Tanja Klassen
LERNEN

 

1. Motivation

 

Seit längerer Zeit interessieren mich vor allem die neurobiologischen Fortschritte zum Thema Lernen. Es hat mich zum einen fasziniert, zu entdecken und zu erforschen, wie Kinder lernen, was beim Lernen im Gehirn vor sich geht und wieso Kinder verschieden lernen. Wieso lernen Kinder nicht gleich, warum nehmen Kinder Situationen unterschiedlich wahr? Zum anderen hat Lernen viel mit Beziehung, Bedürfnissen, eigenen Erfahrungen und Interesse zu tun, eben nicht mit einer gleichschrittigen Vermittlung von Wissen. Ich möchte ein Plädoyer halten für die Umsetzung der Forschungsergebnisse in Schulen.

 

2. Gliederung

 

Es gibt einen theoretischen und einen praktischen Teil. Zunächst möchte ich der Frage nachgehen, wie Kinder lernen. Hierbei werde ich besonders auf die neurobiologische Forschung eingehen und diese mit der lernpsychologischen Sicht des Konstruktivismus verknüpfen. Anschließend war für mich die Frage „Wie kann/muss man diese Erkenntnisse in Schule umsetzen?“ von großer Bedeutung. Zum Schluss werde ich ein Fazit ziehen.

 

3. Wie lernen Kinder?

 

Kinder lernen pränatal, d.h. nicht erst von Geburt an. Sie sind von Natur aus entdeckerfreudig, neugierig und wollen ihre Welt kennenlernen, sie wollen lernen. Im Laufe der Zeit lernen die Kinder laufen, sie lernen sprechen, sie lernen, wie man sich zu benehmen hat, um nur einige Beispiele zu nennen. Aber wie funktioniert das? Das Gehirn müssen Sie sich wie eine Zwiebel vorstellen. Im Inneren sitzt das Stammhirn.

 

Dort findet man Instinkte, Reflexe, das Atemsystem. Eine Schale darüber befindet sich das Limbische System, das für Gefühle und Stimmungen zuständig ist. Noch eine Lage weiter ist die Großhirnrinde. In der Großhirnrinde sind das Denken, Sprache und Handlungsprozesse gespeichert. Das gesamte Gehirn besteht aus über 100 Milliarden Nervenzellen, Kinder haben von Geburt an weitaus mehr Gehirnzellen als Erwachsene. An eine Nervenzelle können bis zu 10.000 Synapsen angeknüpft sein.

 

Durch das Auge, die Ohren, die Nase, die Hände z.B. kommen elektrische Impulse ins Gehirn. Sobald Impulse bei unterschiedlichen Synapsen ankommen, wächst diese Synapse. Je öfter ein Impuls bei Synapsen ankommt desto mehr Verknüpfungen entstehen. Manfred Spitzer spricht von Spuren. Es entstehen also Spuren zwischen den Nervenzellen, die je nach Gebrauch unterschiedlich breit sind. So lernt das Gehirn.

 

Impuls – Nervenzelle – Synapse – Synapse wächst – Nervenzellen werden verknüpft – Spuren entstehen. Mir stellt sich die Frage, was ist denn nun wichtig für das Lernen? Forscher haben herausgefunden, dass das Gehirn nur zu 70-80% genetisch ist, die restlichen Prozent füllt ein Lerner mit eigenen Erfahrungen. Selbst eineiige Zwillinge machen, sobald sie durch die Welt gehen und wahrnehmen, verschiedene Erfahrungen, d.h. es entstehen unterschiedliche Spuren im Gehirn. Mir ist aufgefallen, dass Spitzer und Hüther von verschiedenen Bs reden, B wie Beziehung, B wie Benutzerabhängigkeit, B wie Bedeutung und B wie Beobachtung. Um zu lernen ist das B wie Beziehung zu Menschen sehr wichtig. Zunächst ist es die Beziehung zu Eltern/Großeltern, im Schulalter die zum Lehrer/ zur Lehrerin.

