich drei Monate warten muss.“

 

Ich wäre vorsichtiger damit, mich auf einen alten Hexenmeister berufen zu wollen.  Freinet war kein Goethe, der als ganzheitlich denkender Mensch sehr wohl bei der Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Ministerien und den größten Theatersälen im Hauptprogramm immer sein eigenes Programm vorstellte. Freinet lebte viel mehr in seinem eigenen  Widerspruch in seiner eigenen Zeit. Seine Kunst war die eigene und veränderte und verändernde Praxis anderer zu initiieren.  Und hierzu nutzte er jedes technische Hilfsmittel, das in Schule nutzbar war.

 

Es gibt viele Quellen bei ihm, bei denen seine Fortschrittsvisionen regelrecht abschrecken wirken. Er ist dabei aber der gleiche, der den „alten Matthieu“ immer wieder reden lässt, der die Welt und die Pädagogik, auch ganzheitlich, mit der überbrachten naturverbunden  Klugheit des einfachen Volkes  und den Regeln der  Alten  erklärt. Und er ist der Kommunist und Anarchist der Vorkriegszeit, der  im Glauben an die technische und soziale  Entwicklung seiner Zeit verfangen ist.

 

Und das was daraus als Freinetpädagogik entstanden ist, hat nicht nur mit seinen Widersprüchlichkeiten zu tun, sondern mit der Vielfalt der Menschen von Elise Freinet bis zu der Leserin dieses Artikels, den Widersprüchen unseres Denken und Handelns und dem Umgang mit dem Zeitgeist, in dem wir uns jeweils bewegen. In wieweit es uns gelingt, Systeme zu beeinflussen oder gar mit zu konstruieren, wird erst später sichtbar…

 

„Lasst uns keine falschen Fronten aufmachen“, würde er vielleicht heute sagen. „Das ist auch in der Vergangenheit eurer Freinetbewegung zu oft passiert. Es bindet zu viele Kräfte, schwächt. Und es verhindert letztendlich nicht das, was eh entsteht. Die Frage ist nur, ob es noch unsere Fragen sind, und ob wir bei den Versuchen mitmachen oder ob anderswo gefragt und versucht wird.“

 

Da gab es immer dieses Denken der verschiedenen Gruppen, dieses alte Frontendenken, anstatt die Prüfung der vielen gangbaren Wege in den Mittelpunkt zu stellen.

 

Da gab es in den 1960/70iger den Streit darüber, ob Freinet politisch oder unpolitisch zu verstehen wäre.  Wir wissen heute um die politischen und die unpolitischen Anteile seines Denkens. Unser Problem bleibt höchstens, dass zu wenige Menschen in der Freinetbewegung, wenn es nötig war, politisch denken konnten - und wenn Politik gegen die Menschen und Kinder gemacht wird, pädagogische Argumente und Handeln wichtiger als Parteiengezänk und politische Erlasse sind.

 

Da gab es in den 1970igern einen desaströsen Streit zwischen Basis-Kooperations-Freinis und solchen, die sich kommerzialisieren wollten, um in die bildungspolitische Vernetzung die alternativen pädagogischen Bewegungen der Bundesrepublik einzusteigen. Heute sind die „größten Basisfreaks“ von damals in staatlichen und kommerziellen Netzwerken freinetisch unterwegs oder die „entschiedensten Systemiker“ längst aus der Freinetpädagogik verschwunden.

 

Da gab es Streit zwischen denen, die Freinet als Fortbildungsangebot „verkaufen“ wollten und denen, die „unter sich“ bleiben wollten. Hier das gleiche Bild, - Kritiker einer Freinetfortbildung sind heute „Ausbilder“, Befürworter sind in ihren Klassen abgetaucht ohne ihr Wissen weiterzureichen.

 

Da gibt es seit den 60iger Jahren noch immer zwei  Freinetvereine in Deutschland. Für die einen ist das damalige Symbol des gesellschaftlichen Fortschritts im Bildungswesen, die Druckerei, das höchste vereinsbildende Symbol. Bei den anderen, gab es allzu viele, die die 68-Ideologie mit Freinetpädagogik verwechselten, sie dann eingrünten und mit diesem Denken auch als Verein alt  wurden.

