Walter Hövel
Freinetlehrer*in sein

 

 

 

Es muss 1991 gewesen sein. Ich hatte gerade ein Jahr Gesamtschule in Waldbröl und über ein Jahrzehnt an Kölner Hauptschulen als Sekundarstufenlehrer hinter mir. Und 23 Jahre eigene Erfahrung in Kindergärten, Volksschule, Gymnasium und Hochschulen.

 

 

 

Ich wurde als „männliches pädagogisches Exemplar“ Konrektor in Ruppichteroth im Rhein-Sieg-Kreis. Ich hatte keine Ahnung vom Lernen von Grundschulkindern. Als Kölner Hauptschullehrer hatte ich Grundschullehrer*innen nur endlos bewundert, weil sie damals die Hoffnungsträger der Veränderung von Schule waren. Von Kindergartenpädagogik hatte ich überhaupt keine Ahnung.

 

 

 

Ich weiß noch, dass ich meinen Respekt auf alte Grundschullehrer*innen übertrug, die diesen Beruf erfolgreich ausübten. Ich versuchte von ihnen zu lernen. Das „Lernen“ an der Grundschule war für mich vollkommen anders als das Lernen an der Hauptschule.

 

 

 

Ich vermisste lange meine Hauptschule. Die Motivation meines eigenen Lehrerseins war einerseits die Ablehnung der Langeweile und Stupidität meines Gymnasiums und andererseits die romantisierte Erinnerung von wenigstens zwei letzten netten Schuljahren an der Volksschule.

 

 

 

Später behaupteten Menschen ich sei ein begabter Lehrer gewesen, der selbst hochbegabt war und aus untersten Schichten stammte. Ich verfügte über eine Angst ferne Naivität mit einer gehörigen Portion Aggressivität.

 

 

 

„Gestatten“, sagte mein Schulleiter, - er war CDU-Bürgermeister der Gemeinde – „dass ich vorstelle, Herr Hövel, Freinetpädagoge, der hier etwas in Richtung Grundschulrichtlinien verändern wird.“

 

 

 

Solche „Bekanntmachungen“ ließen es, natürlich noch nett gesagt, zu, dass ich meine Arbeit „in aller Ruhe“ beginnen konnte. Ich erfuhr schnell die Vierdimensionalität meines neuen Berufs. Ich kapierte, wollte ich hier „Freinet machen“, musste ich mindestens vier Dinge sofort verändern: Mich selbst, den Unterricht, das Kollegium und die Eltern.

 

 

 

Ich lernte „meine Klasse“ kennen, ein beginnendes zweites Schuljahr. Es waren 30 Kinder, schön zu zweit hintereinander in Bänken sitzend, zwei Tafeln, zwei leere Schränke, ein leeres Regal, ein einziges Hauen und Stechen, laut und „echt witzig“. Nichts von lieben lernbegierigen Grundschulkinderaugen, die einen freudig begrüßten. Eher hatte ich das Gefühl eine 10A einer großstädtischen Hauptschule in einem sozialen Brennpunkt mit hohem Ausländeranteil zu übernehmen.

 

 

 

Ich sah, bekam und musste umgehen, mit 4 Kindern, die das zweite Schuljahr wiederholten, eine kam von einer anderen Schule. 7 kamen aus der sich auflösenden Sowietunion, 3 aus Afghanistan, Serbien und dem Iran. 3 Kinder waren laut Zeugnis „im Ersten nicht schulreif“, eins war in psychiatrischer Behandlung. 6 Kinder waren „hochbegabt“, also sollten auf's Gymnasium oder die Gesamtschule, 2 durchschnittlich, 3 fraglich, also noch nicht katalogisiert. Alle wollten, dass ich die Kinder veränderte, also gymnasiabel oder „beschulbar“ machte.

 

 

 

Mein „Kollege“ Vorgänger hatte volle Arbeit geleistet. Die Kinder fanden Schreiben schrecklich, Mathe war Operationalisieren in Päckchenform, Sachunterricht hieß noch „Sachkunde“. Sie hatten bereits Angst vor Schule, Schuld und Versagen.

