Walter Hövel
Du musst nicht mitmachen. Ich habe immer versucht, nicht bei allem mitzumachen. Ich bin öfter gegangen. Meistens, wenn ich gehe, stimmt etwas nicht. Oft kann ich meine Gefühle erst später in Worte formulieren. Ich verliere die Kontrolle und gerate in Panik. Ich gehe leider nicht immer sofort, wenn ich mich nicht wohl fühle.
Ich mag keine Weggucker. Wenn Verbrechen begangen werden, missachte ich die Täter und klage durch mein Handeln an. Ich will nicht mit Tätern arbeiten. Sie haben mich dafür geschnitten, einige sogar gehasst.
Oft wurde versucht mich zum Mitwisser von menschenfeindlichen Taten zu machen. Es werden immer möglichst viele Mitwisser gesucht. Manchmal habe ich meine Zeit gebraucht um zu verstehen.
Oft wurde ich nicht gehört. Es gibt viele Techniken der Diskreditierung, der Diffamierung, der Isolation, des Wegsperrens, sowie des Lobs, der Ehrung, als auch der Vereinnahmung, des Kaufs oder der Vertuschung. Ich habe laut gesagt, was ich wusste. Ich habe für die gearbeitet, die benachteiligt werden. Ich habe immer deren Nähe gesucht, die Menschen ohne eigenen Vorteil halfen.
Ich ging ohne mich zu opfern. Ich habe lange gebraucht zu verstehen, dass ich das darf. Ich gehöre zu jenen, die nicht allem und jedem trauen. Dadurch traue ich vielen bis zum Misstrauen.
Ich wählte ein Leben der relativen Unbedeutung, indem ich Meins machte. Mir fehlt Ehrgeiz, bin aber empfindlich - für Ungerechtigkeiten, vor allem gegenüber „den Schwachen“.
Ich gehöre zu denen, die lernten keinen Moment zu verpassen, um laut zu sagen und zu schreiben, was sie riechen, sehen, hören, denken, fühlen, ahnen oder wissen.
Mein Misstrauen gegen faschistisches Denken seit 70 Jahren
Von der VerKurzung der demokratischen Sehne
„Neues hat oft seine Ähnlichkeit mit Altem, es ist aber nie das Gleiche.
Die Kunst ist die Türen der Neuerung zu sehen, durch die Menschen schreiten möchten.
Zum Überleben müssen wir aber wissen, was wir nicht noch einmal mitmachen“
Mit dem Schuljahr 2018/19 habe ich meine beiden Lehraufträge in Österreich gekündigt. Man hat von oben, wie mir gesagt wurde, „jetzt lieber eigene Leute, die nicht so teuer sind“. Im Übrigen wird seit einiger Zeit weniger gezahlt, eher gespart. Und „meine“ eher progressiven Auftraggeberinnen ließen mich auch für gar kein oder weniger Geld gerne kommen. Nicht, dass ich das nicht schon seit Jahren von deutschen Hochschulen kenne. Gerne lassen sie einen Teil der Lehre von minderbezahlten Lehrauftragskräften erledigen. Aber Österreich „schließt sich mal wieder an“. Oder besser: Geht voran.
Seit einigen Jahren erlebe ich dort - im Hotel und sonst wo - von Männern besetzte sehr weiße Stammtischreden. Die Redner glauben immer alles zu wissen und reden viel, aber gefährlichen Mehrheitsunsinn. Auf riesigen Plakaten wird die Heimat oder der Zusammenhalt von Burschenschaften gefeiert. Oder wie ein mir seit über 20 Jahren bekannter, wirklich toller Wiener Freinetlehrer 2018 sagte: „Österreich bewegt sich rasenden Schritts zurück in eine Gestrigkeit, die jedenfalls vor den letzten tatsächlichen Reformen im Bildungswesen der 1970er und 1980er Jahre liegt. Vieles erinnert an die 1930er Jahre, als die nationalistischen Tendenzen von weiten Teilen der Bevölkerung ungläubig beobachtet wurden - es ist aber nicht zu leugnen, wohin dieses schweigende Staunen schlussendlich geführt hat.“
Und in der Tat durfte ich Herrn Haider, wie jetzt Herrn Strache, auch live erleben. Ohne eine Entnazifizierung in der „Nachkriegszeit“ sind sie zum zweiten Mal als Populisten mit faschistischer Argumentation und Aktion in deren Bundesregierung. Wieder ist eine vorauseilende Anpassung a la Schuschnigg und Dollfuß zu erleben. Es ist das Fehlen und eine schrittweise Abschaffung von Demokratie spürbar. ÖVP und selbst SPÖ haben für zu wenig demokratische Grundhaltung getan. Sie ebnen bei gleichen „Freunden“ mit der FPÖ gerne Wege. Sie gehen auch ungeniert politische Bündnisse mit einander ein. Zu viele von ihnen – wie auch in Deutschland und anderswo - suchen nicht die Zusammenarbeit mit Demokraten. Sie kooperieren mit offenen Gegnern der Demokratie.
