Ute Geuß, Walter Hövel
Freies Schreiben in der Freinetpädagogik

geschrieben 1996

 

Das Freie Schreiben, seit den 1920er Jahren von Elise und Célestin Freinet für die Schule entwickelt und verbreitet, gehört seit den 1980er Jahren zum immer mehr anerkannten Bestandteil der Grundschulpädagogik. Auch im Sprach- und Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufen wird das Schreiben „freier“.

 

Célestin Freinet entwickelte ursprünglich aus seinen „Unterrichtsspaziergängen“. Er verließ mit seinen Schülerinnen den Klassenraum, um die Menschen und ihre Arbeits- und Lebensweise, als auch die Natur und ihre Phänomene zu beobachten. Zurück in der Schule, schrieb er die Sätze an die Tafel, die die Kinder aufgrund ihrer Erlebnisse und Wahrnehmungen formulierten. Die Kinder schrieben ihre eigenen Sätze ab, druckten sie, veröffentlichten sie in selbstgemachten Zeitungen und Büchern und tauschten sie als Korrespondenz mit anderen Schulklassen aus. Diese Kinder schrieben bereits keine „Aufsätze“ mehr. Sie lernten frei über ihr Leben zu schreiben.

 

Freinet ging es darum, den Kindern das Wort zu geben, ihnen nicht über die Form des Schulaufsatzes das Denken der Erwachsenen mit ihren hierarchischen Strukturen aufzudrängen. Es ging ihm darum, sie selbst ihre Zeitungen und Bücher machen zu lassen. Es gab kein Geld um Schulbücher zu kaufen, die zudem von sehr niedrigem geistigen und wissenschaftlichen Niveau waren.

 

Es ging darum, dass die Kinder die eigene Sprache als Mittel ihres freien und demokratischen Ausdrucks entwickelten und für sich selbst und ihre Entwicklung nutzen lernten.

 

Heute haben sich die Techniken des Freien Schreibens qualitativ und quantitativ entwickelt. Die Freinetbewegung und die Pädagogik haben in Jahrzehnten ihre Erfahrungen mit dem Freien Schreiben auf regionaler und internationaler Ebene ausgetauscht. Dabei haben sich einige zu Formen des Schreibens zurückentwickelt, andere zu Inhalten des eigenen Schreibens, zum Beispiel mit Hilfe der elektronischen Medien, weiterentwickelt. Freinetpädagoginnen und -pädagogen haben von anderen Schreibern gelernt, so von den Lernwerkstätten oder wenn auch nur vereinzelten Entwicklungen der Praxis der Schulen und Computer.

 

Die aktuelle Konfrontation mit der neuen „schulischen Schreibunlust“, angesichts vielfältiger sensomotorischer, sozio-psychologischer und schulgemachter didaktischer Probleme sind Freinetpädagoginnen heute herausgefordert, neue Techniken und Strategien des Freien Schreibens zu entwickeln.

So werden in den Schulen ständig neue Erfahrungen gesammelt, die über die Zeitschriften der Freinetpädagoginnen und auf ihren Treffen dokumentiert, diskutiert und hinterfragt werden. Auf diesen Treffen gibt es in der Regel immer Schreibateliers, wo die Techniken des Freien Schreibens für die eigene pädagogische Fort- und Weiterbildungsarbeit genutzt werden. Hier wird das Freie Schreiben auch gepflegt, um neue Techniken vorzustellen, an sich selbst zu erfahren und oft auch um an Ort und Stelle neue Ideen zu entwickeln.

 

Diese Erfahrungen werden zudem in Materialien zusammengefasst und veröffentlicht. Das aktuellste Produkt sind die „Schreiblandschaften“ bzw., „Mindscapes For Everyday Poets“ (als englischsprachige Rückseite). Hier werden zweimal 62 Anregungen aus der Praxis der ersten Klasse bis zur Hochschule, aus der Atelierarbeit auf Freinettreffen und der Seminararbeit der Lehrerinnenbildung vorgestellt.

 

Es sind Ideen, die das ermüdende Schreiben in den Schulen vergessen lassen. Diese Anregungen fordern dazu heraus, sich selbst und die Welt mit allen Sinnen wahrzunehmen, dies aufzuschreiben und sich frei auszudrücken. Schminke und Tanz, Farben und Rhythmen, Theater und Schattenspiel, Sprachen und Denken gehören hier zum „schriftlichen Ausdruck“.

