Walter Hövel
Ritalinkinder

 

 

 

Es gibt zwei Anzeichen für Ritalinkinder. Sie sind ohne das Arzneimittel „Speedies“, immer unterwegs, unberechenbar, manchmal aggressiv und oft pfiffig - und, sie haben verzweifelte Eltern, die den Eindruck erwecken, ihre Hilflosigkeit endlich bei der Schule loswerden zu können.“

 

Diese Beobachtung stimmt natürlich genauso wenig, wie die erste und die Kategorisierung „Ritalinkinder“ oder „Sonstwie-Kinder“! Schon vor zehn Jahren wurde der pädagogisch total falsche Begriff der „Inklusionskinder“ geboren.

 

 

Fakt ist, dass wir uns als Gesellschaft über die Begriffe „Zappelphilipp“, „minimale cerebrale Dysfunktion als MCD“, „Hyperaktivität“, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom als ADS, Aufmerksamkeitsstörungen/Hyperaktivität zum Sammelbegriff Aufmerksamkeits-Defizit- Hyperaktivität - Störung als ADHS durchdefiniert haben.
Wir, die Gesellschaft, nennen sie auch autistische, hypersensible, Neurodiversitäre Störung oder anders.

Auf jeden Fall brauchen wir Schubladen unseres Denkens, um die anormalen oder gar abnormalen Kinder „wegstecken“ zu können . Dann diagnostizierten wir „Förderunterricht“ und lassen die Gesellschaft AOSF-Verfahren und ihre Folgen zahlen. Sie bekommen extra Förder-Sonder- oder Hilfsschulen, Integrationshelfer oder Schulbegleiter. Einige Ärzte verschreiben Ritalin. An Ritalin verdient die Wirtschaft. „Ritalinkinder“ sind Kunden einer privaten „Gesundheitsversorgung“ oder anders, sie „leiden an an Krankheiten“.

Fakt ist, dass „diese Kinder“ weder Philipp heißen, noch zappeln, dass die Behauptung der cerebralen Dysfunktion nicht nachweisbar war. Wir konnten dies an der Grundschule Harmonie nach über fast zwei Jahrzehnten Arbeit mit Grundschulkindern feststellen.

Sie verfügen über eine andere Aufmerksamkeit und andere Aktivitätsmuster als andere. Dieses „Defizit“-Denken aufgrund der „schulischen „Diagnosen wird erst in einigen Jahren als lernkontraproduktiv erkannt und abgeschafft werden. Den Begriff der „Störung“ aber bearbeiten ernsthafte „Wissenschaften“ schon seit längerer Zeit „differenzierter“.

Zur echten Diversität oder Inklusion reicht es bei weitem nicht. Die Einsicht, dass jeder Mensch verschieden von einem anderen ist, wird länger brauchen.

ADHS gibt es nicht. ADHS ist keine Krankheit. Das Gehirn reagiert normal. ADHS ist nur für alle bequem.“
Gerald Hüther, Hirnforscher 2013

In der Tradition der deutschen Hilfs-Sonder-Förderschuldenkens wird weiter aussortiert, um dann die mühevolle Arbeit der Re-Integration betreiben zu können. Es wird so getan, als gebe es andere Fakten: „ADHS bzw. ADS, so wird eine schon “im Kindesalter beginnende, psychische Störung“ genannt. Symptome sind Aufmerksam-keitsschwäche, impulsives Verhalten und manchmal auch Hyperaktivität. Die Ausprä-gungen ist bei jedem Menschen unterschiedlich ...

 

Und nochmals Vorsicht!  Nicht jedes unaufmerksame, zappelige, Kind ist hyperaktiv bzw. hat ADHS! Es ist eben nur sehr verspielt, lebendig, lebhaft und reizoffen.1  Es ist nur anders als „unsere“ Theorie des durchschnittlichen zu beschulenden Menschen besagt. Leider machen solche Allgemein - und Mehrheits - Theorien noch immer unsere Bildung und Wissenschaft aus.

Wenn schon Kinder nicht mehr stören dürfen, dann doch wenigstens die, denen wir „Störungen“ nachsagen. Wenn Kinder nicht dem die Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit schenken, was Erwachsene ihnen vorgeben, haben sie eine „Schwäche“.

„Impulsives Verhalten“ gehört schon in den Verhaltensnegativbereich wie eine vielleicht „gesunde“ Reaktion auf eine nicht
intakte oder sogar kranke Schul-, Familien-, Kindergarten oder allgemein gesellschaftliche Umwelt, die eine eigene evolutions- entwickelte Begabung voraussetzt. Durch Unterforderung werden ablehnende Reaktionen hervorgerufenen oder bei einem bestimmten Prozentsatz aller Menschen vollkommen normal entwickelte Empfindsamkeit.

Hier wird etwas, ausgehend von einem überforderten oder künstlichem Bildungs- und Erziehungssystem, zu einer „Krankheit“ gemacht, woran private „Unternehmer“ viel Geld verdienen, anstatt eine gesellschaftlich notwendige Reform des Denkens, des Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungssystems konsequent anzugehen. Und auch hier wird der Weg der teuren Belastung der Öffentlichkeit und des Allgemeinwesens, an dem die private Wirtschaft „ordentlich“ verdient. Gemeint sind u.a. die horrenden Gewinne der Pharmaindustrie, der Nachhilfeinstitute, der Ärztekammern und der Versicherungen.

Noch übler wird es, wenn es zu einer „Verwechslung“ mit verspielten, lebendigen, lebhaften oder reizoffenen Kindern kommen kann. Welches Bild vom Kind, welche Vorstellung von den Menschenrechten steckt dahinter?

