Jochen Hering und Walter Hövel

 

Freinet-Pädagogik: Eine eigensinnige Pädagogik

 

Vorwort zu „Immer noch der Zeit voraus“

 


Ursprünglich gab es zwei Gedanken, die zur Entstehung dieses Buches führten. Zum einen waren die „Pädagogischen Texte“ von Célestin Freinet, die Heiner Boehncke und Christoph Hennig 1980 in der deutschen Übersetzung herausbrachten, vergriffen.

 

 

 

Angesichts der Tatsache, dass nur wenige Texte Freinets bisher ins Deutsche übersetzt wurden selbst in Frankreich ist die Quellenlage desolat. Es sollten gerade diese Texte nicht verloren gehen. Zum anderen jährt sich Freinets Geburtstag im Jahr 1996 zum lOO-sten Mal. Geplant wurde also eine kleine Festschrift mit einem Reprint der „Pädagogischen Texte“. Einige zusätzliche Beiträge sollten die Aktualität dieser Texte würdigen, die noch Jahrzehnte nach ihrer ersten Veröffentlichung erfrischend lebendig und radikal sind.

 


Es ist schwer, sich der Einfachheit und Eindringlichkeit solcher Texte zu entziehen. „Die Pädagogischen Texte stellen meine erste Berührung mit Freinet dar“, schreibt die Wiener Lehrerin Christine Wiedermann, „sie hinterließen einen bleibenden Eindruck... In der fiktiven Gestalt des Bauern Matthieu bringt Freinet sein philosophisches und pädagog-isches Weltbild zum Ausdruck. In Metaphern seiner ländlichen Umgebung lassen sich die Vorstellungen von einer organischen Arbeit in der Schule ablesen.“

 


Es sind bildhaft eindringliche Geschichten und Texte, in denen Célestin Freinet seit den 20er Jahren dieses Jahrhunderts eine „Pädagogik der Arbeit“ formuliert, die er gemeinsam mit seiner Frau Elise lebte und entwickelte, und die bis heute nachhaltig die Auffassung und Organisation von Lernen inder Schule beeinflusst.

 


Freinet will keine hochtrabenden wissenschaftlichen Texte verfassen. Er legt seine „pedagogie de bon sens“ in bildhaft eindringlicher Form einem Schäfer in den Mund, der die Menschen und ihre Verhältnisse noch „natürlich“ sieht. Ein Blickwinkel, der bei der Betrachtung unserer heutigen Welt eher an Sympathie und Dringlichkeit gewonnen hat. Diese Texte sind in ihrer Bildhaftigkeit aufrüttelnd, mutmachend und anregender als jene Flut von Aufsätzen und Berichten, mit denen uns pädagogische Zeitschriften, Reader und Empfehlungen tagtäglich überschwemmen. Jeder dieser Texte enthält auch heute noch genügend „Sprengkraft“, als Einführungstext zu einer Konferenz oder Fortbildung die bestehenden pädagogischen Verhältnisse in Frage zu stellen.

 


Wo Freinet forderte „Schluss mit den Schulbüchern!“, stattdessen gemeinsam mit den Kindern die Welt erkundete und eine eigene von Kindern gemachte Bibliothek aufbaute, da bestimmen immer noch Schulbücher und Frontalunterricht weite Teile schulischen Alltags. Und Schulbuchverlage erheben die „Beschränkung“ kindlicher Lebensenergie zum Programm, wo es Elise und Célestin Freinet darum ging, diese zu entfalten. Ein Zitat aus der Ankündigung zum Mathematikbuch „Welt der Zahl“, das auf den Punkt bringt, was Freinet-Pädagogik nicht ist: „Wenn‘s aber darum geht, kindliche Neugier und überschüssige Energien in die richtigen Bahnen zu lenken, dann treten wir auf den Plan. Mit konzeptionsstarker Didaktik gegen anhaltende Tagträume und schwindende Konzentration. Wir entwickeln lebendige Unterrichtsgestaltung, die kleine Quälgeister
fröhlich und damit friedlich stimmt“