 

Für erfahrene Schreiberinnen und Schreiber klingt es gar nicht merkwürdig, wenn gesagt wird, dass das Freie Schreiben wie in einer Schreiblandschaft empfunden werden kann.

 

Es gibt die Schreiblandschaften überall, sie sind immer in der Nähe, für jeden zugänglich und erreichbar. Sie erstrecken sich über unendliche Weiten und stecken voller Überraschungen. Es gibt unzählige Zugänge zu dieser Welt, jeder Eingang lädt zum Erkunden der Landschaften ein. Wer sich auf dieses Abenteuer einlassen möchte, findet seine eigene Tür, seinen Torbogen, ein Schlupfloch, eine Lücke im Gebüsch oder einen schmalen Steg. Alles was wir brauchen um unsere Wege zu finden, sind ein Stift und ein Stück Papier, und eine wache, spielerische Aufmerksamkeit für die äußeren und inneren Wegweiser. Die vorliegende Sammlung von Vorschlägen möchte das Finden der Eingänge erleichtern. Sie bietet dazu auf praktische Weise Schlüssel, Ferngläser, Landkarten, Proviant oder gar Wanderstöcke. Nicht jede Tür, nicht jeder Weg sind für jede interessierte Spaziergängerin geeignet. Aber wir bieten uns bekannte Zugänge an, wie wir auch sicher sind, daß wir zum eigenen Öffnen bisher unbekannter Tore ermutigen. Und das Entscheidende ist, es gibt für jeden Menschen einen, wenn nicht mehrere Eingänge.

 

So sagte eine Frau nach einem einwöchigen Seminar in der Schlußauswertung des Ateliers „Freies Schreiben“: „Ich wußte immer schon, daß ich schreiben wollte, Ich spürte es in mir. Ich wußte nur nicht, wie es geht. Jetzt nehme ich ein weißes Blatt und jedes Stück Papier ist schon ein Text,“

 

So geht es vielen Menschen, ob alt oder jung, denen Gelegenheit gegeben wird, ihren eigenen freien Ausdruck zu finden. Eine unserer menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die wir in dieser Kartei in den Mittelpunkt stellen, ist das Erzählen, oft das geschriebene Erzählen, Dichten oder eben Schreiben.

 

In der Freinetpädagogik, ob schon im Kindergarten, der Grundschule, in der Universität, den Schulen der Sekundarstufen, auf Fortbildungen, bei Lehrerinnentreffen, auf Konferenzen, zum privaten Gebrauch oder in pädagogischen Aufsätzen wird, ausgehend vom „Freien Text“, das Schreiben besonders gepflegt. Die eigenständige Entwicklung der Sprache setzt Menschen garantiert in die Lage, ihr Leben selbstbestimmt zu organisieren und sich zu einer immer eigenständiger lernenden, selbstbewußten Persönlichkeit zu entwickeln.

 

Über viele Jahrzehnte erprobten und verfeinerten junge und alte Menschen innerhalb und außerhalb der Schulen, vor der Einführung der verpflichtenden Schule die Techniken des freien sprachlichen Ausdrucks. Die Erfahrungen mit freien Texten zeigen, daß das Schreiben in dieser Form nicht nur das Denken und die Sinne entfaltet, sondern das Schreiben wird selbst zu einem Inhalt der Wahrnehmung der Welt. Jeder Mensch kann „schreiben“. Zwingen wir seine Ausdrucksfähigkeit in feste Formen wie Bericht, Erörterung oder einfach „Aufsatz“, so werden es nur wenige zur „wahren Meisterschaft“ bringen. Der überwiegende Teil der Betroffenen wird sich selbst als mangelhaften oder durchschnittlich schlecht begabten Schreiber erfahren. Denn diese Art des Schreibens fördert nicht das Schreiben, sondern die Bildung bestimmte festgelegte Normen zu erfüllen. Wer von früh an, beginnend in der ersten Klasse oder in der Familie die Möglichkeit bekommt frei zu schreiben, wird im lesenden und schreibenden Austausch mit anderen Menschen seine eigene Meisterschaft entwickeln. Jeder Mensch wird den eigenen Stil, die eigene Färbung der Sprache(n) auch in der Schriftsprache finden. Seine Umgebung anerkennt und fördert dann die Anregung und seine individuelle Ausdrucksweise.