 

 

 

Ich hatte mir vorgenommen „vorsichtig“ anzufangen. Ich wollte von einem frontalen Unterricht allmählich zu einem eigenen Lernen kommen. Aber der erste Schritt hierzu wäre vielleicht nur mit der Bestrafung in Form von Hausaufgaben oder Tests gelungen.

 

 

 

Das Fest war perfekt. Ich trat die Flucht nach vorne an und ließ die Kinder so arbeiten, wie sie es konnten. Das war viel Malen, Kreisarbeit, Bewegen und Redenlassen. Erst später kamen Freie Texte, die Dichterlesung, eigene Themen und andere Eigenkonstruktionen. Noch später kam das mathematische Arbeiten mit Materialien, das Wahrnehmen, das eigene Fragen, das selbst bestimmte Lernen.

 

 

 

Frontalstunden waren aber unmöglich, Hausaufgaben musste ich abschaffen. Weder hätte ich die Zeit gehabt sie nachzuschauen, noch hätte ich sie ohne Zwang oder Demütigung durchsetzen können. Ich brauchte jede Minute, um mit den Kindern im Kreis, in (Arbeits-)Gruppen oder einzeln zu reden.

 

 

 

Einige Eltern liefen Amok angesichts dessen was ihre Kinder in der Schule erlebten. Das waren nicht nur Eltern „begabter“ Kindern, sondern auch solche der „anderen“. Sie kannten Schule nicht anders als ein Ort der Anpassung und der Erziehung zum funktionierenden und gehorchenden Mitbürgern.

 

 

 

Es folgten „böse Gespräche“, beim Frisör, beim Bäcker, an der Werkbank oder im Verein. Er gab Anrufe bei der Schulleitung, selbst beim Schulrat, oft genug mit dem Satz „Aber mein Kind soll doch zum Gymnasium“. Und alles wurde mir zugetragen.

 

 

 

Ich erfuhr „die Eltern“ als sehr bösen Druck. Auf der einen Seite stärkten mich die Grundschulrichtlinien und gestandene pädagogische Wissenschaften, dazu einige Schulleiter und einen Schulrat,. Dagegen standen die tägliche Erfahrung des „normalen Volkes“ auch die normative Kraft des Faktischen genannt. Die Menschen wissen, dass es in Schule nicht ums Lernen des Einzelnen geht, sondern um ein schulisches Lernen zum Erreichen eines Abschlusses. Auf dieser Seite standen die Mehrheit der Kolleg*innen „meiner“ Schule, vieler Eltern und oft genug Kinder selbst.

 

 

 

Mir begegnete viel Dummheit: „Wer Kinder nicht am besten ohne sichtbaren Druck zum Arbeiten bringt, der lässt keine Leistung zu.“

 

 

 

Wie oft ertappe ich mich in den Anfangswochen, selbst jetzt noch, bei den Gedanken „Lernen die Kinder wirklich genug? Musst du nicht wenigstens einige zum Schreiben oder Rechnen zwingen? Ist das alles so richtig, was du hier machst?“

 

 

 

Oft war ich deprimiert. Kinder waren viel zu laut. Kinder hatten wieder einmal eine Fachlehrerin fertig gemacht. Der Schulleiter forderte von mir in einem sehr freundlichen Gespräch etwas mehr Kompromissbereitschaft bei der Rechtschreibung oder den Hausaufgaben. Der bisher mich unterstützende Schülervater schlug mir vor einen Test zu schreiben, damit die Eltern doch sehen, dass ihre Kinder etwas können. Die Kollegin der Klasse nebenan zog in der Gemeindeverwaltung zünftig über „das Chaos bei der Freien Arbeit“ her. Marco, ein Schüler schlug mit dem Hammer auf die neuen Drucklettern ein. Jedesmal hatte ich das Gefühl das normale Leben eines Buchunterrichters führen zu müssen.