 


Wer einmal vom Geist der „Pädagogischen Texte“ erfasst ist, kann solche „Ankündigun-gen“ nicht mehr in die Tat umsetzen, kann Kinder nicht auf „formbares Schülermaterial“ reduzieren, sondern wird sich
begleitet von einer einfachen und klaren Sprache auf den Weg machen, Schule und Kinder neu zu entdecken und zu erfahren.
Freinets „Pädagogische Texte“ basieren auf der Kritik unserer gesellschaftlichen Verhältnisse. Es sind keine theoretischen Schriften. Und sie stellen keine abstrakten Forderungen auf, die die Verän-derung von Schule und Unterricht auf morgen verschieben. Sie fordern zur sofortigen Umsetzung einer „menschenwürdigen“ Pädagogik auf, die die Kinder und ihr Zusammenleben in den Mittel-punkt stellt.

 


Die Beiträge der Autorinnen, die die Texte Freinets in diesem Band begleiten, sind in diesem Geist
geschrieben. Sie zeugen von der Eigen- und Weiterentwicklung der Freinet-Pädagogik. Sie haben
Eigen-Sinn. Mit den Texten Freinets fügen sie sich reissverschlussartig zu einem aktuellen Blick auf die Freinet-Pädagogik zusammen.

 


Mit Johannes Beck kommt einer der Gründer der „Pädagogik-Kooperativen“ zu Wort. Er beschreibt, wie Bildung heute wahnhaft wie in einem Produktionsprozess organisiert wird und fordert eine zeitgemäße pädagogische Praxis, die den Lernenden eine (Lern-)Umgebung bietet, „in der sie vielfältige Fähigkeiten durch Teilnahme bilden und in der sie ihre Realität begreifend gestalten können“.

 


Der Aufsatz von Jochen Hering zeigt, wie die Pädagogik Freinets Kindern heute entgegen der gesellschaftlichen Tendenz eine Schule bieten könnte, in der
sie sich in der Arbeit mit allen Sinnen erfahren, Selbstbewusstsein im freien Ausdruck, Eigen-Sinn und Fantasie entfalten können.

 


Christian Schreger ist es gelungen, das Menschenrecht der Kinder auf ihren Text und ihre Sprache
in eine Geschichte über den Rotstift und die Korrektur zu kleiden. Und Horst Hensel skizziert eine
Phänomenologie der Erziehung, beschreibt die „Lernaufgabe“ als grundlegendes Element des päda-
gogischen Prozesses und Freinets historische Leistung als die revolutionäre Neubestimmung dieser
„Lernaufgabe“.

 


Die Freinet-Pädagogik hat eine eigene Form der wissenschaftlichen Arbeit entwickelt. Die „Erfah-rungen der erzieherischen Praxis“ werden nicht dokumentiert und evaluiert, um sie zu „reiner Theorie“ oder „didaktischen Konzepten“ gerinnen zu lassen. Die eigene Arbeit und ihre Ergebnisse in der eigenen Erfahrung empirisch verankert werden auf „Freinet-Treffen“, Fortbildungen oder in Zeitschriften vorgestellt, in eine gemeinsame Diskussion eingebracht, die dann idealerweise so-gleich wieder die praktische Arbeit der Beteiligten einfließt.

 

 

 

Freinet war der festen Überzeugung „und die Erfahrung hat uns das häufig bestätigt, dass nur die Lehrer, die an der Basis arbeiten, die jeden Tag, jede Minute mit der beängstigenden Realität arbeiten, auch diejenigen sind, die heraus-finden können, welche Formen erzieherischer Praxis ihnen am meisten nutzen. Die Befreiung der Volksschule erfolgt zuallererst durch das wohlüberlegte und kraftvolle Handeln der Volksschullehrer selbst“.