 

Warum? Kinder lernen, wenn sie sich wohl und ernst genommen fühlen. Sie brauchen Vertrauen zu Menschen, von denen sie umgeben sind. Das spielt eine große Bedeutung für mich als Lehrerin. Das B wie Benutzerabhängigkeit heißt, diese Spuren von denen ich eben erzählt habe, immer wieder zu benutzen. Die Spuren müssen zu Autobahnen werden, werden sie nicht breiter, fallen diese Spuren wieder raus. B wie Bedeutung meint, dass Kinder ein eigenes Interesse, ein eigenes Bedürfnis haben müssen, um zu lernen. Intrinsische Motivation ist somit ausschlaggebend. Ich habe dazu ein Bild im Kopf. Ich als Lehrerin kann Kinder nicht zwingen, das zu lernen, was ich gerade möchte, was sie lernen sollen. Genauso wenig kann ich Kindern Hunger machen.

 

Kinder müssen entweder selbst von sich aus hungrig werden oder ich kann ihnen ein Brathähnchen unter die Nase halten und ihren Appetit anregen, d.h. ich kann ihnen ein Angebot machen und die Kinder können entscheiden, ob sie es annehmen.

 

Wichtig ist dann, dass aus dieser extrinsischen Motivation intrinsische wird. Das B wie Beobachtung bedeutet für schulisches Lernen sehr viel. Neurobiologen haben Menschen in die Röhre geschoben, um zu überprüfen, wann das Gehirn aktiv ist. Sie haben den Menschen einen Joystick in die Hand gegeben und eine Runde am Nürburgring simuliert. Im 1. Durchgang war der Tester der Fahrer, dessen Aufgabe es war, schnell und sicher ins Ziel zu gelangen. Im 2. Durchgang war der Tester Beifahrer. Was glauben Sie, wann mehr Hirnaktivität gezeigt wurde? Richtig, als Beifahrer.

 

Obwohl der Fahrer die handelnde Person ist, lernt der Nicht-Handelnde mehr. Auf Schule übertragen heißt das, dass Lernen unter Druck nicht stattfinden kann. Druck kommt im Limbischen System an und blockiert die Großhirnrinde, all das, was wir für das Lernen brauchen. Findet also ein Blackout statt, kann der Mensch nur noch auf das Stammhirn zurückgreifen. Emotionen spielen beim Lernen eine große Rolle. Verbindet man etwas mit negativen Emotionen wie z.B. Angst, geht der Mandelkern im Limbischen System an. Das Gehirn ist dafür gemacht, um Probleme kreativ zu lösen. Angst verhindert das Kreativsein. Bei Angst kann man Auswendiggelerntes aufsagen, jegliche Art der Kreativität ist blockiert. Heißt, Lernen muss mit positiven Emotionen verknüpft sein, um etwas leisten zu können. Unter welchen Gesichtspunkten muss Lernen stattfinden und welcher Umgebung bedarf es dann?

 

Zieht man jetzt eine Verbindung zur konstruktivistischen Sichtweise, erkennt man viele Verknüpfungen. Hier heißt es, dass Lernen die Umwandlung eines Reizes in Wissen auf Basis gemachter Erfahrungen ist. Das heißt, dass sich Wissen aus eigenen Erfahrungen konstruiert. Wissen kann nicht von einer Person vermittelt werden, da jedes Individuum das Aufgenommene anders wahrnimmt und konstruiert. Es ist somit wichtig, eigenständig zu handeln, um Wissen zu konstruieren. Auch Deci & Ryan sagen, dass Lernen nur durch das Engagement des Einzelnen selbst erreicht werden kann. Lernen ist angewiesen auf intrinsische Motivation und Selbstbestimmung.

 

4. Wie setze ich das in Schule um?

 

Die Richtlinien sagen, dass wir LehrerInnen die Fähigkeiten, Interessen und Neigungen der Kinder aufgreifen, Alltagserfahrungen miteinbeziehen, Verständnis für verschiedene Lernwege und Fehler als Lernprozesse sehen sollen. Es ist unsere Aufgabe, das individuelle Lernen und dessen Ergebnisse anzuerkennen und zu bestätigen.

