Walter Hövel
Mein ältester Freinettext

von 1985

 

Kinder sind kompetent und daher lernbegierig.

Sie sind keine zu belehrenden, defizitären Lernobjekte.

 

Die Lehrer sind nicht mehr diejenigen, die alles bestimmen.

Die Lehrer sind nicht mehr diejenigen, die nie eingreifen.

Sie beraten und würdigen die Arbeit.

 

Die Schule ist der Ausgangsort des selbstorganisierten

kooperativen Lernens an der Wirklichkeit.

 

Das Lernen ist freies Arbeiten.

Es ist selbstbestimmt und selbstorganisiert.

Es ist interessenbezogen.

Ziel und Prinzip ist die nichtentfremdete Arbeit,

also kann sie nur erfahrungsbezogen sein.

Erfahrung sammelt der Mensch mit allen Sinnen, also ganzheitlich.

 

Lernen ist ein kooperativer Vorgang.

Nicht im Sinne einer Unterordnung,

sondern als ein Arbeits- und Lernvorgang,
in dem jeder Mensch seinen Lernstil ind Arbeitsrhythmus findet.
Nicht im Sinne der Begrenzung durch die Gruppe,

sondern als offener Prozess der Potentierung

der Erfahrungen und Erkenntnisse.

Das Lernen ist experimentierend, tastend, praktisch, sinnlich, expressiv, schöpferisch, kreativ und (im holistischen Sinne) wissenschaftlich.

 

Die Lehrer sind Erzieher,

nicht im Sinne eines Leiters oder geschickten Manipulateurs,

sondern als Menschen, die ihre institutionelle Macht abgeben.

Sie unterstützen die demokratische Selbstorganisation der Klassenkooperative.

Erziehung wird zur Beziehung.

 

Freinetpädagogik ist eine politische Pädagogik.

Sie stellt sich in voller Verantwortung der Institution Schule

und der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Sie achtet die Würde des Menschen.

Sie achet die Arbeit des Menschen.

Sie wendet sich gegen jede Form der Unterdrückung,

Ausbeutung, Diskriminierung und Zerstörung der Welt.

 

Freinetpädagogik ist nie abstrakt.

Sie ist eine praktische Methode.

Sie geht vom Leben des Lernenden und seinen Problemen aus.

Sie versucht ihnen Mut zur Neugier, zum Austausch,

zur Kommunikation, zum Selbstbewusstsein, zur Vorsicht,

zur Feinfühligkeit und zur Liebe zu geben.

 

Freinetpädagogik kümmert sich um die Probleme der Opfer,

der Erniedrigten und Beleidigten besonders.

Dies gilt für Behinderte, Gestörte, Ausländer und Misshandelte,

aber auch für die Opfer der Medien, familierer Zerrüttung,

der Umweltzerstötung und Zukunftsangst.

 

Freinetpädagogik wartet nicht auf Reformen von oben.

Sie beginnt hier und jetzt.

So hat die Freinetpägagogik auch keine Rezeptur.

Sie hat keinen vorgeschriebenen Weg.

Sie beginnt mit der Einstellung der Lehrerpersönlichkeit.

 

Die Lehrer organisieren und animieren Lernprozesse,

die die Lernenden mit Leben füllen, auch wenn sie Umwege gehen.

Sie müssen zulassen können, Geduld üben.

Sie lernen mit der Klasse das Lernen gemeinsam

zu planen, durchzuführen und zu analysieren.

Sie brauchen Mut.

 

Ein Freinetpädagoge ist neugierig,

bereit, die eigene Praxis zuzulassen und zu entwickeln.

Der freie Ausdruck kann sich bei den Kindern nur entwickeln,

wenn die Lehrer selbst in der Lage sind,

einen freien, persönlichen Text zu verfassen.

 

Den Pädagogen wird ein breites Feld von Ausdrucksmöglichkeiten

nirgendwo beigebracht,

wenn sie nicht von einander lernen,

in der Kooperation mit anderen Kolleginnen.

Von einander lernen heißt dann aber auch,

selber erfahren und erproben.

 

 

 

Ich schrieb diesen Text mit 35.

Ich fand ihn 35 Jahre später wieder.

Ich bin mutiger und radikaler geworden.

Die Rolle der Arbeit, vor allem der Lehrer*in und Erzieher*in

halte ich für überholt.

Schulen, das Kapital und den Konsum sehe ich viel kritischer.

Vieles gilt immer noch so.
Kindern traue ich viel mehr zu.

Ich weiß nach 20 Jahren Grundschule Harmonie, dass sie locker

das eigene Lernen und Leben bestimmen können.

Heute fordere ich umfassend die Menschenrechte für Kinder!