Walter Hövel
Haltung und Handlung

 

In dem einen Wort steckt der Halt. Ich brauche Halt. Ich will wissen, wo ich stehe. Es kann auch der Halt sein, der mich am Weitergehen hindert. In dem anderen Wort steckt meine Hand, mein eigenes Formen und Arbeiten. Ich habe aber auch „nur meine Hand im Spiel“. Ich brauche mehr. Mich!

 

Bin ich zu alt? Schreibe ich über „früher“, wie einige Freinet-Lehrer*innen behaupten? Sollte ich besser die Klappe halten, weil ich wirklich schon genug sagte. Übertrage ich nur 6 Jahre Altes auf die Schule von heute. Oder gibt es wirklich einen Backlash oder Stillstand?

 

Bin ich nur ein übrig gebliebener Linker, der nicht versteht, was heute abgeht, wie die neue Zeit tickt? Bin ich unzufrieden, weil ich mehr erreichen wollte? Wollte ich wie Schindler in „Schindlers Liste“ noch ein Menschenleben retten?

 

Was ich heute an der Uni mitbekomme ist nicht sehr beruhigend. Die meisten Lehrer*innen scheinen wenig begriffen zu haben. Viele Studies denken wie ich. Aber sie wissen nicht, wie sie ihr Wissen, ihre Haltung umsetzen - sollen. Habe ich versagt? Oder muss ich den jungen nur vertrauen? Besorge ich am liebsten tolle Aufsätze anderer?

 

Nur gegen schweren inneren Widerstand mache ich noch mit, Die Studies übrigens auch.

 

Oft weiß ich vorher, was ich nachher sage. Ja, und vielleicht werde ich ja noch 90? Soll ich 20 Jahre lang schweigen? So viel Altersschwachsinn oder Alterssturheit habe ich nicht.

 

Müssen die Jüngeren sich daran gewöhnen, dass 70jährige noch denken, immer noch handeln wollen. Immerhin werden immer mehr so alt und älter.

 

Und schließlich wurde ich nach einem verheerenden Krieg geboren. Schließlich gehöre ich zu denen, die als Konsequenz Demokratie forderten und fordern.

 

Schließlich gehöre ich zu denen, die ihre Kindheit nicht vergaßen, den Schrott und Schutt in den Köpfen der Alten. Schließlich hatte ich immer Rede-, Denk- und Weltsichtkontakt zu 7 bis 11jährigen, manchmal auch 15jährigen oder anderen Jungerwachsenen, die selber Kinder kriegen. Schließlich gibt es meine und anderer Leute Enkel.

 

Gibt es veränderte Zeit? Haben sich die Zeiten von einer aggressiv-rechthaberisch-militaristischen Männerherrschaft der die Politik , Wirtschaft, Bildung und Presse bestimmenden Familien zu einer repressiv-toleranten Familienherrschaft mit Werbung, Elektronik, Militär und Krieg verändert.

 

Hat sich eine öffentliche Meinung verbürgerlicht, weil die Prols (fast, oder in andere Länder) verschwunden sind? Das schlecht verdienende, weniger gebildete Volk ist aber massenhaft in den Kindergärten und Schulen, in Krankenhäusern und Armenheimen arbeitslos, bildungsarm, schlecht bezahlt und ohne Stimme, sehr wohl anwesend.

 

Oder schreibe ich nur zu viel und zu langatmig?

 

Es geht uns doch um so viel besser als noch vor hundert Jahren unseren Großeltern und Urgroßeltern. Sie verhungerten, verkauften ihre Körper um zu (über)leben. Ihren Geist vergeben sie auch noch. Ihre Zeit verkaufen sie öfter denn je.

 

Und ich meine nicht diejenigen, denen es damals schon gut ging. Wir haben es Kommunisten, Sozialdemokraten, linken Christen, linksdenkenden Intellektuellen und aufgeklärten Demokraten zu verdanken, wenn es heute mehr Wohlstand und Menschenrechte gibt. Nicht den Herren verdanken wir das. Sie mussten und müssen zu allem gezwungen werden, selbst zur eigenen Veränderung, notfalls von ihren Frauen und Kindern, meist von den „Verhältnissen“, nach ihren Irrtümern und Niederlagen.

 

Und wir, die Unterdrückten und Unterpriviligierten waren in den „entwickelsten“ Ländern der Welt nie in einer Regierungsmehrheit. Die letzte Niederlage des herrschenden Bürgertums war die Niederlage einiger Könighäuser in Frankrech, Indien, den USA, Deutschland , der Türkei oder Italien und die Niederlage ihres Faschismus.