 

 

 

In sehr alltäglichen Augenblicken kam der Wunsch in mir hoch, doch allen gemeinsam etwas zu lehren, indem ich mit allen das Gleiche unterrichtete, wie andere Lehrkräfte es auch taten, mit Arbeitsblatt, zumindest die Dehnungs- oder Großschreibung.

 

 

 

Aber die Kids gingen einen anderen Weg, weil sie sehr schnell das demokratische Entscheiden lernten. Und ich lernte ihren Weg zu verstehen, ihn mit Vorschlägen und Anregungen zu versehen, mit Know-How und Pädagogik zu begleiten, ihn zu wollen und ihnen Mut zu machen. Und ich lernte den Weg der Kinder von Elternabend zu Elternabend besser zu vertreten.

 

 

 

Mächtig weitergeholfen hat mir der damals in der „Fragen und Versuche“ veröffentlichte Artikel von Jeannette le Bohec.1 Sie schildert, wie sie immer unter oder mit ihren eigenen Freinetklassen litt und, dass es niemals einfach war in einer Freinetklasse zu arbeiten. Ich lernte, dass mein Weg des Lernens der Weg der Kinder ist.

 

 

 

In dieser Zeit las ich den Kindern aus „Momo“ von Michael Ende vor. Ich halte viel von Beppo2, den Straßenkehrer. Er macht „Atemzug und Schritt und Besenstrich“, um dort wieder anzukommen, wo er her kommt. Die „grauen Männer“ können ihn nur schwer einfangen. Erst mit dem Versprechen, Momo werde zurückkommen, wenn er hunderttausend Stunden spare, berauben ihn die grauen Herren seiner Persönlichkeit.

 

 

 

Obwohl Michael Ende Momo hatte, brauchte er einen „Meister“, den „Meister Hora“, und die Natur, in Form der Schildkröte „Kassiopeia“.

 

 

 

Ich fragte mich: „Was hat das mit Freinetpädagogik zu tun?“

 

 

 

Ich lernte in dieser Zeit mit den Kolleg*innen zu arbeiten, die etwas verändern wollten. Wir veränderten gemeinsam. Ich lernte die, die nicht wollten so arbeiten zu lassen, wie sie es konnten. Ich war nicht verantwortlich für ihr Tun.

 

 

 

Ich schaffte es – bis auf ein oder zwei Ewiggestrige die Eltern zu überzeugen. Jeder Elternabend wurde eine pädagogische Fortbildung . Ich lernte mit ihnen ein Bündnis für ihre Kinder zu schließen. Den Erfolg der Kinder präsentierte ich ihnen als deren Leistung. Ich zeigte ihnen nicht, was sie als „Leistung“ sehen wollten. Jedes Kind hatte das Recht auf seinen eigenen Erfolg.

 

 

 

An einem Abend führte jedes Kind alleine oder in einer Gruppe seine gespielte Interpretation eines von ihm ausgesuchten Gedichts auf.

 

 

 

Alle Lehrer*innen der Schule machten einen Tag der Offenen Tür. Kinderwahrnehmung und das Spiel als Lernen standen im Mittelpunkt.

 

 

 

Die Kinder der Klasse bauten ihr System ihres Lernens auf. Ich lernte das zu formulieren, was ich provozierte. Ich lernte die Grundschule als Schule für alle Kinder, als Übort der Demokratisierung und der Eroberung des eigenen Lernens zu schätzen.

 

 

 

1994 verließ ich die Schule, und auch „mein“ Arbeitskreis tat es. Sie setzten ihre Arbeit woanders fort.

 

 

 

1995 konnte ich die Grundschule Harmonie eröffnen, um dort die nächsten 20 Jahre zu lernen.

 

 

 

 

 

 

1 In Fragen und Versuche Nr.6,  wurde ein Artikel von ihr unter dem Titel "Das französische Paradies" veröffentlicht, in dem sie den wiederkehrenden Vorgang der Selbst-Verunsicherung schildert, wenn mensch wieder einmal mit einer Freinetklasse beginnt.

 

2https://www.youtube.com/watch?v=VHb5q2iYuuU