Walter Hövel
Maddam e Musjö Elise und Selestjö „Libre-Kooperazion“
Die Freiheit gemeinsam wollen

 

Wie herrlich Dinge manchmal einfach herumliegen. Mensch muss sie nur aufheben und anschauen.

 

Da setzt sich scheinbar der Name von Elise und Célestin Freinet aus dem deutschen Wort „frei“ und dem englischen „net“ zusammen. Zumindest kann so etwas bei der Eingabe im internationalen Netz sichtbar werden.

 

Und wie herrlich sie zu einander passen. Da sind auf der einen Seite bei „frei“ der freie Ausdruck, der freie Text, das freie Fragen. Da sind die gesamten Freiheiten der Ästhetik, der Literatur, der Sprache, des Denkens und der Vielfalt der Menschen als Mittel des eigenen freien Lernens. Da sind das freie Experimentieren, die Freiheit Fehler machen zu dürfen und das freie Forschen. Da ist das freie Tasten und Versuchen. Da ist die Befreiung der Schule des Volkes durch ein anderes Lernen, durch die Übernahme durch das Abgucken der natürlichen Methode des Lernens bei Kindern. Da sind die Freiheit eines demokratischen Lernens. Da ist die Arbeit mit Schüler*innen und Lehrer*innen und den befreienden Werkzeugen und Techniken der Freinet- und Reformpädagogik.

 

Beim anderen Teil des Namens, dem „net“ finde ich die andere Seite. Da sind die Netze dieser Befreiungen, die Vernetzung der Menschen zu mehr Menschen-, also auch Kinderrechten. Da ist die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Kooperation zum Voranbringen der Bildung und zum guten Leben aller. Da sind die Korrespondenz und die Demokratie in Struktur, Gehalt und Inhalt. Da sind die Ateliers, die die Themen der Welt, das Fühlen, das Erkennen, die Erkenntnisse und Kenntnisse der Menschen und ihre gemeinsamen Kompetenzen. All das zogen und ziehen mich an wie die Motten das Licht.

 

Da ist das selbstgemachte Drucken, die Herstellung eigener Bücher und Zeitungen, das blitzschnelle Kommunizieren mit und im Netz, das schnelle Finden von Informationen und Menschen. Da ist die Vernetzung des Lernens Aller, weit über Kindergarten und Schule hinaus. Da ist die Bildung durch und von gemeinsamer Sprache, von Sprechen, Bildern, Hoffnungen und Denken.

 

Hier wird jedem Kind, jeder Lehrer*in, jedem Menschen das Wort gegeben. Hier ist die Weitergabe von Menschenrechten. Es ist das freie und kooperative Spiel, das Wissenschaft, Systeme, Leben und Lernen bestimmt.

 

Mein Weg im eigenen Frei-Net
Als ich 1982 meine erste Freinetfortbildungswoche besuchte, gefiel mir keines der angebotenen Langzeitateliers. Ich ging in eine Gruppe von „Revoluzzer*innen“ und lernte hier von Toni Lane, Monika Bonheio und Ute Geuß meine ersten Techniken zum Schreiben Freier Texte. Hier traf ich unter anderem Paul le Bohec und eine Zukunfts-Theater-Tanz-Gruppe eines Herrn Mühl1

 

Seither lernte ich viel über das freie Schreiben in der „eigenen“ oder „fremden“, also in den „Familiensprachen“ von Kölsch über Türkisch oder Kurdisch oder Arabisch -, hiesigen Verständigungssprachen wie Deutsch oder Englisch oder den Fremdsprachen vom Finnischen, über Latein oder chinesische Sprachen.

 

Ich fand heraus, wie dieses Freie Schreiben aus dem Kreis und Klassenrat sich zur eigenen Schreibe, zum eigenen Ausdruck, dem individuellen kooperativen Lernen entwickelte. Ich spürte, dass die Beherrschung und Benutzung von eigener Sprache in ein auch neues Denken und Handeln von Schichten- und Klassenüberwindung führte.