 

Ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Anregungsfaktor ist der Austausch des Geschriebenen. Freinetleute organisieren dies z.B. in der Korrespondenz mit Briefen, Faxgeräten, Emails, durch Herstellen von Homepages, Zeitungen und Büchern. Sie gestalten eigene Texte in eigener Ästhetik, drucken, lesen, bearbeiten Computerschreibprogramme, Plakate, Wandzeitungen oder führen ein Schreibheft. Und last but not least kennen sie das wöchentliche Vorlesen der geschriebenen Texte in der Klasse oder Lerngruppe.

 

Hier werden im Kreis der Autorinnen und Autoren die „Erfindungen“ von Lyrik und Prosa, von Essays und Textcollagen vorgestellt, untersucht, gewürdigt und konstruktiv kommentiert. Sie stehen allen zur Nachahmung, Erweiterung und Ideenpools zur Verfügung. Die Autorinnen und Autoren lernen die Kooperation miteinander.

 

Diese Schriftstellerinnen begegnen der Literatur der Vergangenheit und Gegenwart mit Selbstbewußtsein, kritisch-kompetent und respektvoll. In der dargebotenen Literatur holen sie auch weitere Anregungen für ihre eigene (schrift-)sprachliche Weiterentwicklung.

 

Sie sind bereit neue Techniken aus anderen Schulen, Gegenden oder Ländern Anregungen, wie diese Kartei, zu bekommen, auszuprobieren, so zu verändern, wie sie es verstehen oder brauchen.

 

Das Freie Schreiben ist ein kontinuierlicher Prozeß der immer neuen Entdeckung der inneren und äußeren Welt. Es ist die Verarbeitung und Darstellung eines so gewonnenen Standpunktes sowohl für sich selbst, als auch gegenüber Mitmenschen und Welt. So erhalte ich durch mein Schreiben Sinn. Gerade diesen Zugang brauchen Schule, Hochschule, Bildung, Ausbildung, ja das eigene Lernen heute besonders. Da die Schule das Schreiben und Lernen auf Normerfüllung reduziert, wenden sich viele junge Menschen von allem ab. „Unterricht“ ist allzu oft zur seelenlosen Vermittlung althergebrachter „Kulturtechniken“ verkommen.

 

Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene verweigern in zunehmender Zahl solche unsinnigen lehrplanerfüllenden Pflichtübungen zur Erlangung gesellschaftlich verlangter Qualifikationen. Lehrerinnen und Lehrer haben Schwierigkeiten ihren Schülern gegenüber, den Sinn oder die Relevanz der Gesamtheit des Schreibunterrichts zu vertreten. Gelingt es aber, den freien sprachlichen Ausdruck als Alternative zum schulischen Schreibzwang anzubieten, so wird dies nicht nur als Lustgewinn, als Mittel der Selbst- und Fremderfahrung, oder als kommunikations- und kooperationsfördernde Technik erfahren, sondern Haltung und Handlung der Schreiberinnen und Schreiber bereichern: Freies Schreiben wird zur Vorlage von freiem Handeln.

 

Das Schreiben freier Texte führt nicht zwangsläufig zu mehr Freiheit. Es fördert aber das freie Denken. Es macht Mut zum Sehen und Formulieren des Möglichen. Es öffnet den Blick auch für das, was bisher für unmöglich gehalten wurde. Es nimmt Ängste. Es gibt die Chance zur Selbstbewährung, zur Entdeckung bisher unbekannter und verschütteter Fähigkeiten. Freies Schreiben regt an zur Arbeit – und zum Nichtstun, alleine und mit anderen. Es bietet die Chance ungewohnte Wege zu gehen. Es läßt Blockaden überwinden.

 

Das freie Schreiben verrät einem Menschen viel über sich selbst, Angenehmes und Unangenehmes. Das eigene Ich kann beschrieben und aus einer gewissen Distanz gesehen werden.

 

Das kann nicht nur dabei helfen, sich selbst kennenzulernen und sich mit dem eigenen Selbst anzufreunden. Es kann bei Bedarf auf eine natürliche, spielerische und „undramatische“ Weise das innere Gleichgewicht wieder herstellen.

 

Freinetpädagogen halten allerdings nichts davon, die Ergebnisse des Freien Schreibens der Anderen als Objekt der psychologischen Analyse zu benutzen. Wir halten nichts davon, das Freie Schreiben als Mittel der Therapie einzusetzen.