 

Meistens kooperieren sie noch immer offen mit den Feudalen, wie in Skandinavien, England, Spanien, Canada, den Be-Ne-Lux-Ländern, Neuseeland oder Japan. Faschisten gingen noch weiter in die Geschichte zurück um ihre Morde, das Krieg zu führen, ihren Rassismus und ihre Fremdenfeindlichkeit zu begründen. Sie regieren heute in Ungarn oder den USA.

 

In allen Ländern und Armeen herrschen noch immer Familien, immer wieder mit Monarchisten und Rechten verbündet, oft seit Hunderten von Jahren die eigenen Kinder als Familien immer wieder unterbringen.

 

Haben sich nicht die Probleme verändert, sondern nur ihre Interpretationen, ihre Selbstwerbung, ihre Ideologien?

 

Haben wir nicht nur eine andere Form der Herrschaft, sondern auch einen anderen Inhalt der Knechtschaft? Wir arbeiten nicht mehr als Knechte in Fabriken und bei Militär, wir verkaufen heute arbeitend unsere Zeit.

 

Oder ist es das, was es immer war. Gehöre ich zu den revoluzzerhaften, punkischsten und linksdenkenden Leuten bei den Freinis, erst recht bei den Lehrer*innen.

 

Schließlich erklären die Freinis in 2020 auf ihrer Homepage das Gleiche wie vor 40 Jahren. Noch immer ist das selbt bestimmte Lernen der Lernenden nicht zum zentralen Punkt jeder Bildung geworden. Sie reden, bis auf einige, weiter drum herum. Noch immer wollen sie mit einander reden, um ihren Alltag auszuhalten. Noch immer wollen sie die besseren Lehrkräfte sein, die besser bei den Kids ankommen.

 

Noch immer tun Kinder und Jugendliche in Kindergarten und Schulen mehrheitlich was ihnen Staat und Erwachsene sagen. Sie üben nicht Demokratie, sondern erfahren sie in der eigenen Durchsetzung.

 

Wenige Lehrer*innen und Erzieher*innen wollen ihre Forderungen so machbar machen, dass sie als Reformen in Schule heute leichter sichtbar werden. Sie wollen Pädagogik für die unteren Schichten, für Flüchtlinge und Migranten. Zu viele liebäugeln aber lieber mit ihren Karrieren oder Computern. Gibt es mehr von ihnen, oder weniger? Viele von ihnen weigern sich in der Bildung andere Menschen zu verbiegen. Wieder andere wissen nicht wie das andere Handeln geht.

 

Die meisten von uns reden sehr elektronisch, frei und demokratisch. Das können wir. Aber können wir, vor allem Erzieher*innen und Lehrer*innen, auch so handeln wie wir reden wollen? Wir können uns im System und seinem Wollen bewegen, nicht in eigenen.

 

Sagen können wir alles, sogar rechten Schwachsinn. Das Tun, das Verändern überlassen wir gerne anderen. Wir schauen unsere Werbung, fahren Autos und in Urlaub, genießen unsere Supermarkteinkäufe und den Onlinekonsum. Wir leben in einer Demokratie und nutzen es es. Aber durchsetzen?

 

Seit gut 70 Jahren erlebe ich nun Kindergarten, Schulen, Hochschulen, Lehrer*innenbildung und Fortbildungen. Es hat sich manches geändert. Wir werden weniger geschlagen und können durch schulische Qualifikation mehr als früher.

 

Aber die Kränkungen, die soziale Aufteilung und die Verarsche gehen weiter. Die Lehrer*innen sind in der Mehrzahl keine Nazis oder Monarchisten mehr, die dich zum Gehorchen erziehen Sie sind nun grünliche Staatsdiener, die dich zum Funktionieren bringen.

 

Geht's nicht weiter? Viele Kinder lernen heute mit eigenen Themen und Fragen. Viele schreiben freie Texte und befassen sich auch in der Schule mit der Veränderung von Welt. Vieles von dem, was wir erreichen wollten wird in Kindergärten, Grundschulen, einiges in Hochschulen, wenig in der gegliederten „weiter“führenden Schule gemacht.

 

Viele verändern ihre Ernährung, ihre Umwelt, ihr Essen, ihren Sport, ihre demokratischen Rechte, ihre Ausbildung und Bildung, ihre Education, den sexuellen Missbrauch, ihre Jugend oder ihre Rechte. Wir kümmern uns um die Rechte von Frauen, Homosexuellen, Flüchtlingen und „Ausländern“.

 

Leben wir im besten Land der Welt, weil bei uns weniger Rassismus, Ausbeutung, Armut, Fremdenhass oder Kinderfeidlichkeit herrscht? Wir isolieren uns gesund. Unser Leben ist relativ isticher. Orwell hat unsere Gegenwart als Zukunft mit „1984“ gut beschrieben

 

Vieles ist nicht unsere Aufgabe. Gute*r Politiker*innen sorgen für Events, weniger Schlaglöcher, pünktliche Züge und … Sicherheit, Zufriedenheit, Wohlstand, schöne Häuser und Menschen.