 

Das heißt, dass sich die Richtlinien und die Lehrpläne auf den Weg machen, die Individualität eines jeden Kindes zu berücksichtigen. Kommt das in den Schulen an und wird es dort auch praktiziert? Wir müssen gewährleisten können, dass angstfreies Lernen stattfinden kann, dass eine positive Lernumgebung dazu anregt, weiter Lernen zu wollen und dass die Kinder sich von uns ernstgenommen fühlen. Lernen geht über Beziehung, es muss ein Vertrauen da sein. Es ist meine Aufgabe, Kinder in diesem Prozess zu begleiten und zu unterstützen. Ich muss die Kinder dazu ermutigen, ihr Lernen selbst in die Hand zu nehmen und eigenverantwortlich mit Lernen umzugehen.

 

Das Kind steuert seinen eigenen Lernprozess, indem es Schule entdeckend, eigenaktiv, offen und kooperativ erlebt. Ich kann Kindern Angebote machen, eine Methodenvielfalt anbieten, da Kinder mehrkanalig lernen, und Materialien bereitstellen, die verschiedene Lernertypen ansprechen.

 

Durch den Planungskreis, der in allen Klassen der Grundschule Harmonie 2x täglich stattfindet, organisieren und planen die Kinder ihr Lernen selbst. Ein Kind leitet den Kreis und fragt, was seine Klassenkamerad*Innen sich für heute vorgenommen haben. Sie stecken sich Ziele, an denen sie arbeiten. So wählen sie sich beispielsweise interessengeleitet ein Thema wie „die Dampflok“, „Bienen, Wespen, Hummeln“ oder „Australien“, welches sie bearbeiten. Zu Beginn erstellen sie beispielsweise Mindmaps, was sie über das Thema herausfinden wollen.

 

Für die Bearbeitung wird ihnen eine Medienvielfalt geboten. Sie forschen, sie recherchieren in Büchern und dem Internet, sie erstellen Fragen, halten das in einer Powerpointpräsentation oder auf einem Plakat fest, um der Klasse ihr Thema vorzustellen. Es entsteht eine Kommunikationskultur, die geprägt ist von Rückmeldungen untereinander.

 

Die Jahrgangsmischung 1-4 macht ein miteinander arbeiten und kommunizieren noch vielseitiger.

 

Harmonie versucht Lernen lebbar zu machen! Es gibt für mich viele Beispiele, die ich aus Harmonie mitnehmen werde, da sie dem Lernen jedes einzelnen Kindes gerecht werden. Die Devise hier lautet: Das Lernen hochzuhalten.

 

5. Fazit

 

Die aktive Auseinandersetzung mit neurobiologischen Forschungsergebnissen muss in den Grundschulen ankommen und umgesetzt werden. Richtlinien und Lehrpläne bieten die Ansätze, es fehlt jedoch in der Umsetzung in Schulen. Jedes Kind hat ein individuelles Gehirn, das sich aus Genen und Erfahrungen zusammensetzt und hat ein Recht auf individuelle Förderung (§1 Schulgesetz NRW).

 

Dabei sollen wir Erwachsene lernen, auf ihr eigenes Lernenwollen zu vertrauen und sie im Finden der eigenen Lernerpersönlichkeit zu unterstützen. Druck und Zwang verhindern Lernen und Leisten.

 

Lernen und Leisten findet dann statt, wenn Kinder entspannt sind, wenn sie sich selbst und anderen vertrauen. In Zeiten der Individualisierung und der Inklusion ist es umso wichtiger, auf eine gleichschrittige oder andere zwanghafte Vermittlung von Wissen zu verzichten und die Interessen der Kinder zum ersten und eigenen Lerngegenstand zu machen, Vertrauen aufzubauen und Schule als Lebensort zu gestalten. Die bestmögliche Förderung jedes einzelnen Kindes kann nur mit der Öffnung von Lernen in Selbstorganisation und Selbstbestimmung stattfinden.