Walter Hövel
Fräulein Schmitz, meine Volksschullehrerin

 

Wahrscheinlich liegt der Ursprung meiner pädagogischen Einstellung in meiner Grundschulzeit.

Meine Lehrerin damals, 1955 bis 1959, hieß „Fräulein Schmitz“.

Sie war unverheiratet, passend zur Zeit. Sie lebte keine 100m von der Schule weg mit einem Mann zusammen. Ich ging nach der Schule zur Frau Kolinski in meiner fast zwei Kilometer entfernten Siedlung und später zu Tante Lenchen noch 100m weiter, vorbei am Haus von Fräulein Schmitz, in einem Eckhaus mit Garten. Meine Eltern gingen beide arbeiten. Diese Straße von Tante Lenchen ging um einen großen Bunker herum, den ich aber niemals, weil verschlossen, betreten habe.

Der Freiheitsring hieß entsprechend vorher Adolf-Hitler-Ring, Friedrich-Ebert-Ring und Kaiser-Wilhelm-Ring. Das Haus meiner Lehrerin habe ich mehrmals besucht. In ihrem Garten hatte sie viele große Vogelkäfige, in denen ein Uhu, Eichelhäher und andere Vögel lebten. Wurde ein Vogel verletzt gefunden, brachte man ihn zur Frau Schmitz, um ihn wieder aufzupäppeln.

Der Klassenraum von Fräulein Schmitz war für mich riesengroß. An der Wand hingen kleine Bilder mit Buchstaben und Wörter. Ich erinnere mich an einen grünen Apfel und das A und ein Glas mit roter Marmelade, mit dem Wort Marmelade und dem M. Es waren drei Reihen Schulbänke darin. Links und rechts gingen je zwei Kinder in eine Bank und ich glaube in der mittleren Reihe drei.

Irgendwo links in der hinteren Mitte saß ein Junge, der immer eine Trainingshose trug. Ihm wurde nachgesagt, dass er sich im Unterricht regelmäßig „einen runterholte“.

Im ersten Schuljahr saß neben mir Ulrike, die Tochter eines alten Nazis und Fabrikbesitzers. Sie war meine große Liebe und ich spielte gerne mit ihr in ihrem Park ähnlichem Garten, in deren Mitte ihre Villa stand. Darin war ein Gartenhäuschen, das wie ein Fliegenpilz aussah, und es war so angemalt. Manchmal saß ich auch mit dem Bruder Peter in der Küche, die einen Eingang vom Garten hatte. Er hatte Prinz-Eisenherz-Bücher. In der großen Garage lag der Motor einer Horch-Limousine. Ich liebte es mit Ulrike in ihrem Garten zu balgen. Oft spielten wir in ihrer Tonröhrenfabrik. In der Mitte war eine Hütte, wo ein Künstler Kunstwerke aus Ton herstellte. Kaum etwas hat mich mehr fasziniert.

Als sie zu Beginn des zweiten Schuljahres einfach weg war, - sie war weit weg zu ihrer Mutter gezogen -, interessierte mich Schule nicht mehr. Ich trug an dem Tag zufällig ein schwarzes Hemd und wurde fortan von den über 50 Klassenkameraden „Trauerhemd“ genannt.

In der Klasse gab es Fleißkärtchen, aber selten oder nie für mich. Ich stand oft in der Ecke, vorne rechts von der Tafel, mit dem Gesicht zur Wand. Sport war auf dem Schulhof. Ich weiß nur noch, dass ich nicht mit geschlossenen Füßen auf eine Holzbank hüpfen konnte.

Ende des zweiten Schuljahres stellte meine Mutter fest, dass ich gar nicht lesen konnte. Ich hatte die Fibeltexte einfach auswendig gelernt, um nicht aufzufallen. Meine Mutter gab mir Tageszeitungen und forderte mich auf, die Überschriften zu lesen. So lernte ich lesen.

Etwa zur gleichen Zeit starb mein Onkel Hans. Als die Totenglocken läuteten, muss ich verträumt zum Fenster des Klassenraums hinaus geschaut haben. Das fiel meinem Fräulein Schmitz auf. Sie sprach mich an und stellte fest, dass es mein Onkel war, der beerdigt wurde. Er war einer ihrer besten Freunde. Seitdem kannte sie mich und förderte mich. Meine befriedigenden Noten verwandelten sich in Sehrguts.

Nach der Schule sollte ich da bleiben und sie ließ mich mit Plastilin Vögel basteln. Ich baute aus Ton große Figuren für unsere Schulkrippe im Flur. Ich baute mit meinen Eltern, bzw. mit der Hilfe von Fräulein Schmitzens Mann für ein Theaterstück einen großen Bass. Mein Satz im Theaterstück hieß „Heinrich, mir graut's vor dir“, was irgendeine politische Anspielung war, ich aber nicht verstand.

Der Höhepunkt der Schule war ein Schulgarten, der auf der anderen Seite des Freiheitsringes etwas höher westlich auf der anderen Seite der Schule war. Hier lernte ich Stachelbeeren zu pflücken und Spargel zu stechen.

In meiner Erinnerung war die Volksschule zumindest die letzten beiden Jahre eine schöne Zeit. Wahrscheinlich hat sich hier in einer wohl ganzheitlichen Reform orientierten Schulzeit mein Grundmuster wie Schule sein sollte, herausgebildet.
Ende des vierten Schuljahres wollten meine Eltern–heute würde man von einer  „bildungsfernen Unterschichtenfamilie“ sprechen - mich sensationeller Weise an der Realschule, der damals höchsten Schulform in meiner Heimatgemeinde Frechen, anmelden. Meine Klassenlehrerin, Fräulein Schmitz, widersprach heftig. Sie wollte mich am Gymnasium sehen. So machte ich zu Köln eine gymnasiale Aufnahmeprüfung für Nachzügler am Hansagymnasium.

Ich kam zum Humboldtgymnasium in die Kölner Südstadt. Hier begann an einer „reinen“ Jungenschule mein Leidensweg mit Schlägen und Demütigungen bis zum Abitur 1968. Erst viel später habe ich verstanden, dass ich als „Arbeiterkind“ die „höhere Schule“ geschafft hatte und wohl doch nicht so „doof“ war, wie viele „meiner“ Lehrer mich glauben lassen wollten.

Ich mochte die meisten Lehrer nicht. Einzelne halfen mir weiter. Ich wusste bald, dass ich als erster Mensch meiner Familie Lehrer werden wollte. Ich wusste schon in der Volksschule, dass ich Englischlehrer werden würde, obwohl ich gerade mal die Wörter Yes, No, Chewinggum und Cowboy kannte. Spätestens im Studium wurde mir klar, dass ich ein Lehrer werden wollte, der ohne Zwang mit Menschen gerne lernt.

 

Ich hatte nie etwas für gymnasiales erzwungenes Lernen übrig. Mein inneres Vorbild blieb „mein Fräulein Schmitz“ vom Freiheitsring in Frechen.