 

Seit über 40 Jahren erlebe ich nun aktiv Fortbildungen, Weiterbildung und Ausbildungen. Ich mache sie mit und biete sie selbst an. Heute geschieht dies gezielter. Die Gebiete der Fortbildung sind systembezogener. Sie wurden von Verlagen, Stiftungen, der Industrie und den Schulen selbst übernommen.

 

Ich erlebe die Nachqualfizierung der Menschen, ihre ständige Modernisierung. Das geschah bei mir mehr als ich noch arbeitete und vorher noch selbst in der Ausbildung. Lebenslanges Lernen war eine Aufgabe meinerselbst, gestützt von denen, die mich arbeiten ließen.

 

Jürgen Koch1, ein ehemaliger Konrektor der Grundschule Harmonie, sagte einmal: „“Was du nicht innerhalb von 14 Tagen nach einer Fortbildung umsetzt, ist weg!“ Sind 14 Tage eine „normale“ Verfallzeit von Haltung und Veränderung?? Ist die meiste Fort- und Weiterbildung unnötige Liebesmüh? Muss unsere Aus- und Fortbildungsarbeit sein, nur um den vorhandenen Prozentsatz „fortschrittlicher Pädagogen“ zu erhalten? Dient Fortbildung dem eigenen Kräfteerhalt? Macht es nichts als die notwendige permanente Innovation eines immer älter werdenden Systems.

 

Es ist eine uralte Weisheit, dass sich Teile der Herrschenden um die Vorherrschaft ihres Weges streiten. (Marxisten reden von antagonistischen und nicht antagonistischen Widersprüchen.) Das Volk soll bei den nicht grundsätzlichen Widersprüchen für Mehrheiten sorgen, von den wirklichen Widersprüchen aber möglichst wenig wissen.

 

So werden gewünschte Haltungen gefördert. Handeln wird von Mehrheiten geduldet . Wir obliegen der „Kraft des Faktischen“.

 

So erleben wir immer wieder in der Bildung die Durchsetzung von Veränderungen, auch Reformen genannt und dagegen den Erhalt Bestehendes, auch Reformen genannt.

 

Aber die Räder der Veränderung drehen sich für den Insider langsam, nicht nur in Kirche und Schule. „Es geht alles seinen sozialistischen Weg“ war ein wichtiger Satz der Veränderung oder Nichtveränderung eines „Realen Sozialismus“. Heute wissen wir, es kann auch zurückgehen, wenn es vorwärts geht.

 

Seit gut 40 Jahren arbeite ich in der Lehrerinnenbildung. Ich erlebte aberhunderte von jungen Kolleginnen und Kollegen, die (fast) alle eine demokratische Grundhaltung zeigten, die fair sein wollten, Schüler zentriert auf Kinder achten wollten,… Und was wurde aus ihnen? „Normale“ Lehrerinnen und Lehrer, geprägt vom Beruf, geprägt vom bestehenden selektiven, kontrollwütigen und misstrauenden Schulsystem. Sie kehren zum Lehren und Erziehen zurück.

 

Oft hast du das Gefühl, du arbeitest als Don Quijote und Sancho Pansa gegen Windmühlen. Du arbeitest gegen den Wind. Du musst lernen gegen den Wind zu segeln. (Das sagte Wolfgang Mützelfeld,)

 

Ich sah alle Arten von Versuchen. Die mit Strenge, Notendruck und Belohnungen, Schleifen, die mehr Praktischen, die mehr Wissenschaftlichen. Ich sah rezeptive Ansätze wie bei Montessori oder demokratische wie bei Freinet. Ich sah eher naturwissenschaftlich basierte und eher von Ästhetik und Theaterspiel beeinflusste. Ich sah fachdidaktische und psychologisch, die politischen oder die systemischen Ansätze. Ich sah die Lernwerkstätten- oder Medienbasierten, die von Netzwerken oder Stiftungen ausgingen, von den Kirchen und die staatlichen, oder etc etc

 

Unsummen werden ausgegeben, nur um die Weiterqualifikation (nicht genügend für die gegenwärtigen Anforderungen) durch gleich mehrere Ausbildungen mit Kindergarten, Pflichtschulzeit, Oberstufe, Studium und „Lehramtsanwärter“zeit fortzuführen.

 

Aber was ist rausgekommen?

 

Die Kindergärten haben sich gewaltig gemausert. Hier sorgen private Träger für eine Professionalisierung, die aber sehr verschieden verstanden wird. Nicht weniger erfolgreich ist – im Gegensatz zu allen auf sie folgendn Schulen, wie die Grundschulen. Sonderschulen und Ganztagsschulen.