„Aber Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten“
Dies ging bis zu Reden eines Familienangehörigen, der mit den gleichen über 70 Jahren alten Argumenten der Nazis - wie einst meine Eltern - für seine Wahlentscheidung für die FPÖ werben wollte.
Ich mache also in zwei Hochschulen in verschiedenen österreichischen Bundesländern meine Seminare nicht mehr. Das hätte ich nicht getan, wenn nur meine Auftraggeberinnen weniger gezahlt hätten, sich so in das schmalere Budget europäisch und national ergeben hätten. Aber sie wollen nicht merken, wie ihr Land sich verändert. Ich merkte es, weil es eine Veränderung bei einigen Studierenden gab.
Im Januar 2019 erlebte ich von Beginn an in einem meiner Seminare eine bis dato nie dagewesene Geilheit der Teilnehmerinnen auf eine Verkürzung der Seminarzeit. Universitäre Bildung als Lehrer*innen war für sie in ihrem europäischen Vielvölkerstaat, seit geraumer Zeit unter einer türkis-blauen Staatsleitung mit strammer deutscher Gesinnung, unsinnig und überflüssig.
Die Studentinnen verschwanden in Gruppen zu verschiedenen Zeitpunkten des Seminars, ohne etwas zu sagen. Sie „nutzten“ die Option einer gewissen ihnen zustehenden Fehlzeit, die ihnen das Haus oder irgendeine Gesetzgebung als „zulässige Fehlzeit“ zugestand.
Die Wortführerinnen unter ihnen hassen ihr Studium als „Zeitverschwendung“, „Erziehung zum Alten von alten Ideologieträgern“ oder „einer nicht effektiven Ausbildung, die nicht ihr eigenes Handeln zum Ausgangspunkt des eigenen Studierens macht“. Nichts gegen die Berechtigung solcher Aussagen. Aber solche Worte kenne ich noch von meinen Eltern. Sie waren - mit solchen Worten – nicht nur in ihrer Jugend begeistere Nationalsozialisten.
Als eine Studentin süffisant grinsend selbst die Leitung einer „Dichterlesung“ zum Handel über die Verkürzung der Seminarzeit nutzen wollte, widersprach niemand von den 15 von 27 verbliebenen Studentinnen. Ich ließ danach eine so schnell und korrekt wie möglich von einer Studentin durchgeführte Dichterlesung zu Ende gehen und beschloss das Seminar vor dem regulären Ende.
Es kamen noch einmal fünf Studentinnen, getrieben von einem diffusen Schuldbewusstsein , zurück. Eine sagte, dass sie „solche Spielchen“, und sie nannte die zuvor durchgeführte Dichterlesung und das Menschenschattenspiel, „durch ihr Studium zu genüge kenne“. Ich blieb dabei, dass es ihre Entscheidung sei, in einem Seminar zu bleiben und Eigenes zu lernen, ohne sich zwingen zu lassen. Ich ließ sie die „Verantwortung zur eigenen Entscheidung“ üben.
Nun bin ich beileibe keine Dolores Umbridge oder ein langweilender Lehrer. Ich glaube, dass meine Seminare spannend genug sind, um offenes, oder freinetisches Lernen gut darzustellen und aktivierend anzubieten. Vor allem kann ich mein pädagogisches „Handwerk“, sehe mich gerne als Künstler eines ästhetischen Lernens und bin gerne ein glühender Demokrat.
Zu meiner Freude zeigte eine Gruppe der Studentinnen des zweiten Seminars keinerlei der beschriebenen Anzeichen. In ihr war die Reaktion vollkommen anders und positiv. Sie suchten die Nähe und das Wissen um für sie neue, kinderzugewandte Lösungen.
Nur diese eine, kaum erreichbare Gruppe, erprobte sich in einem anderen, von mir schwer zu verstehenden Anspruch.
In ihren abgegebenen Arbeiten spiegelte sich dann allerdings ein beiden Gruppen ähnliches Bild. Über die Hälfte der Studierenden des 7. Semesters versuchte im Sinne der vorgestellten Freinetpädagogik die eigene Haltung und Arbeit vorzustellen, diese zu erweitern bzw. zu verändern. Es gab viele Arbeiten, die mich erfreuten. Sie machten und machen Hoffnung.
