Walter Hövel
Du oder Sie
Als wir die Grundschule Harmonie in Eitorf um 1996 gründeten, diskutierte das Kollegium lange, ob es sich „von den Schüler*innen duzen lassen“ wollte. Es schien sehr wichtig.
Das Resultat war, dass wir dies den einzelnen Beziehungsmomenten und -entwicklungen zwischen Kindern und Erwachsenen überlassen wollten. So ging es mir in den ersten Jahren der Schule so, dass Kinder einmal „Du, Walter“ zu mir sagten und andere „Sie, Herr Hövel. Aber die Mischelemente entstanden genauso schnell mit „Herr Hövel, kannst du mal“ oder „Walter, können Sie mir…“. Den anderen Kolleg*innen ging es nicht anders.
Oft gab es „schwierige Situationen“, wo Eltern ihre Kinder darauf hinwiesen, dass sie zum Herrn Lehrer Sie zu sagen hätten. Oft erklärten wir, dass wir ein „Du“ vereinbart hatten.
Aber mit den Jahren kam es so, dass alle Kinder die länger als ein paar Tage bei uns waren uns alle mit „Du“ und dem Vornahmen ansprachen. Wir kamen darauf, dass das an uns selbst lag. In den Versammlungen, auf den Gängen und während der Arbeit hörten die Kinder immer, wie die Lehrkräfte sich mit Vornamen und „Du“ ansprachen. Sie übernahmen das.
Ich komme aus einer Generation, die nach dem Krieg inmitten eines Wirtschaftswunders allmählich begriff, welche Verbrechen viele der eigenen Eltern und Großeltern, Lehrer, Richter oder Film- und Fernsehstars in der Nazizeit begangen hatten. Wir versuchten mit vielen Mitteln uns von dieser Generation zu lösen. Eines dieser Mittel war, ihre aufgesetzte Autorität dadurch zu durchbrechen, dass wir uns anders kleideten, andere Lieder sangen, anders dachten, anders sprachen und alle mit „Du“ anzusprechen, die wir für Freunde hielten. Das „Sie“ blieb jenen, die wir für unverbesserlich und altbacken hielten. So sprachen unsere gymnasialen Lehrer uns bis zum Ende der Mittelstufe mit „Du“ an, wir mussten sie – bis auf ganz wenige Ausnahmen – bis zum Abitur siezen.
Wir begannen für die Gleichwertigkeit aller Menschen einzutreten. Unterstützt wurde dies durch die Tatsache, dass wir – im Gegensatz zu den Alten – lernten, Englisch zu sprechen. Diese Sprache hat das „Sie“ schon lange abgeschafft und kennt für alle nur das „You“. Selbst französische Kinder, so lernten wir, begannen auch ihre Eltern nicht mehr zu siezen.
„Der Alt68iger“, gesponsert durch die rheinische Mentalität, griff gerne und schnell zum „Du“. So ist es bis heute schick, weil „demokratischer“, in den etwas progressiveren Gesamtschulen sich als Kolleg*innen mit „Du“ anzusprechen. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche in den Klassen und auf dem Hof. Gerade in einer solchen Gesamtschule hatte ich kurz bevor ich Leiter einer Grundschule wurde in einem Konflikt mit dem Schulleiter laut gesagt, ich wäre froh, wenn ich ihm das „Sie“ anbieten könnte. Dieses „Du“ war und ist in einer Schule die staatliche Pflichtveranstaltung mit Selektion, Fremdbewertung, Sitzenbleiben und die Stoffvorgaben pflegt, zumindest problematisch.
Wir begannen als Kollegium bereits um 1995 darüber nachzudenken Schule anders zu machen. Wir begannen darüber nachzudenken, dass „hergebrachtes Lernen“ nicht durch eine „nettere“ Art der Lehrpersonen und der „schöneren“ Gestaltung eines Schullebens zu kaschieren ist. Wir autonomisierten das Lernen. Wir begannen den Kindern ihre eigene Verantwortung beim Lernen zu geben. Dazu mussten wir sie als „wertvolle Menschen“ ansehen. Allmählich begriffen wir, dass es nicht darum ginge, alle Menschen für gleich „wertvoll“ zu halten. Dies ist zu oft nahe an „Verwertbarkeit“, „bewerten“ oder „Wertverlust“. Echte Wertschätzung brauchte ein würdigeres Lernen. Echte „Würde“ jedes Menschen beginnt mit den Inhalten und der Art des Lernens.
Nicht die Ansprache mit „Du“ oder „Sie“ verändert die Verhältnisse, sondern die Art und Weise des Handelns auf der Grundlage eines demokratischen Miteinanders. Erst wenn du ernst genommen und geschätzt wirst, wenn du würdig und in Augenhöhe behandelt wirst, wenn du selber entscheidest und dein SelbstWERTgefühl in deiner eigenen Wirklichkeit erfährst, ist das „Du“ kein Problem mehr.
„Unsere“ Kinder sprachen uns – uns vertrauend - mit „Du“ an.
Schwieriger war es mit den Eltern. Bei manch einem ist es wichtig, dass er oder sie erst überhaupt einmal mit „Sie“ angesprochen wird. Dies erfahren häufig Menschen aus anderen Ländern, Bedienstete und Untergebene und eben jüngere Menschen.
Für viele Erwachsene, auch Lehrer*innen, ist das „Du“ Ausdruck von Geringschätzung, Oberflächlichkeit, Unverbindlichkeit oder Kungelei. Wir spürten es, wenn einige Eltern uns - ohne uns zu fragen - mit „Du“ ansprachen oder es einer Kollegin nutzbar schien, um ihre Frauenrolle bei einem konservativen türkischen Vater aufzuwerten.
Ich achtete darauf, dass ich nicht alle Eltern mit „Du“ ansprach. Ich machte so etwas durch langes Kennen oder großes Vertrautsein zur Vereinbarung. Oft half ein „Sie“ in prekären Situationen, wo es galt etwas durchsetzen zu wollen. Manchmal verlangsamte es auch Prozesse, was ihnen nicht unbedingt schadete.
In Reden oder Ansprachen benutzte ich beide Formen. Ich sprach die Erwachsenen mit „Du“ und „Sie“ an. Ich wechselte also nicht, - wie ich es später einmal bei einer „neuen“ Schulrätin erlebte, - in das „Sie von Amtswegen“ zurück.
Entscheidend ist, allen Menschen, jedem Kind, jedem Erwachsenen und sich selbst die Würde zukommen zu lassen, die jede*r hat und braucht. Unsere Sprache wird das „Sie“ in dem Maße abschaffen, wie sich Inklusion, Demokratie und Menschenrechte durchsetzen.