Gerald Schlemminger von der PH Karlsruhe benutzt die „Fragen und Versuche“ Nr.131 um die „Pédagogie Institutionelle“, eine pädagogische Auffassung der späten 50iger und frühen 60iger Jahre,  vorstellen zu können. Hierzu eine Stellungnahme aus freinetpädagogischer Sicht.

Freinet ist was Anderes
von Walter Hövel


Die Freinetpädagogik ist nicht reduzier bar auf  eine „wissenschaftliche“ Theorie, auf Stichworte, eine Rezeptur, ein Schulcurriculum oder vereinfachende Glaubenssätze. Sie bedarf immer der eigenen Arbeit in der sich ständig verändernden Wirklichkeit des Lernens und der Praxis der Schule. Die Freinetpädagogik war für mich immer ein Steinbruch, eine Schatztruhe, ein Lebenslesebuch. Sie liefert gerade heute beim Bau von Schulklassen, Schulen und Schulkonzepten viele wertvolle Baupläne, pädagogische Reichtümer, Werkzeuge,  Techniken, eine natürliche Methode des Gestaltens, einen eigenen freien Ausdruck  und, im Besonderen, eine unvergleichliche gesellschaftliche Haltung zu den Rechten der Menschen und der Kinder.

Die Freinetpädagogik ist eine Pädagogik der Menschen- und Kinderrechte.

Ich erinnere mich genau an diesen  besonderen „Baustein“, der mir vor mehr als 20 Jahren zum ersten Mal als „eine Art Freinet“ angeboten wurde: Die Kategorisierung und Katalogisierung von Kindern durch „Gürtel, Stufungen oder (möglichst noch von Eltern zu unterzeichnende) Bilanzen. Schon damals lehnte ich den Kopf schüttelnd ab.

Mich erreichte die Beschreibung, die ich jetzt wieder finden konnte: „Für ihre im Unterricht erbrachten Leistungen bekommen die Schüler … ihre cintas (wörtlich ‚Gürtel‘). Auch sie sind eine pädagogische Institution. Das System ist das gleiche wie bei japanischen Kampfsportarten, je nach Kenntnisstand hat ein Schüler z.B. in matematicas eine Gürtelfarbe. Die unterste Stufe ist gelb, die oberste schwarz. (S.46)[1] Dies ist nicht eine pädagogischeInstitution, sondern neben der „Auseinandersetzung mit Geboten“ (u.a.S.60) und dem Klassengeld-Bestrafungs-Belohnungssystem (u.a.S.92), die entscheidende Einrichtung der Institutionalisierer.

Die Freinetpädagogik schützt die  Autonomie und Freiheit des Einzelnen wie die der kooperierenden Gruppen.

Nicht nur für „Leistungen“, der bei den Institutionalisten Lehrer-gemachten Arbeits- und Lernpläne, gibt es „Gürtel“. Auch für Verhalten und Leitungsfähigkeiten. Hier wird innerhalb der Kinder hierarchisiert. Man stelle sich dieses System auf die Gesellschaft übertragen vor: Wir würden mit verschieden farbigen Gürteln, oder – Punkten auf der Stirn herumlaufen. Dieses Experiment hat es, mit unterscheidbaren Turnschuhen, schon in Rehabilitationsmaßnahmen von Kriminellen  gegeben. Dies gibt es, wie erwähnt, bei Kampfsportarten, bei Polizei und  Militär. Die Begründung der Institutionalisten geht allerdings weiter als militärisches Denken: „Den zunehmenden Pflichten stehen steigende Rechte gegenüber. Erst bestimmte soziale Kompetenzen ermöglichen bestimmte Rollen und Status einzunehmen (S.66)“. Es geht nicht mehr um Gehorsam, sondern um das „Funktionieren“ von Menschen. „Die ‚Maschinerie‘ Klasse läuft S.29)! Was dort institutionalisiert wird, ist eine Schule und somit Gesellschaft, in der Menschen verschiedene Rechte haben. Dass dies in traditioneller Schule so ist, wird von Demokraten, dem Grundgesetz, den Menschenrechten und aktuell von der UNO mit der Forderung nach Inklusion aller Menschen versucht zu verändern. Das eine ist eine Entwicklung, die parallel zur Entwicklung der Demokratie und der Rechte der Menschen seit der Entstehung der Demokratien geschieht.

Die Freinetpädagogik ist von Anfang an für alle Lerner da!