Etwa ein Drittel führte (in altbekannter Manier), die eigene Arbeit beschreibend, den eigenen Willen zur Nichtveränderung vor. Mir fiel allerdings sofort auf, dass sie unbeteiligter denn je sind. Sie setzen keinesfalls ihre noch progressiven Richtlinien und Lehrpläne um, sondern folgen einer Vorstellung tradierter autoritärer Erziehung. Für sie „Neues“ bauen sie so lange um, bis das Gehörte in ihr bereits vorhandenes Weltbild passt. Besonders gerne machen sie Kinder jetzt „gemeinschaftsfähig“. Sie hinterfragen nicht mehr, welche Werte eine solche Gesellschaft hat. Sie reden nicht mehr von Demokratie und Lernen. Diese Worte sind eine wahre Rarität geworden
Einige präsentierten das eigene bereits unpädagogische Denken in einer offenen Kinder feindlichen gesellschaftlichen Art. Sie stellten „das Benehmen“, „Regeln“, „die eigene Arroganz“, ihre Lehrer*innenmacht vor das Verstehen von Kindern, vor deren Würde und Rechte.
Sie reden bei Kindern von „asozialem Verhalten“. Da wird gefordert, „dass die Kinder leise aufzeigen und nicht hinausschreien, sondern nur sprechen, wenn die Lehrperson/Leiterin ihnen das Wort erteilt“. Sie wollen „eine gewisse Ordnung vermitteln“. Sie schreiben: „Mir ist aufgefallen, dass einige Kinder bestimmte Gegenstände nicht wegräumen, obwohl ich es ihnen gesagt habe“. Lehrer geben mehr denn je Regeln vor, die Kinder „ohne Diskussion“ befolgen.
Eine Studentin erkennt: „ Ein Teil dieser Kompetenzen kann durch regelmäßige Übung und Anwendung in der Schule gestärkt werden. Dies ist nicht nur ein Aspekt der Pädagogik, sondern auch ein zentraler Bestandteil der Schulkultur, der sich weitergehend auch auf das Demokratieverständnis der Gesellschaft insgesamt auswirkt.“ Hier werden keine kindereigenen Demokratiemodelle im Lernen von Kindern aufgebaut. Werte werden vorgegeben, um sie einzuhalten.
„Zuerst sollte man für Ordnung sorgen … Auch lärmende Geschwister sollten wegegeschickt werden, damit das Kind nicht so leicht abgelenkt wird“. Sie überschreiten - aus ihrer Machtposition heraus als angehende Lehrerin - Grenzen gegenüber Kindern. Sie wenden Methoden an, die lange aus dem Repertoire von Pädagog*innen verschwunden sein sollten.
Mir wurde deutlich wurde, wie der Zusammenhang des Verhaftens und der Pflege alter Denkweisen als Nährboden für menschenfeindliche elitäre Ansichten entsteht.
Da gibt es kein Hinein in systemische, demokratisierte oder gar freinetische Sichtweisen von Lernen , Schule und Kita. Da steht keine Demokratisierung oder Realisation von Menschenrechten an. Diese Entwicklungen bestätigen leider meine letzten häufigen Besuche in der Republik Österreich.
Die Begriffe „Demokratie“ oder „Menschenrechte“ verschwinden nicht nur aus gesprochenen und geschriebenen Texten, sondern auch aus der Haltung und dem Handeln von Menschen. Sie verhalten sich wie geknechtete, aber zur Hilflosigkeit domestizierte Untertanen. Ein resignativer Rückzug ins Private und der Verlust gesellschaftlicher Aufmerksamkeit greifen um sich.
Und natürlich frage ich mich, ob ich zu empfindlich, zu übereilig, zu unpädagogisch, ungerecht gegen widerständige Menschen, im Eintreten gegen faschistische Entwicklungen zu lasch auftrete. Aber ich glaube, als „Nachkriegskind“, das inmitten eines immer noch existierenden Glaubens an Deutsches, den Führer und die Vorherrschaft von Menschen aufwuchs, das Recht des Wissens zu haben, wann die Herren wieder erfolgreich auf dem Vormarsch sind.
Und da ist es mein Recht mit Gandhi zu reagieren. Ich muss mich nicht ihrer Gewalt stellen. Ich sage aber laut, was ich mitbekomme.
Ich möchte in einem solchen „deutschtümelnden“ Land nicht mehr arbeiten. Der Sog als europäischer Demokrat zur „inneren und äußeren Emigration“ wächst.
„Die Suche nach "engagierten" Lehrer*innen ist passé, heute braucht man "professionelle" - solche, die nach Plan gelernt haben und diesen auch gegen Widerstand exekutieren, über alle Kinderköpf hinweg.“ (Christian Schreger, Wien 2019)