Ist es nicht ein Stück George Orwells „Some people are more equal“? Einige Menschen sind weniger defizitär als andere. Einige Menschen sind gestörter als andere. Also sind einige „gesünder als andere“. Einige haben mehr Geld für Medikamente als andere. Einige haben dann eine bessere ( weiterführende!) Schule verdient als andere. Einige haben mehr Geld für Nachhilfe als andere. Es gibt „eben“ Unterschiede in der Bildung!

Wir haben immer noch ein Schulsystem der inneren und äußeren „Leistungs“-Selektion. Immer noch passen sich Kinder der Schule, der Lehrerschaft und dem „Unterricht“ an. Es sollte umgekehrt sein, Schule, Bildung und Erziehung sollten sich den Menschen anpassen. Ritalin oder Förderschulen und -unterricht werden dann überflüssig.

Wir waren an unserer Schule seit Jahren eingefleischte Ritalingegner. Wir hielten nichts davon, dass es Eltern und Ärzte gibt, die Ihre Kinder zwecks Anpassung per Drogen „stilllegen“. Wir wussten, dass es Eltern gibt, die ihren Kindern Ritalin geben, damit sie es als Eltern nicht so schwer haben. Sie lösen oft den Widerspruch zwischen Hausbau, beidseitiger Arbeitsbelastung, womöglich noch unter Billiglohnbedingungen, Angst um die Jobs, die Beziehung und die Zukunft auf der einen Seite und der Notwendigkeit das Kind in Ganztagshort und Schulbetreuung abgeben zu müssen. Sie alle passten so ihr Kind an ein Leben mit Ritalin.

Vielen machten wir klar, dass sie mit einer solchen Grundhaltung an unserer Schule falsch waren. Anderen Kindern halfen wir auch gegen ihre Eltern oder das bestehende Schulsystem.

Dabei schreien Kinder nach Achtsamkeit, die jeder Mensch als Mensch verdient. Es nutzt nichts die Ohren zuzuhalten, um nichts zu hören. Wir müssen ihnen nicht Lehrer*innen geben, die selber vor Verzweiflung schreien. Es liegt oft bei Lehrer*innen an doch-noch-Schule-spielen-wollen. Das Verhalten aller Kinder ist auszuhalten. Es geht nicht darum, betroffenen Kindern ihren Schmerz oder ihre Reaktion abzugewöhnen. Keine Zuckerl oder andere Belohnungen müssen wir ihnen geben, damit sie sich in einer nicht veränderbaren Schule verändern. Nicht schreien lassen oder glauben, dass sie gar nicht schreien, oder dass das Schreien dazu gehört. Kinder brauchen nicht noch mehr Schule und Zwang. Sie brauchen mehr Raum und Zeit zum Lernen, zum Leben. Wir, die Erwachsenen und Mitschüler*innen können anders mit ihnen lernen. Wir finden raus wie es geht. Sie bestimmen ihr Lernen selbst. Sie haben jetzt einen Grund für ihr Verhalten.


Und was schreiben Ärzte, Wissenschaftler und Psychiater im Netz?

„Leider landen manche dieser Kinder trotz normaler Intelligenz auf der Förderschule für Lernbehinderte (früher Sonderschule) und ergreifen später ungelernte Berufe. Neben den Auswirkungen der ADHS in der Schule wird in der Regel das Zusammenleben in der Familie stark beeinträchtigt. Das Verhältnis der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu ihren Geschwistern ist oft durch Konflikte belastet. Die Scheidungsrate von Eltern mit ADHS-betroffenen Kindern ist deutlich erhöht.
Die von ADHS betroffenen Kinder und Jugendlichen wünschen sich durchaus besser lernen zu können, mit anderen Menschen besser auszukommen und weniger Probleme zu haben. Die Ablehnung der Mitmenschen kann zu psychischen Folgen in Form von mangelndem Selbstwertgefühl, sozialem Rückzug, Depressionen, Drogenproblemen bis hin zu erhöhter Selbstmordgefahr führen. Darüber hinaus weisen ADHS-Patienten eine erhöhte Unfallgefahr auf, weil sie aufgrund ihrer gestörten Informations-verarbeitung Handlungen nicht planen und Gefahren nicht richtig einschätzen können.“2
Andere schreiben: „ADHS Kinder sind genauso intelligent wie andere Kinder. Leider können sie durch ihre Besonderheit ihre Kapazitäten oft nicht voll ausschöpfen. Manchmal treten zusätzlich Teilleistungsschwächen auf, die ebenfalls behandelt werden sollten. Ein heilpädagogisches Förderkonzept zur Behandlung von Rechenschwäche bei ADHS finden Sie auf der Seite http://www.matheschwaeche.de Manchmal verringern sich die Probleme beim Älterwerden. Aber nicht immer wächst es sich aus. Viele Menschen erkennen auch im Erwachsenenalter erst, was ihnen in der Kindheit das Leben erschwert hat.“3

 

Alle diese Menschen gelten in der offiziellen Einschätzung als „schwach“. Sie sind nicht normal. Es liegt an den Menschen. Nie liegt es an der Gesellschaft. Diese Menschen sind krank. Wir haben höchstens Verständnis für sie. Das schafft unsere Schule nicht. Aber sie ist zu schaffen. Alle, die diese Schule nicht schaffen, sind „schwach“.

Was ist, wenn sie es nicht sind, wenn alle Menschen schwach und stark, behindert oder sportlich sind. Was, wenn es all diese Kinder nicht als Kranke oder Abnorme gibt, was, wenn diese Menschen nur die verschiedenen Spektren von Milieus sind?

Was, wenn unsere Bildung umgeschrieben, umgepolt, verändert werden muss. Was, wenn Erziehung und Bildung demokratisch, inklusiv und diversitär sein können?

Die Grundschule Harmonie konnte sich zumindest solche Fragen stellen.

 

 

 

3ebenda