 


In dieser Tradition stehen vor allem die Aufsätze von Angela Glänzel und Ulla Carle. Beide Autorinnen beschreiben ihren Weg, den sie mit Hilfe der Freinet-Pädagogik gegangen sind, ob nun im Mathematikunterricht der staatlichen Grundschule oder in der „beängstigenden Irrealität“ der universitären Lehrerausbildung. Sie sind Beispiele dafür, dass die Freinet-Pädagogik sich auch heute noch in klassischen Bereichen selbst weiterentwickelt und gleichzeitig zur Weiterentwicklung dieser Bereiche beiträgt. Basisarbeit ist auch die Arbeit der relativ jungen pädagogischen Bewegung der Lernwerkstätten. „Open education“, „community education“ oder „science-discovery-learning“ waren Schlagworte, unter denen diese ursprünglich aus dem angloamerikani-schen Raum stammen-de Idee einer „Fortbildung von unten“ sich in der Gründung zahlreicher „Pädagogischer Werk-stätten“ Bahn brach.

 

 

 

Angela Bolland beschreibt in Bildern und Beispielen die Begegnung von Lernwerkstattarbeit und Freinet-Pädagogik.

 


Mit Jean-Loup Ringot kommt ein Schüler einer Freinet-Klasse zu Wort. Seine Erinnerungen „Sachen machen, davon haben wir gelernt“ zeigen, wie individuell und eigen-sinnig pädagogische Grundgedanken umgesetzt werden können.

 


Eigen-Sinnigkeit zeigt sich auch im Interview mit Paul Le Bohec, Weggefährte Célestin und vor allem Elise Freinets seit den 40er Jahren. Sein Hauptinteresse gilt der „inneren Welt“ der Kinder und dem freien, kreativen Ausdruck.

 


Eberhard Dettinger würdigt in seinem Aufsatz das „Ursymbol“ der Freinetbewegung, die Druckerei, stellt sie in den Mittelpunkt einer Schule, die für Kinder zum „Lebensraum“ werden soll.

 


Herbert Hagstedt geht dem „gestörten Verhältnis“ zwischen Freinet-Pädagogik und Erziehungs-wissenschaften nach und beschreibt dabei ein Stück Lebensweg Célestin Freinets.

 


Und Walter Hövel setzt sich in seinem Nachwort mit den Forderungen der deutschen Industrie zur Gestaltung der Zukunft auseinander. Seine Rede, die er als Schulleiter vor Eltern, Schülern, Gemeindepolitikern, Handwerkern, Schulaufsichtsbeamten gehalten hat, fordert alle an Schule Beteiligten auf, nicht auf Anweisungen von oben und nicht auf morgen zu warten, sondern „von unten“ zu beginnen und „das Neue ins Alte zu setzen“.

 


Célestin Freinet war immer an den Handwerkern interessiert, an denen, die tagtäglich mit Kindern, Jugendlichen, Studenten arbeiten und diese Arbeit so gut als möglich tun wollen. Für die Schwätzer, die ihre scheinbare Überlegen-heit einzig aus der Geschicklichkeit ziehen, „mit Wörtern umzugehen und Systeme nach einem Wirrwar von Regeln und Theorien zu ordnen“, was sie dann anspruchsvoll „Logik und Philosophie“ nennen, für die Schwätzer hatte er nichts übrig.

 


Wir haben uns bei der Herausgabe dieses Buches von diesem Gedanken leiten lassen, um ein Buch für die vielen Handwerkerinnen und Handwerker der Pädagogik zu machen. Wir wünschen uns, dass durch dieses Buch etwas von der Kraft und Lebendig-keit dieser eigensinnigen Pädagogik bei den Leserinnen und Lesern ankommt.

