Freinet im Wandel der Zeit

 

von Walter Hövel

 

 

 

Lieber Célestin Freinet!

 

 

 

Eigentlich wollte ich so einen Brief mit „lieber...“ niemals an einen Toten, einen anonymen Politiker oder eine imaginäre Persönlichkeit schreiben. Aber ich tue es doch, weil es mich plötzlich doch reizte, als ich angesprochen wurde. Ich fühlte mich von Herzen eingeladen. Nämlich von Rolf Wagner einem Kollegen, dessen Arbeit mich bei meinem eigenen Freinetstart vor nunmehr über 20 Jahren mächtig beeindruckt und beeinflusst hat. Rolf beherrscht da eine Kunst, die Sie, Herr Freinet, wohl auch beherrscht haben. Mir wurde erzählt, dass Sie täglich mit bis zu 40 Leuten korrespondiert haben. Ja, würden sich mehr Leute täglich ansprechen, würden sie sich die Zeit nehmen mehr mit einander zu kommunizieren, dann gäbe es mehr Bewegung, auch mehr Freinetbewegung.

 

 

 

Das mit der Bewegung ist nämlich nicht so gekommen, wie Sie es sich und Ihre Frau, Ihre Freunde und Nachfolger erhofft hatten. Da gab es für ein paar Jahre eine mächtige französische Bewegung der von Ihnen gegründeten Kooperative, aber jetzt sind es gerade mal ein paar tausend Leute auf der ganzen Welt. In der englischsprachigen Welt kenne ich genau eine Handvoll Universitätsleute, die auf unsere Praxis und unsere Theorien gestoßen sind, in den meisten Ländern dümpelt der Freinetgedanke so vor sich hin.

 

 

 

Zum Glück haben sich die französischen Kolleginnen und Kollegen damals gegen den Wunsch Ihrer Frau dazu entschlossen, nicht die Nachmacher eines begnadeten Herrn Freinets zu werden. Sie wollten nicht die Pädagogik eines Mannes huldigend, das bis dahin Bekannte weiter vererben, sondern als Bewegung die Realisierung Ihrer und ihrer gemeinsamen Idee einer „Modernen Schule“ vorantreiben.

 

 

 

Daher sind wir auch heute kein „reformpädagogischer Verein“ wie die Freunde von den Montessorianern, den Daltons, den Petersenleuten oder den Waldorfianern. (Der von Ihnen so geschätzte Anton Semjonowitsch Makarenko spielt zurzeit keine Rolle in der Diskussion, eher feiert zurzeit Herr Dewey, dessen Gedanken Sie gerne adoptierten, ein beeindruckendes Comeback). Ähnlich wie die Schriften des Herrn Dewey haben wir als „internationale Bewegung der Modernen Schule“ aus dieser Zeit immerhin so etwas wie einen Bildungs- und politischen Anspruch beibehalten.

 

 

 

Da Sie, Herr Freinet, keine eindeutigen Rezepturen hinterlassen haben, sich in Ihren zahlreichen Schriften oft widersprechen, zwischen theoretischen Ansprüchen, Visionen, haarsträubenden  und genialen Dingen, Praxisbeschreibungen, Polemiken und philosophisch-pädagogischen Geschichten hin- und herwechseln, ist es auch heute noch möglich mit Ihnen so umzugehen, wie Sie selbst mit Psychologie, Wissenschaften  und Erziehungskonzepten umgingen, nämlich eklektisch. Sie suchten sich aus, was Ihnen gefiel und was in Ihr Konzept passte. Heute würde vielleicht gesagt, dass Sie entsprechend der „Viabilität“ verschiedene Dinge aussuchten.

 

 

 

Diese Hinterlassenschaft hat nun mehrere Seiten. In einigen Dingen waren Sie und Ihre Leute einfach genial. Da etablierten Sie und Ihre Nachfolger in der eigenen Praxis  den Freien Ausdruck, das Freie Schreiben, die natürliche Methode des Lernens, das fibelfreie Erlernen des Lesens und Schreibens, das freie Experimentieren, die Tastenden Versuche, die Korrespondenz (spannender denn je durch die elektronische Post), das Drucken, das Arbeiten mit Karteien (was allerdings in der Freinetbewegung immer stärker in Frage gestellt wurde), die Selbstevaluation, die Arbeitsecken im Klassenraum, das Atelier (auch als Werkstatt zu übersetzen), die „Spaziergangsklasse“ (draußen lernen), die Techniken und Werkzeuge(, die heute unter Lernenlern-Methoden angesammelt werden), die Klasse als Kooperative, vor allem mit dem Klassenrat, mit dem die Demokratie ins Klassenzimmer einzog und last but not least die Kooperation der Lehrerinnen und Lehrer.