In der Fragen und Versuche, derer sich ein Einzelner (Schlemminger) bemächtigt hat (weil die Spielregeln einer Leser-Schreiber-Zeitschrift dies möglich machen), wird auf über 60 Seiten immer wieder die gleiche Botschaft wiederholt: Freinetpädagogik war schon vor Jahrzehnten (in den 50igern!) out, Kinder brauchen Erziehung durch Institutionen, in denen sie Kinder fragen müssen, ob sie zur Toilette (23,24), nicht ohne Erlaubnis in ihre Klasse dürfen (S.23), in denen Kinder „Störer“ (u.a. S.28, 30, 33, 37) sind.

Die Freinetpädagogik realisiert Grundrechte mit den Kindern, hier und jetzt.

Was für eine Einstellung zum Kind das ist: „Am Donnerstag, dem 16., kommt Jeremy in die Klasse, ohne sich draußen aufzustellen. Am nächsten Tag, weil kein anderer daran gedacht hat, kritisiert ihn der Lehrer, dass er alleine in die Klasse geganAgen ist. Er hat es seitdem nicht mehr getan (S.23) “. Wie dies in eine Päda-Psychologie des Hauptvertreters der heutigen Erziehungskonservativen um Michael Winterhoff passt!

Einige weitere Beispiele: „Erst durch die Gruppe reift das Kind, über Pflichten und Rechte, zu einem unabhängigen Wesen heran.“ (S.8) „Die SchülerInnen selbst kommen vermehrt ohne Wissbegierde in die Schule. Desinteresse und Gewalt gegen sich selbst und andere sind einige Ausdrucksformen.“ (S.8) „..doch scheinen mir (der Lehrerin) die SchülerInnen noch nicht reif dafür zu sein(S.27)“.

„Er (das neue Migrantenkind) macht es nach, aber ich (die Lehrerin.) erkläre ihm, dass er im Augenblick nicht das Recht dazu hat (S.29)“. George Orwell nannte das einmal „Some are more equal than others!“

Die Freinetpädagogik sieht das Lernen als einen aktiven selbst gesteuerten, selbst organisierten und selbstbestimmten Prozess von kompetenten Menschen.

 „Kinder, die das zweite Mal stören, verlassen den Klassenrat. (S.30). Das ist schwarze Pädagogik par excellence!

Dieses Mal fragt er (der Schüler): ‚Darf ich Kaka machen gehen?‘ Die Antwort bleibt unveränderlich: ‚Nein‘ (S.24)“ Und Schlemminger veröffentlicht solche Menschenrechts- und Kinderrechts-feindlichen Vorgehensweisen gegen Grundbedürfnisse in der Zeitung der Freinet-Kooperative?

„Ich habe versucht, die individuelle Arbeit einzuführen, aber ohne großen Erfolg, da die Kinder noch nicht in der Lage waren, allein zu arbeiten (S.38)“. Auch später schreibt die Autorin niemals mehr etwas von der Einführung der individuellen Arbeit! In Nordrhein-Westfalen genügt sie damit nicht einmal mehr der Hauptforderung des Landesschulgesetzes!

Freinetpädagogik setzt durch den Prozess des eigenen Lernens auf die Entwicklung von Selbstdisziplin. Kinder lernen nicht nur das Lernenlernen, sondern auch die eigene Erziehung zu ihrem eigenen reflektierten Verhalten.

 „Angesichts der verpfuschten Arbeit war ich entsetzt. Erleichtert endlich eine gute Schülerarbeit zu finden, sagte ich: ‚Oh, Dies ist einen Bonuspunkt wert!...Ich erklärte das System wie folgt: Wenn ein Kind ein sehr gut oder ein gut für seine Arbeit erhält, bekommt es einen Bonuspunkt. Sobald es 5 Bonuspunkte hat, kann es ein hübsches Bild…auswählen. Einige haben es nicht geschafft, mehr als ein Bild im ganzen Jahr zu bekommen, während andere am Ende eine komplette Bildersammlung hatten (S.38)“. Wäre reaktionäre Leistungsschule leichter zu beschreiben?

Die Reihe der Entsetzlichkeiten dieses 64 seitigen Pamphlets gestriger „Pädagogik“ ließe sich endlos weiter zitieren. Die Rolle der Macht ist entblößend, die Heuchlerei der Lehrkräfte, die Kindern ihr Recht auf Lernen im Namen des Lehrers nehmen, die Erstarrung und Verklemmtheit eines Systems, der Missbrauch der Begriffe „Unbewusstsein“ und „Unterbewusstsein“. [2]

Die Freinetpädagogik ist eine Pädagogik der Sinnfindung und der eigenen Übernahme von Verantwortung des eigenen Lernens und Handelns.