Als Therapie kann das Freie Schreiben insofern betrachtet werden, als es „direkte Erleichterung“ verschafft, „die jeder freie Ausdruck zwangsläufig mit sich bringt, der nicht nur sporadisch stattfindet und dem Aufmerksamkeit geschenkt wird.... Und sie erfüllt ihren Zweck ohne Interpretation, ohne Gewalt, ohne daß sich jemand bedrängt fühlt, von jedem unbemerkt, sogar ohne Wissen des Betroffenen.“ (Paul le Bohec, Patricks Zeichnungen, Bremen 1993, Seite 20)

 

Für Freinetleute ist der Freie Ausdruck präventiv. Er wird schon von Kindern benutzt, bevor Erwachsene das Geld für einen Psychiater bezahlen.

 

Das Freie Schreiben ist in der Freinetklasse nicht vom Arbeitszusammenhang loszulösen. Wir geben den Kindern nicht das Wort um mehr über sie zu hören oder sie auszuhorchen. Es ist eine Technik, die in sich demokratisch ist und auch ohne Erwachsene funktioniert. Die Jugendlichen und Kinder entscheiden auch selbst, ob sie ihre Texte veröffentlichen oder vorlesen.

 

Wenn ein Mensch seinen Text nicht vorliest oder vorlesen lassen will, so akzeptieren wir das. Jede/r

schreibt seine eigenen Gedanken, Gefühle und Intuitionen auf. Um diese auch vorlesen zu können, brauchen wir sowohl Vertrauen in die Fähigkeiten der Zuhörerinnen die Äußerungen ernst zu nehmen, als auch das Vertrauen in sich selbst, mit den Reaktionen unserer Zuhörer umgehen zu können.

 

Schreibgruppenleiterinnen in der Lehrerinnenbildung als auch im Kreis der Kinder, also alle, sollten behutsam mit den Teilnehmern umgehen können. Sie sollten ihre eigene Fähigkeit zur Öffnung oder Nichtöffnung kennen. Es ist wichtig eine Atmosphäre der inneren Sicherheit zu schaffen. Es ist uns wichtig Regeln selbst zu schaffen. Alle können allen zuhören. Auslachen ist simpel verboten. Applaudieren ist willkommen. Ein Text wird immer so gelassen wie er ist. Nicht alles muß negativ – und manchmal noch schlimmer – positiv bewertet werden. Jeder Mensch bekommt genügend von der allen zur Verfügung stehenden Zeit.

 

Laßt es in der Verantwortung jedes schreibenden, erzählenden, singenden oder schweigenden Menschen, wie viel sie oder er von sich selbst und seinen Texten preisgeben will. Einen Winkel seiner Seele zu zeigen, den du zeigen willst, befreit nur, wenn dieses Vertrauen nicht missbraucht wird.

 

Das Freie Schreiben soll bleiben, was es ist, weder oberflächliches Spiel noch tiefgründige Seelenkunde, sondern eine Verständigung mit sich selbst und den anderen.

 

Es bietet die Chance eine rational orientierte, hemmende Selbstkontrolle durch Offenheit und Spiel abzubauen. Schaltet das kontrollierende und komplizierte Denken aus. Überlaßt euch eurer ganzheitlichen Wahrnehmung auf körperlicher, emotionaler, intuitiver und rationaler Ebene.

 

Die Formen der lyrischen Ordnung, des sprachlichen Zufalles, der exakten oder verschwommenen eigenen Denke, des geistigen Experiments, des Spielens mit den Sprachen und der Sprache lassen sich mit unendlichen Varianten des eigenen geistigen Erlebens füllen. Die Befreiung des Schreibens führt zu spannenden Erlebnissen bei der Entfaltung der „Produktivkraft Fantasie“ (Sepp Kasper). Sie entwickelt eine eigene schreibende Vernunft.

 

 

Dieses Schreiben ist „Lernen pur“. Unzählige Erfahrungskomponenten werden immer wieder zu neuen Erlebnisfeldern verdichtet. Gesammelte Sprachkenntnisse werden durch das Schreiben zu neuen Erkenntniskompositionen. Worte lassen sich in „vernünftig“ oder „unvernünftig“ aneinanderreihen. Die Vernunft führt aus, formuliert, die Unvernunft erfindet Neues. So könne Freie Texte auch manches Problem erkennbar machen oder gar durch Beschreibung lösen.