 

Ich lernte selbst an einer staatlichen Grundschule durch die Befreiung der Kinder mich selbst als Lehrer zu befreien. Ich lernte zunehmend weder mich selbst noch die Lernenden zu konditionierten und domestizierten. Stattdessen demokratisierten sich die Verhältnisse und ihre Protagonisten.

 

Ich fand heraus, welch eine Lern- und Entwicklungskraft, welche Verwirklichung von Menschenrechten gerade bei Kindern provoziert und initiiert werden kann. Ich befürworte immer konsequenter durch Praxis und Theorie Selbstorganisation bis zur selbst Selbstbestimmung zu entwickeln.

 

Heute, nach weit über 60 Jahren Lernen als Lerner und Lehrer, weiß ich aus eigener Erfahrung und Praxis, dass Lernen ganz anders geht als bisherige Bildung oft will. Ich lernte, wie wenige Lehrer*innen - und erst recht die Systeme Kita, Schule und Hochschule das freie Lernen zulassen wollen. Ich lernte auch, wie gut ein Lernen der eigenen menschlichen Domestizierung greift. Andererseits lernte ich, wie Menschen sich mit oder ohne Krankheiten, Überforderungen und Ablehnungen zur eigenen Systemveränderung durchsetzen.

 

Und ich musste beobachten, dass es viel zu langsam gelang Bildung für die Menschen zu modernisieren. Stattdessen wird Schule unbeliebter. Lerner*innen wurden ihr gegenüber gleichgültig blieb oder sie hassten, was sie beim Lernen und Lehren(!) erfuhren. Ich sah wie die Verunsicherung von Eltern und Kindern immer mehr dazu genutzt wurde Bildung zu ökonomisieren und an den Mittelschichten orientiert zu ideologisieren.

 

Aber in meiner Schulpraxiszeit reichten unsere Fähigkeiten aus, um zu überleben. Schule veränderte sich sogar auch zum Positiven. Es wird viel seltener geschlagen, unser Wissen wächst und Lehrer*innen sind eher grün-konservativ als braun.

 

Aber geht das so weiter? Einfach so weitermachen oder gar zurückweichen vor Backslashs und neuen und alten „Verschulungen“? Reichen die „alten“ Mittel. Reichen die Einführung von Elektronik und Naturwissenschaften? Sind Demokratie und Menschenrechte stark genug?

 

Gilt das noch? Geht das noch?
Das Dumme ist, dass das Netz blitzschnell2 ist. Das Dumme ist, dass das Netz Firmen gehört, die weniger Demokratie, sondern ihren eigenen Verdienst wollen.

 

Das Dumme ist, dass Mächtige und Industrie zuerst Bildung für die eigenen Interessen durchsetzen. Sie selektieren, nutzen die feudal-autoritäre Macht der Lehrkräfte und geben die zu behandelnden Themen bis heute vor. Sie greifen direkt in das Schreiben der Lehrpläne ein. Sie dirigieren ihre Vorstellung von Bildung ebenfalls durch ihre Stiftungen und Firmen. Sie haben immer ihren eigenen Bereich der Aus-Bildung ihrer „Leute“. Sie eröffnen einen ganz neues Bildungssystem neben der Schule durch Konsum, Werbung und elektronische Medien.

 

Das Dumme ist, dass schon lange die Geldmächtigen bestimmen, welche Informationen und Meinungen in jeden Haushalt transportiert werden. Hier ist der wirkliche Sitz einer „Presse“, die für die Mächtigen schreibt, anstatt sie zu kontrollieren.

 

Das Dumme ist, dass Abermillionen von Euros in Kindertagesstätten und Schulen als Mittel zur Ökonomisierung und Elektronisierung über Stiftungen, Schulbuchverlage, Haushaltsmittel und außerschulische Bildung gesteckt werden.