Es wird die Einführung des „Klassengelds“ gerühmt, um „so die Kraft (zu) bekommen, zu kaufen und zu verkaufen, also in den Kreislauf des symbolischen Austauschs einzutreten (S.25). Und was passiert? „Gleichzeitig hatte sich das System der Sanktionen zu einem System der Bußgelder entwickelt. Aufgrund von wiederholten Forderungen nach Bestrafungen bei der Kritik im Klassenrat hatte ich (die Lehrerin) zugeben müssen, dass das bisherige Strafsystem ineffizient  war…gibt es …sofort eine Strafe, die man je nach Schwere von den Eltern unterschreiben lassen musste (S.40).“ Ihr macht „die Welle“ und wundert euch, was ihr auslöst!

Freinetpädagogik ist eine Pädagogik ohne Zwang und Strafe. Sie entspringt dem Vertrauen in die schöpferischen, friedlichen Entwicklungskräfte des Menschen. Die Quelle sind nicht Institutionen oder Gebote, sondern der Mensch selbst.

Und ihr macht noch weiter: „In einer der folgenden Stunden haben wir die Schwere der Verstöße in Bußgeldern festgelegt. Die meisten Strafen werden beim Klassenrat im Anschluss an die Kritik gezahlt (S.40)“. „Nach der Vorstellung argumentierten die Schüler zuerst und stimmten dann ab, wie viel ihnen die Präsentation wert war (S.49)“. „Das eingenommene Geld bekommt der Lehrer bzw. die Bank (S.52“).  Im eigenen Glossar heißt es konsequenterweise: „Für geleistete (schulische) Arbeit gibt es eine bestimmte Bezahlung: es trägt den Fähigkeiten des Einzelnen und der Quantität der Leistung Rechnung. Mit ihm werden Verstöße, die über die Gebote und Klassenregeln für alle klar definiert sind, bezahlt. Auf dem regelmäßig stattfindenden ‚Markt‘ kann dann jeder Gegenstände zum Verkauf gegen das Klassengeld anbieten oder selbst einkaufen… Hier hat z.B. das Klassengeld eine sehr ‚heilende‘ Wirkung: Der Verstoß wird bezahlt und ist damit abgegolten (S.62)“. Im Mittelalter nannten wir das Ablasshandel! Dieses System ist perfider als jedes Fleißkärtchen- oder Notensystem!

Freinetpädagogik beschließt im Klassenrat als Zentrum über die Entwicklung des individuell und kooperativ organisierten demokratischen Lernens und Arbeitens. Die Lehrer geben hier ihre Macht ab!!!

Warum bemächtigt sich Schlemminger im Jahre 2010 einer Zeitschrift der Freinetpädagogik? Nach seinen eigenen Worten kam es zwischen 1958 und 1961 zum „Bruch mit der Freinet-Bewegung, (zur) Entstehung der beiden Richtungen der institutionellen Pädagogik(S.54)“.

Beim Lesen hatte ich das Déjà-vu der frühen 70iger Jahre. Es kam mir vor wie das Lesen der Schriften und Flugblätter  der vielen „linken“ Hochschulgruppen, die  in ihrer rechthaberischen Weltsicht, in selbstgestricktem Sektierertum und kleinbürgerlichen Pseudo-Psychologie-Theorien voller Selbstbewusstsein Absurditäten entwickelten. Meistens war das Resultat die nächste Abspaltung und eine Gruppe mehr. Celestin Freinet schmeißt diese Leute 1961(!) raus. Leider verfüge ich über keinerlei Dokumente dieses Vorgangs. War es spätstalinistisches Verhalten eines Antistalinisten, der die Kommunistische Partei verlassen hatte, aber vielleicht noch in deren Verhaltensweisen verstrickt war? Oder ein genialer Befreiungsschlag, der die Freinetbewegung vor einer weiteren Schwächung schütze?  Oder einfach die Unfähigkeit die undemokratische pädagogische Meinung dieser erziehungskonservativen Menschen zu ertragen? Richtig bleibt allerdings -trotz aller Vermutungen -eins: Freinet konnte beurteilen, was zu seiner Zeit Freinetpädagogik war. Und er hat eine eindeutige Aussage getroffen: Institutionalisten sind keine Freinetpädagogen. Auch 50 Jahre später bleibt dieser Rauswurf erklärbar: Im Namen der demokratischen Freinet-Bewegung wollten Leute die Machtverteilung zwischen der staatlichen Institution Schule und seinen Lehrmeistern auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Individuum Kind, von ihnen als „defizitärer Lernender“  gesehen, erhalten. So schreiben sie 2010 wieder: „So steht z.B. im Krankenhaus der Kranke dem Gesunden gegenüber; in der Schule stehen sich gegenüber Personen, die wissen und Personen, die nicht wissen. In beiden Fällen sind der Patient und der Schüler in der Rolle des Passiven, in einer Erwartungshaltung; sie sind auf jeden Fall unfähig, aus sich selbst heraus diesen Status zu überwinden. (S.57)“  2010 versucht Schlemminger dies wieder als Freinetpädagogik zu verkaufen. Aber er hat, wie seine pädagogischen Vorfahren nichts mit Freinet zu tun, außer dass er ihn offen ablehnt! (u.a. S.6,8,12,14,18,54ff,59ff).