 

Warum wird in der letzten FuV vor den neuen digitalen Medien, vor  Touchscreens, Facebook, Wikipedia und der Internetrecherche  als Falle der heutigen Zeit gewarnt? Warum die Angst, da gehe „wegen fortgeschrittener digitaler Demenz die Fähigkeit zur Orientierung verloren“[8]? Und das, wo Hartmut Peetz sich im Folgenden als der Mensch beschreibt,  der  sein Notebook, seinen WLan-Drucker und das E-mail benutzt, um diese seine Befürchtung aufzuschreiben und weiterzugeben…

 

Da gab es immer die, die glaubten, dass Freinet „ durch die RIDEFS auf der ganzen Welt, durch Mitgliederversammlungen, Fachtagungen und Weiterbildungen auf Bundesebene, durch Freinet-Treffen auf Länderebene und innerhalb Regionalgruppe vor Ort“[9] ihrem Namen gerecht wird.  Und es gibt andere Menschen, denen eher auffällt, dass es immer wieder Menschen sind, die Freinet begrenzt durch ihre Berufs- und Schaffenszeit, solange wie sie an einem Ort zu einer bestimmten Zeit aktiv sind, in und mit besonderen  Schulen, in Schulleitungen und Schulämtern, in Netzwerken, an Universitäten, in der Lehrinnenbildung, in Lernwerkstätten, in Projekten und in Artikeln, Büchern und auf Websites Freinet erhalten und  weitergeben.

 

Ist das nicht die einzig relevante Frage, die am Ende aller abwägenden Gespräche übrig bleibt: Haben wir die Menschen, sind wir die Menschen, die die FuV mit den jetzigen Inhalten in der jetzigen Form als Redaktionen erhalten wollen? Und haben wir die Menschen, sind wir die Menschen, die unsere Erfahrung und unsere Haltung im Dschungel der modernen Medien sichtbar und relevant für uns selbst, und andere, platzieren können?

 

Reicht es da, die FuV online zugänglich zu machen oder kann und muss  da noch viel mehr geschehen? Müssen wir unsere Pioniere wie Jürgen Göndör, Boris Kolipost, Nacho Ruiz und andere besser unterstützen?

 

Wir sollten in erprobter Manier das Neue mitten in das Alte setzen. Da kann die FuV als Papierprokukt in meinem Briefkasten am Eingang meiner Haustür angeliefert werden, solange es genug Menschen gibt, die das wollen und finanzieren. Die FuV kann auf der Homepage der Freinetkooperative, auf Jürgen Göndörs Seite, auf der Homepage unserer Schule, einer Uni oder anderswo verlinkt digital gelesen werden.

 

Wo ist das Problem, wenn es beides gibt?? An unserer Grundschule Harmonie gehen seit nunmehr 20 Jahren Kinder in unser Forum, um eigene Texte mit der Freinetdruckerei zu setzen. Die gleichen Kinder haben bei der Dichterlesung ihren Laptop auf dem Schoß oder lesen ihren Text von ihrem iPhone ab.  Die gleichen Kinder drucken Postkarten mit eigenen Texten für die Partnerklassen in der Schweiz und Österreich und schicken ihre Texte als E-mails zur Partnerschule in England. Die gleichen Kinder recherchieren ihre eigenen Fragen und Themen im Netz und lesen ein Buch nach dem anderen. Die gleichen Kinder schreiben in ihre Hefte und üben das Schreiben auf den elektronischen Tabletts. Die gleichen Kinder legen ihre Matheaufgaben mit Materialien und arbeiten in der Lernwerkstatt am Computer… Sie lernen zu beherrschen, was sonst sie beherrschen würde. 

 

Vielleicht würde der Maître Freinet zustimmen. Wer in der FuV Inhaltliches gründlich, ästhetisch, persönlich und beziehungsvoll schreibt und liest, wer etwas zu sagen hat, kann dies auch digital beherrschen. Vor Gleichgültigkeit durch Zeitverknappung, Prioritätsentscheidungen für Oberflächliches, Distanzierung oder Desinteresse als Gewohnheitsreaktion bewahren uns nicht die Warnungen davor, sondern nur eine eigene demokratische Praxis, - dokumentiert auf Papier und digital[10].                                                                                                                     

 



[1] Hartmut Peetz in der Fragen und Versuche, Dezember 2012, Heft 142/36..Jahrgang, Seite 54

[2] Fragen und Versuche 142,  Seite 52

[3] Jochen Hering, ein kluger Vordenker, provozierte die Frage schon einmal vor mehr als 10 Jahren mit der

   gleichen Intention

[4] Fragen und Versuche 142, S. 49

[5] Fragen und Versuche 142, S.50

[6] „Wahre Gemeinschaft ist wesentlich Gemeinschaft verantwortlicher Personen – bloße Masse aber nur  

  Summe entpersönlichter Wesen.“ Viktor Frankl,  Süddeutsches Institut für Logotherapie GmbH

[7] Fragen und Versuche, 142, S. 52

[8] Hartmut Peetz in der Fragen und Versuche, Dezember 2012, Heft 142/36..Jahrgang, Seite 54

[9] Die Redaktion der Fragen und Versuche, Dezember 2012, Heft 142/36..Jahrgang, Seite 4

[10] Wie wäre es z.B. mit einem digitalen Archiv für Studierende und Forschende. Hier können hunderte

  von relevanten, gut sortierten Artikeln aus 37 Jahren „Fragen und Versuche“, aus anderen Zeitschriften und

  Büchern zusammen gestellt und so die Freinetpädagogik von heute vorgestellt werden. Bei der Auswahl würde

  ich gerne helfen.