 

Das Dumme ist, dass viele Eltern zunächst „Reformschulen“ als Reparaturanstalt für ihre Kinder suchten. Nun wird versucht aus dem ganzen Bildungssystem eine Reparaturanstalt zu machen. Die Tendenz zur Selbstreparatur der menschlichen Psyche wächst. Die Kinder werden diagnostiziert, um sie dann zu fördern und zu fördern. Da gibt es Bewegungstherapien, Dyskalkulie, Konzentrationsschwäche, Logopädie, Förderschulen, Selektion, Elternberatung, Fachkräfte, „internationale Klassen“, Nachhilfe, und, und, und. Die Kinder und Jugendlichen von heute werden lernfähig zum Funktionieren in verbesserten Berufen gemacht.

 

Das Dumme ist, Kooperation kann auch die Kooperation solcher Kräfte sein, die sich nicht die Zusammenarbeit der Demokraten wünscht. Sie sind vielerorts das Sprachrohr der sogenannten „schweigenden Mehrheit“ geworden.3

Selbst der Begriff „Freiheit“ wird missbraucht als „Freiheit“ der Industrie, des Krieges, des Armmachens, der Rechten und „Libertären“. Sie fordern die „Freiheit“ des Nationalismus, des Rassismus, die Freiheit der Herrenmenschen. Sie wollen das Verständnis ihrer „Freiheit“ als Unterwanderung jeder Schulbank und jedes Kinder- und Menschengehirns. Sie nennen sich sogar „Freiheitliche“ und fordern die „Freiheit gegen die Freiheit“.

Sie beanspruchen diesen Begriff für ihre Autoindustrien, ihre Banken, Werbung, der chemischen und elektronischen Industrie und sehr vieler ihrer globalen und regionalen Firmen. Sie wollen die Bildung aller zu Mittelschichtler in ihren Schulen, um Armut wieder erduldbar zu machen.

 

Es wird aber keine Wiederholung eines Ermächtigungsgesetzes geben, keine Machtergreifung der Nazis, keine …. Gauland und andere Politiker*innen wissen, dass sie eine bürgerliche Revolution verhinderten, sich bis heute mit feudal-preußischen Traditionen verbünden, mehr als zwei Kriege verloren, dass sie immer wieder auf das falsche, „deutsche“ Pferd4 setzten. Ihre Vorbilder nennen sie nicht mehr Habsburger, Hohenzollern, Hindenburg oder Hitler. Sie nennen sich „Mittelschicht“, „Demokraten“, „Volk“, „neu“ und „Alternativen“.

 

Sie rüsten auf zu einem nächsten Gefecht gegen die stetige Erstarkung friedlicher, Leben schützender, Armut und Verdummung ablehnender Kräfte des Lebens. Sie werden wieder verlieren, weil der Wille zur Freiheit stärker ist.

 

Auf dieser Seite stehen alle jene, die menschliches Leben verwirklichen wollen. Selbst wenn sie dies mit konservativen Mitteln wollen. Die Trennlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft ist die Verwirklichung von Menschenrechten, vor allem für Kinder und Jugendliche.

 

Heute - 2018
Der Blick nach vorne zwingt mich zur Anerkennung dessen, dass die Abschaffung von Armut das zentrale, nicht zu lösende Problem unserer Zeit ist. Armut trennt unsere Welt in wenige Reiche, in reiche Nationen und das weltweite Riesenheer der verarmten Frauen, Männer und vor allem Kinder. Unsere Gesellschaftsordnung kann und will (!) dies weder gesellschaftlich, ökonomisch noch denkerisch beseitigen. Demokratie, Inklusion und Menschenrechte brauchen eine Ordnung für Alle.

 

Heute stehen sehr uneinheitliche Menschenrechtler einer sehr uneinheitlichen Rechten gegenüber. Dummerweise steht die Mehrzahl der kapitalistischen Kräfte eigen-konsequenterweise in großen Teilen auf Seiten der immer weitergehenden Verbesserung der kapitalistischen Nutzungsbedingungen, also auf Seiten einer Rechten.