Die Freinetpädagoginnen und –pädagogen benutzen demokratische Werkzeuge und Techniken nicht zur Therapie oder Erziehung, sondern als Mittel des eigen-verantwortlichen Lernens in einer „Modernen Schule“.

Schlemminger und seine historischen und aktuellen Schreiber gebrauchen auf allen 64 Seiten kein einziges Mal das Wort „Demokratie“ oder „demokratisch“.  Dies ist nur schwer als Zufall zu werten!

Die Freinetpädagogik ist eine demokratische Pädagogik.

In wie weit die Freinetpädagogik „immer noch der Zeit voraus ist“, aber die Praxis in der Regel nicht mit dem eigenen Anspruch mitkommt, wäre eine ganz andere Frage. Diese Frage sollte allerdings nicht hier diskutiert werden. Schlemmingers pädagogisch-erzieherische Rollbackstrategie ist zu offensichtlich.

Auch seine Unwissenheit: Er sieht sie nicht, die Menschen und ihre Leistungen aus der Freinetbewegung, die in die heutige Pädagogik hinein wirken: Ulli Hecker und seine tolle Arbeit im Grundschulverband, Herbert Hagstedt mit seiner Lernwerkstatt und der Freinet-Forschungsstelle, Lutz Wendeler und Wolfgang Mützelfeld, denen mit dem PrinzHöfte-Schulprogramm die Verbindung von ökologischem, ganzheitlichem und systemischem Denken mit der Freinetpädagogik gelang, die Arbeit von Lothar Klein, Holger Vogt und vielen anderen in den Kindertagesstätten, Falko Peschel, der mit seinem „Offenen Unterricht“ einer ganzen Generation junger Lehrerinnen und Lehrer eine Orientierung gibt, die „Grundschule Harmonie“, die beispielgebend für eine „Moderne Schule“ heute ist, Gitta Kovermanns Arbeiten zu Demokratie und Lehrerinnenbildung, Ingrid Dietrichs Vermittlung des Zusammenhangs von Demokratie und Freinet, Hans Jörgs Pionierarbeit, Holger Butt und seine Kollegen beim gelungenem  Aufbau der Reformschule Hamburg, Angela Glänzels Leistungen in der Mathematik, die tolle Arbeit von Pia-Maria und Gerhard Rabensteiner zum Zusammenhang Demokratie, Viktor Frankl, Europa und Freinet, und viele andere Menschen in Schulen und Hochschulen und an Universitäten.

Stattdessen kommt Schlemminger mit der gleichen Backlash-Welle wie die Winterhoffs und Buebs: mit einem Erziehungspopulismus, dem zudem jede Wissenschaftlichkeit fehlt (vergleiche hierzu Brügelmann zu Winterhoff, 2009).

Freinetpädagogik ist eine Pädagogik der historischen und aktuellen europäischen Erfahrungen, die die neue europäische Schule prägen sollen.

Und in einer Zeit der Begegnung des Reichtums der Verschiedenheiten europäischer und weltweiter Erfahrungen noch ein letztes Wort als Europäer und international denkender Mensch.  Schlemminger beendet seine Einführungs-„Kolummne“ mit den Worten: „Möge diese Nummer von Fragen und Versuchen dazu beitragen, eine Lücke zwischen den Grenzen der doch sehr stark national geprägten Pädagogiken zu schließen (S.9)“. 

In  der Freinetpädagogik oder in anderen demokratischen Reformbewegungen gab es nie das Problem Grenzen schließen zu müssen. Schlemmingers Grenze ist eine uralte, nämlich die zwischen Menschen, die glauben das Richtige für Kinder als defizitäre, noch nicht reife Wesen zu wissen und dies mit den Mitteln ihrer Macht durchzusetzen und solchen, die Kindern, als zwar andere, aber vollwertige Menschen, begegnen und mit ihnen lernend kooperieren und kommunizieren. Da steht Schlemminger mit seinen Institutionalisten auf der anderen Seite, egal ob in Frankreich oder Deutschland.

Die Freinetpädagogik ist eine internationale Pädagogik.



[1] Alle Zitate des Artikels sind  - als Seitenangabe gekennzeichnet - aus der „Fragen und Versuche“, Zeitung der Freinet-Kooperative e.V., Heft 131/34.Jahrgang/März 2010

[2] Wie es anders geht, zeigt u.a. Viktor Frankl