 

Eine geniale Praxis, die auch in der heutigen Zeit die Freinetpädagogik immer noch aktuell macht. Viele dieser Dinge sind erst in den letzten Jahren in die Schule eingezogen, einige werden gerade in Fortbildungen, wissenschaftlichen Publikationen und neuen Richtlinien propagiert, andere werden noch ein paar Jahre brauchen, bis sie Schule machen. Die Freinetpädagogik ist hier immer noch der Zeit voraus.

 

 

 

Ein Problem ist Vielen nur, dass in der Regel diese Dinge nur halb, teils unvollständig, teils absichtlich missverstanden oder „neu erfunden“, aber auch original, in den Schulen eingeführt werden; nur, - und da liegt das vermeintliche Problem, - ohne dass der Name Freinet genannt wird.

 

 

 

Seien Sie nicht traurig, Herr Freinet! Einige Wissenschaftler der heutigen Zeit haben es mitbekommen und aufgeschrieben und Leuten wie mir, ist das so wie so egal. Die Hauptsache ist doch, dass die Ideen angekommen sind oder in der Modernen Schule der Zukunft noch ankommen werden. Warum sollte es nicht auch heute Eklektiker wie Sie geben?  So weit ich in Ihren Schriften feststellen konnte, haben Sie nicht immer alles zitiert, was Sie von anderen hatten, oder?

 

 

 

Ein anderes Problem scheint mir zu sein, dass es so wenige Freinetlehrerinnen und -lehrer gibt, dass es gerade in der Freinetbewegung verdammt viele Leute gibt, die gar keinen Freinet-Lernen initiieren und – dass es dann noch so verschiedene Auffassungen von dem gibt, was „Freinet“ in der Praxis sein soll.

 

 

 

Wenn doch die Freinetpädagogik so erfolgreich ist – und ich kann durch meine eigene Praxis beweisen, dass sie es ist – warum gibt es dann nicht Tausende von Freinetklassen und Hunderte von Schulen, die ihre Richtlinien und Schulprogramme freinetisch umsetzen? Sie riefen damals aus „Wir sind die Handwerker“ und luden alle Lehrerinnen und Lehrer ein Freinetpädagogen zu werden, weil es „jeder mit unseren Techniken und Werkzeugen werden kann“.

 

 

 

Könnte es sein, dass ganz Viele das gar nicht wollten und vielleicht andere Kompetenzen besaßen und andere Konzepte im Kopf hatten, die auch ausgesprochen demokratisch und modern waren und sind?

 

 

 

Da gibt es bei uns „systemische Pädagogen“, oder die Ingrid von den Montis, deren Unterricht richtig herzlich und sympathisch ist, oder den Falko Peschel von der Abteilung „Offener Unterricht“, oder Sybille und Nick an meiner Schule, die einfach in Ordnung sind und Nick „noch nicht einmal“ Lehrer, sondern wirklich Handwerker ist, und viele andere mehr. Ist es da nicht richtig, dass wenn wir in der staatlichen Schule arbeiten wollen, Freinetpädagogik nur ein, wenn auch wichtiger, Bestandteil einer guten kooperativen Arbeit sein könnte?

 

 

 

Könnte es sein, dass ganz Viele das mit der „Freinetpädagogik“ auch gar nicht können? Dass vielleicht wirklich nur „pädagogische Künstler Freinetpädagogik zelebrieren“ können. Vielleicht muss es in Schule ein Miteinander von Handwerkern, Künstlern, Arbeitern, Philosophen, Naiven, Fachleuten, Kommunikationstechnikern, Bauern, Lehrlingen, Zeitarbeiterinnen und Wissenschaftlern geben können. Vielleicht sollten wir uns, Herr Freinet, sogar von dem Gedanken trennen, dass es die Lehrerinnen und Lehrer sind, die den Unterricht demokratisieren. Vielleicht folgen wir konsequenter einem Ihrer Kinderreservats-Gedanken, dass es die Kinder selbst sein könnten, die das Lernen und Leben selbst organisieren und bestimmen lernen.

 

 

 

Ich möchte hier, Herr Freinet, nicht denen das Wort reden, die sagen, dass die Freinetpädagogik ihre historische Rolle schon erfüllt hätte und sich  beruhigt in die heutige „moderne Schule“  auflösen könne. Ich denke, da gibt es noch viel zu tun und zu erklären. Und so etwas braucht eine klare Vorstellung und präzise Vermittlung von dem, was wir anzubieten haben.