 

Denkende Menschen begreifen, was gerade passiert. Hierzu zählt zum Beispiel Klaus Klemm, deutscher Soziologe: „Kindertagesstätten und Schulen bauen die Spaltung in Gewinner und Verlierer nicht ab, sondern verfestigen sie.“

 

Was wir nicht wiederholen sollten
Ein Herr Freinet griff um 1920 zum Entsetzen seiner Frau zu einem Gewehr und schoss auf den Herrn Bürgermeister seiner Gemeinde. Zum Glück traf er nicht Er musste aber aus dem Staatsdienst ausscheiden und eine „freie Schule“ gründen, die vor kurzem nach fast 100 Jahren (!), wieder verstaatlicht wurde.
An der Freinetschule in Vence wurde eine „Freinetpädagogik“ entwickelt, die, ob die Akteure wollten oder nicht, den Gedanken der Entwicklung von gesellschaftlicher Kooperation und der Forderung nach einer neuen modernen Lernen des Volkes vorantrieb.

 

Es geht um das Weiterdenken, darum das Neue zu begreifen. Nicht nur französische Kolleg*innen verbeutelten Freinetpädagogik zu einer angepassteren Form der „Institutionellen Pädagogik“.
Deutsche „Fortschrittfreinis“ vergaben manche Chance der gemeinsamen demokratischen Umgestaltung der Bildung.

 

Modernität wird heute gerne missverstanden als Elektronisierung des Wissens, psychologische Reparatur von Lernenden und Rückzug in eine allgemeine und ökonomisierte Bildungsentwicklung.
Wir werden begreifen müssen, dass Menschen nicht in einem Zwangssystem Kita, Schule oder Hochschule lernen werden. Lernen geht anders! Wir – als Menschen – werden begreifen müssen, dass Lernen anders geht als bisher.

 

Unser Weg
Eine Radikalisierung unserer Vorstellungen kann nur – wie es Antonio Gramsci schon 1943 erkannte – über den Weg der Anerkennung der individuellen Rechte jedes Menschen gehen. Es wird nicht über Gewalt gegen Minderheiten oder Uneinsichtige gehen. Wir werden uns selbst so ernähren und bilden, die Welt so nachhaltig schützen und lieben lernen, dass es weiter Menschen gibt, die ihrem eigenen Ziel einer Vermenschlichung folgen.

 

Wir werden gemeinsam in Vielfalt und Diversität anders und friedlich lernen müssen. Wie werden uns selbst das Wort, ein neues, anderes Wort geben.

 

Der Weg dorthin wird unendlich lang und ganz anders sein, wie wir ihn uns vorstellen. Wer so etwas fordert wie ein Gandhi, ein Mandela, ein Luther King oder ein John Lennon ist kein Spinner. Wir haben keine andere Chance. Sonst gehen wir unter. Es ist der einzig denkbare Weg des Lernens und Überlebens.

 

Wie das geht, können wir nur sehen, wenn wir es tun!

 

Die Freinetmenschen können diesen Weg in ihrer Klasse, in ihrer Familie, in ihrer Kita oder Schule, in ihrem Leben gehen. Andere werden es anders tun. Die Fortsetzung der ersten 200 Jahre einer Entwicklung von Menschen zu Menschen wird anders sein als die 10.000 Jahre zuvor.

 

Es ist der Weg von Freiheit und zusammen wirkenden Menschen im eigenen freien Netz.

 

1Der selber gar nicht dabei war, und ich selber erst später begreifen konnte, was ich an diesen Leuten nicht mochte.

 

2Dieser Name „Blitz“ machte die deutschen Nazis zunächst zum Sieger in den Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Hitler und seine Regierung rüsteten die Deutsche Reichswehr mit 20.000 LKWS des Typs „Opel Blitz“ aus. Daher waren sie so schnell im mordenden Vorstoß ihrer Angriffe und zunächst allen Gegnern überlegen. Nach ihrer Niederlage wurde die Firma „Opel“ den US-Amerikanern übergeben. Der Blitz blieb aber, in der englischen Sprache und im Logo dieser Firma.

 

3Walter Hövel. Zur Bedeutung der Kooperation. In: Bindestrich. Dezember 2018. Schweiz

 

4Vorsicht! Diese Pferde leben. Wir sind es!