 

Nicht die Köche bestimmen, was sie zu essen anbieten, sondern sie müssen kochen, was die Gäste wollen. Das wiederum bestimmen, die die mehrheitliche Meinung machen. Nicht die ökologischen Wissenschaftler bestimmen, was gesund ist, sondern die gemachte Nachfrage und zuerst das genehmigte Geschäft. Heute wird Gesundes propagiert und ungesunde Massenware mit einem hohen Profit verkauft.

 

Doppelmoral wie in der Bildung. Die Haltung wird produziert, aber nicht die Handlung dazu gefördert. Da wird eine Grundschule Harmonie zugelassen, ihre Existenz aber bekämpft.

 

Nicht das Grundgesetz bestimmt, was demokratisch ist, sondern die Banker, Politiker und Geschäftsleute. Nicht der Mensch bestimmt, sondern seine Herkunft. Nicht die Bildung, sondern Test, Note und Bildungsabschlüsse.

 

Wenn wir mehr wissen, führt dies noch lange nicht, dazu, dass „wir“ uns als Gesellschaft anders verhalten.

 

Anders verhalten tun wir uns erst, wenn wir mit einem bewussten Einsatz von Anders-Handeln reagieren. Ist das lernbar?

 

Ich bin verführt optimistisch zu sein, da Menschen alles lernen können, was sie einmal begriffen haben. Schließlich haben sie dieses „Packende“ bereits mit ihrer emotionalen Bereitschaft zur Begeisterung für eine Veränderung angepackt, bzw., ergriffen. Es gilt das Be-Greifen abzusichern. Dies geht nur durch unser Tun.

 

Ich folge nicht den Theorien der Verhaltensänderungen durch Persönlichkeitsbrechung, Drill, Zwang oder behavioristische Belohnung.

 

Ich gehe von dem Konstrukt aus, dass jemand, die Haltung, die in einer Fortbildung für sich gewonnen hat, behalten und in der Schule erfolgreich umsetzen will.

 

Demokraten weigern sich oft ihre Haltung in Handlung umzusetzen. Wer ermutigt sie denn auch dazu?

 

Viele Fortbildungen hatten den Sinn meiner eigenen Sinnfindung. Ich sollte mich fithalten, noch Lust mit gleichen Gesinnten erfahrend rauskommen aus dem Alltagstrott. Heute geht das anders, über Elektonik, Werbung, Konsum,...

 

Ist nicht die Erhaltung gesellschaftlicher Selektion wichtiger als Bildung für alle. Schließen die großen Parteien nicht ein Bündnis, wo sie sich verpflichten einen „Schulfrieden“ zu bewahren, also Schule so zu lassen wie sie ist.

 

„Keine tiefgreifende Schulreform bis 2025 - das haben die in Hamburg regierenden Sozialdemokraten und Grünen kürzlich mit der CDU/FDP-Opposition vereinbart ... An der bestehenden Struktur aus Grundschule, Stadtteilschule und Gymnasium soll bis dahin nichts verändert werden. 2010 war eine vom damaligen CDU-Grünen -Senat geplante Schulreform gescheitert. In einem Volksentscheid zur Einführung der sechsjährigen Primarschule sprach sich eine Mehrheit gegen das Projekt aus. “2

 

Das Gymnasium als Garant der sozial und pädagogischen Ungerechtigkeit in Deutschland bleibt erhalten.. Du darfst weiter reden, aber nicht handeln. Die unser politisches System tragenden Parteien sind sich einig! Hier wird Handeln verboten. Die Parteien, die Wirtschaft und die „Mehrheit“ der Wähler*innen sind sich einig. Dort, wo es die Wähler*innen nicht sind, werden sie vom Erhalt eines gegliederten Bildungssystems überzeugt.

 

Dass das Volk von anderer Bildung überzeugbar ist, beweisen alle nicht deutschsprachgen Länder der Erde. Sie kennen zumindest ein längeres Zusammenbleiben aller Kinder. Die demokratischen Grundrechte werden eher anerkannt, mehr Geld für Bildung ausgegeben.

 

Oder um es böser auszudrücken: Es gibt auch andere Wege um die Herrschaft von Familien , Militär und Wirtschaftskonzernen zu garantieren. Sie bestimmen den Umschlag von Haltung in Handlung. Deutschland ist in sehr vielen Belangen sehr konservativ.

 

Vielleicht sind Haltung und Handlung auch gar nicht immer in der Reihenfolge erst "gute Haltung" führt zu einer "verbesserten, menschlicheren Handlung" zu sehen. Vielleicht handeln schon einige Menschen besser als sie reden. Der umgekehrte Vorgang ist oft in Politik, Bildung und Wirtschaft anzutreffen. Vielleicht haben die beiden Begriffe auch recht wenig mit einander zu tun.

 

 

 

 

1Schulleiter der GGS Heiligenhaus, ehemaliger Konrektor an der Grundschule Harmonie