 

 

 

Zum Beispiel die Sache mit der Demokratie im Klassenraum, oder erst recht in der ganzen Schule oder im Bildungssystem, oder die Frage eines wirklich selbst bestimmten und nicht nur mitbestimmten Lernens, oder die Frage einer Kooperation, nicht nur im Lehrerinnenzimmer, sondern auch in Kommunen oder weltweit, sind, wie vieles andere, lange noch nicht angekommen.

 

 

 

Und da ist dann auch für mich noch einen wichtigen Punkt innerhalb der Freinetpädagogik. Zu Ihren Zeiten, haben Sie, so wurde mir von Ihren alten Weggefährten erzählt, schon mal persönlich geklärt, was „Freinetpädagogik“ ist und was nicht. Ist wohl nur aus der Zeit heraus zu verstehen. Zum Glück läuft das heute so nicht mehr. Der Nachteil dieses Vorteils ist, dass niemand mehr wirklich definiert, was Freinetpädagogik ist, außer es wird in Büchern und Zeitschriften veröffentlicht. Und die, die veröffentlichen, reden kaum mehr mit anderen darüber.

 

 

 

Manchmal, wenn ich andere Freinetlehrerinnen und -lehrer höre oder sehe, denke ich darüber nach, ob ich überhaupt noch „Freinet“ mache, ob ich nicht eher schon ein Systemiker geworden bin. Oder mache ich eben nur noch meine eigene Pädagogik, inspiriert durch Herrn und Frau Freinet und Paul Le Bohec (erinnern Sie sich noch an den jungen Mann?), durch die Kooperation mit Uschi, Lutz, Ute und vielen anderen mehr. 

 

             

 

Bei anderen Freinetleuten sehe ich nämlich Wochenpläne, die von Lehrern gemacht werden, den Zwang zum Schreiben von „Freien Texten“, stupides Karteikarten abarbeiten, Frontal- und Buchunterricht zwischendurch oder regelmäßig, Klassenräte, die sich um Befindlichkeiten, aber nicht die Organisation der eigenen Arbeit kümmern. Ich sehe Freinet-„Unterricht“, institutionalisierte Abläufe, die nicht von den Kindern, aus ihrer Kooperation unter einander und mit Erwachsenen, sondern vom „Freinetlehrer“ kommen. War das mit „Freinet“ gemeint? 

 

 

 

Wenn ich so in Ihren Büchern lese, wenn ich so an einige meiner Begegnungen mit alten Weggefährten von Ihnen denke und dann eben sehe, was Kollegen von heute als „Freinet“ verwirklichen, kommt mir oft der Gedanke, dass vieles bei Ihnen in Ihrer Praxis auch widersprüchlich und nicht immer „so freinetisch“ war. Dass Sie in Ihren Schriften eben oft auch nur Ihre Visionen formuliert haben. Ich glaube dies, weil es mir manchmal auch passiert, dass ich meine Praxis morgen wieder verändere, weil ich beim Schreiben heute Dinge „progressiver“ beschreiben konnte, als ich sie gestern tat.

 

 

 

Eigentlich würde ich mich wirklich gerne mal mit Ihnen und vielen Freinetkolleg*innen in unserer Zeit treffen, um über die wirkliche Aktualität Ihrer Pädagogik zu sprechen. So zum Beispiel über Ihren Arbeitsbegriff.

 

 

 

Ich denke aus der heutigen Sicht, dass Sie mit einem marxistischen Arbeitsbegriff der Begrifflichkeit der Arbeitsschule von Kerschensteiner und anderen überlegen waren. Einerseits konnte Sie sich im Lager der Reformpädagogen der Arbeitsschulbewegung verständigen und bewegen, andererseits gelang es Ihnen, einem pädagogischen Konzept eine weiter reichende Grundlage zu geben.

 

 

 

Sie verstanden es den kommunistisch-orthodoxen Programmen a la Hoernle oder der KPF nicht zu folgen. Stattdessen kreierten Sie eine Praxis, die das von den Kindern und der Welt entfremdete „Lernen“ und Arbeiten“ in der Zwangs-Schule  durch einen nicht-entfremdeten, also selbst organisierten und selbst bestimmten Begriff des wirklichen Arbeitens zu ersetzen. Sie gingen von den den Kinder eigenen Bedürfnissen aus. Sie lernten mit allen Sinnen, im Team, mit allen Kompetenzen in einer demokratischen Klassengemeinschaft. Sie verwirklichten - soweit es Zeit und Umstände zuließen - was Sie forderten in der sofortigen Wirklichkeit.