 


1) Célestin Freinet, Pädagogische Texte. Mit Beispielen aus der praktischen Arbeit nach Freinet, hrsg. von Heiner Boehncke und Christoph Hennig,
Hamburg 1980.
2) Vgl. dazu den Aufsatz von Herbert Hagstedt in diesem Band.
3) Wir danken an dieser Stelle den Herausgebern und dem Rowohlt-Verlag für ihre freundliche Genehmigung, Texte Freinets aus ihrem Band bei der
Pädagogik-Kooperative wieder herausbringen zu können.
4) Die „Pädagogischen Texte“ erschienen in den Fünfziger Jahren in Frankreich als Artikelserie im L‘Éducateur, der Zeitschrift der französischen
Freinetbewegung. 1959 erschien eine Zusammenfassung dieser Texte unter dem Titel „Les dits de Mathieu. Une pedagogie moderne de bon sense“
(„Was Mathieu gesagt hat. Eine moderne Pädagogik des gesunden Menschenverstandes“) in der Edition Delachaux et Niestle in der Schweiz. (Quelle:
Ingrid Dietrich, Handbuch der Freinet-Pädagogik, Weinheim 1995)
5) Christine Wiedermann, Berührungstexte. Eine Lesung mit Bildern und Musik, Wien o.J. Grundlage der Lesung sind ausgewählte Teile der pädagogi-
schen Texte Freinets, die von Musik und Dia-Bildern begleitet werden. Ausleihe für Fortbildungen über die Pädagogik-Kooperative möglich.
6) Der Name Freinet-Pädagogik“ berücksichtigt... (nicht) den Lebenspartner, hier Elise Freinet, die entscheidend zu einigen pädagogischen
Begriffsbildungen beigetragen hat, insbesondere was den Bereich der künstlerischen Tätigkeit des Kindes angeht. Außerdem brachte sie eine ausge-
prägte politische Sozialisation in die Beziehung mit ein. Sie war schon vor der Eheschließung aktives Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs
(P.C.F.)... Sie hat wohl auch dazu beigetragen, dass C. Freinet der Partei beitrat.“ Zitiert aus einem Papier Gerald Schlemmingers, Universität Paris,
lOO-jähriges Jubiläum des Pädagogen C. Freinet. Zum Einfluss Elise Freinets vgl. auch das Interview mit Paul Le Bohec in diesem Band.
7) Der Begriff „gesunder Menschenverstand“ hat in der deutschen Sprache und deutschen Geschichte einen negativen Beiklang. Wir haben deshalb im
Text den französischen Begriff stehen lassen.
8) Diese Idee einer Arbeitsbücherei von Kindern für Kinder hat die Pädagogik-Kooperative Bremen mit der Reihe „Projekte-Hefte“ aufgenommen und
weitergeführt.
9) aus: Die Grundschulzeitschrift, Heft 91, Jan. 96, S. 58
10) „Der mit Verstand Suchende ist immer derjenige, welcher der Einfachheit und dem Leben nachgeht.“ (C. Freinet, zit. nach Elise Freinet, Erziehung
ohne Zwang, Stuttgart 1981, S. 30)
11) Vgl. hierzu zum Beispiel die Zeitung „Fragen und Versuche“ der Pädagogik-Kooperative Bremen, die „Mitteilungshefte“ der „Freinet Lehrerinnen Eltern
Kooperative“ (F.L.E.K.), Wien oder den „Schuldrucker“, die Zeitschrift des „Arbeitskreises der Schuldrucker“, Stuttgart.
12) Freinet, Pädagogische Texte, a.a.O. S. 118
13) Dieses „gestörte Verhältnis“ ist etwas anderes als die „Theoriefeindlichkeit“ von Teilen der deutschen Lehrerschaft in der Folge der 68er Jahre, die
auch in der Freinetbewegung vorzufinden ist. Trotz seiner Kritik an der falschen pädagogischen Wissenschaft, die nicht auf dem Wissen um das Wesen
und die Bedürfnisse des Kindes gründet (Vgl. dazu z.B. den Text „Scolatismus“ in diesem Band), bedeutet das nicht, „dass wir die Forschungen der
Philosophen, Psychologen und Pädagogen gering schätzen, die in einer anderen sozialen Umgebung für den Fortschritt in der Erziehung arbeiten“.
(Freinet, Pädagogische Texte, a.a.O. S. 118f.)
14) Vgl. den Text „Die Schwätzer“ in diesem Band