 

 

 

Dies erklärt dann wiederum, warum nicht alle Lehrerinnen und Lehrer diesem Konzept, dieser Einstellung zu „Arbeiten in der Schule“ folgen konnten und können, und warum gleichzeitig, - wenn eine solche Pädagogik in einer Klasse realisiert werden konnte, - sie so erfolgreich war und ist.

 

 

 

Nur, Herr Freinet, die Zeiten und die Einstellung zum Arbeitsbegriff der Gesellschaft ändern sich gerade. Die „Future Work“, die Arbeit der Zukunft braucht andere Menschen als jene drei Gruppen, mit denen einstmals die Dreigliedrigkeit in die Volksschule (dann Hauptschule), die Realschule und das Gymnasium begründet wurde. Da sollte es die geben, die produzieren können, die, die die Produktion beaufsichtigen und verwalten und die, die sie lenken und bestimmen konnten. Heute aber wird von „Phantasie und Kreativität statt Hierarchie, Selbstorganisation, Eigenverantwortlichkeit, dem Menschen im Zentrum, Selbststeuerung, offener Kommunikation, ganzheitlichem Denken, Ermöglichen von Teamkompetenzen“ gesprochen. All diese Begriffe stammen aus einer doppel-ganz-seitigen Zeitungsanzeige der Deutschen Bank und der deutschen Industrie aus dem Jahre 1994.

 

 

 

Offensichtlich muss die Arbeit nicht mehr von denen befreit werden, die „kapitalistische“ Lohnarbeit leisten müssen, vielleicht erledigt sich die Entfremdung von selbst, vielleicht schwinden die produzierenden Arbeiter zu einer Zahl, wie es heute noch die Unterdrückten alter Systeme gibt, die unter feudalen Bedingungen arbeitenden Bauern in der Dritten Welt und die versklavten Frauen und Kindern auch in unserer Welt. Um im Geiste Ihres Gedankengebers Karl Marx zu sprechen, wenn eine Epoche der anderen folgt, muss immer eine Hauptproduktivkraft freigesetzt werden, um in die nächste Epoche zu gelangen, bei den Sklaven deren Leben, bei den Bauern deren Produkte und den Arbeitern deren Arbeitskraft. Nun wird vielleicht gerade unsere Zeit und Lebenszeit frei verfügbar gemacht.

 

 

 

Immer mehr Menschen müssen ihre Zeit vermieten, immer mehr Menschen vermieten verschieden viel Zeit, immer mehr Menschen haben Zeit, die nicht vermietbar ist. Die Daten, das neue Kapital, brauchen Nanosekunden, Zeiteinheiten, die jenseits unserer  zeitlichen Vorstellung liegen, die Globalisierung verkürzt Abstände und Zeiten, immer mehr sind Zeit überbrückend und sparend jederzeit überall „mobile“ oder „online“ erreichbar, Zeit macht Stress und Depressionen, Zeit wird immer wertvoller, Zeit ist nicht mehr nur Geld.

 

 

 

Vielleicht sollten wir unser Augenmerk darauf richten, zu fragen was neue Schlüsselqualifikationen, neue Schul- und Bildungsprogramme mit Lebens- und Arbeits- und Freizeit zu tun haben. Darüber nachdenken, wie Kinder lernen mit ihrer eigenen Zeit umzugehen, wie sie ihre Zeit selbst bestimmen lernen. Sollten wir nicht den Kindern die Zeit geben? Sollten wir uns nicht in Fort-, Weiter- und Ausbildung Zeit nehmen, uns mit jenem Kinderbuch von Michael Ende, dass schon den Zusammenhang von Zeit, Zukunft und Kindern aufgreift, ob Freinetpädagoge oder nicht.

 

 

 

Lieber Célestin Freinet, Momo hätte Ihnen gefallen. Aber sie lebten in einer anderen Zeit. Sie haben Ihrer Zeit Tolles geleistet haben, was bis in die heutige Zeit hineinwirkt.

 

Ich denke, das Problem, der Zeit voraus zu bleiben, müssen wir weiterhin selbst lösen. Aber nochmals Danke für Ihre Arbeit, - und natürlich auch die Zeit, die Sie mir als Ihr Schüler gönnten.

 

 

 

 

 

Tschüss

 

 

 

Walter Hövel