Walter Hövel

Ich habe dich zum Beißen gern“

Warum Menschen Menschen beißen

 

Die Tage schrieb eine Studentin aus Linz eine kurze, aber spannende Arbeit über das Beißen. Sie traf damit ins Schwarze des Alltags von Familien im täglichen, oft überstressten Leben oder von Heimkindern.

 

Eine Kölner Mutter erlebt, dass ihr Kind sie beißt. Ihre Verunsicherung war groß.

 

Der Leiter einer großen Firma, die sich um in Not geratene Kinder und Jugendliche kümmert, bestätigte, dass das Beißen ein wohlbekanntes Phänomen ist.

 

Nimmt das Beißen als Phänomen unserer Zeit zu? Beißen wir uns mehr durchs Leben als je zuvor? Oder beißen wir uns fest?

 

Das Beißen scheint nicht nur eine „rein animalische“ Angelegenheit zu sein, die wir von Schlangen, Hunden, Insekten oder Raubkatzen kennen. Nein, es scheint auch eine Waffe von angegriffenen, angreifenden und an etwas (be-)greifenden Menschen, und nicht nur jungen Menschen zu sein. Es ist bekannt im Liebesspiel als Zeichen der Enthemmung, beim Sport als Aggression, in Vampierfilmen zur gruseligen Unterhaltung - und bei Kindern.

 

Beißen wird gerne als etwas Krankes angesehen, weil es verletzt. Der Biss eines Menschen kann gefährlicher sein als der von Tieren. Die meisten Gebissenen sind Kinder und Jugendliche, 25% sind Kleinkinder. „Fast jede vierte menschliche Bisswunde verursacht ein Mensch.“(1)

 

Wenn der Mensch beißt, wird ihm schnell etwas „Tierisches“ , „archaisch Verbotenes“ unterstellt. Ärzte sprechen gerne von „fehlender Impulskontrolle“(2). „Man muss ihnen beibringen, dass verletzendes Beißen nicht toleriert wird. Wünsche sollen über Sprache ausgedrückt werden.“ Wenn jemand auch im erwachsenen Alter noch zubeißt, sei das auf die Erziehung zurückzuführen. Hier sehe man, wer besser und wer weniger gut erzogen ist.(3 )

 

Bisswunden von Tieren oder von Menschen sind bei uns nicht meldepflichtig. „Deshalb spiegeln die bei der chirurgischen Erstversorgung an die Unfallversicherungsträger gemeldeten Fälle – das sind rund 3600 pro Jahr – nur die Spitze eines Eisbergs wider.“(4 )Menschenbisse sind deutlich gefährlicher als Hundebisse. Dies berichtet die „Welt“ in einem aktuellen Beitrag.(5)

 

Und in der Tat kann das Beißen ein Mittel von Sexualdelikten und Kindesmisshandlungen sein. Es können Abwehrbisse als Waffe, z.B. von streitenden Kindern eingesetzt werden.

 

Menschliche, meist männliche Beißlust beginnt bei Kindern. Kleinkinder beißen gern und oft. Erst später lehren Eltern und Gesellschaft , also Erziehung und Bildung, dass sich das „nicht gehört“.

 

Sigmund Freud vermutete: „Wer als Kind allzu oft beißt, wird als Erwachsener zynisch, sarkastisch und dominant“. Am häufigsten, also zu anderen Wissenschaften korrigierend, hat Scheithauer (6) herausgefunden, beißen Mädchen zwischen 11 und 16 Jahren: "Gerade ein pubertär verunsichertes Mädchen tut Dinge, die ihm als feminin vermittelt werden. Kreischen und Beißen gehören dazu. Ein Junge behilft sich eher mit einem Fußtritt."

 

Beißen ist also – so Gesellschaft und Erziehung – etwas „eigentlich Normales“, dass nur versteckt und weg erzogen wird. Es ist ein Fehler des Einzelnen. Es gehört sanktioniert bis zum Verschwinden.

 

Nicht Strafen, sondern verstehend bis zum eigenen Verstehen helfen

 

In der Arbeit „meiner Studentin“ taucht diese nun in eine veränderte Sichtweise ein. Es scheint sich ein weiterer Paradigmenwechsel anzukündigen. Es kehrt etwas Unaufgeregtes ein, das nicht mehr versteckt und weg therapiert wird. Ihre Herangehensweise wird von ihr wie folgt beschrieben: „In dieser Zeit habe ich etwas beobachtet, dass ich gerne verändern möchte.“(7) Hier wird der Harz4-Empfänger nicht mehr dafür bestraft, dass er nicht arbeitet, sondern es wird überlegt wie er seinen Weg in seine Arbeit , in seinen Lebenssinn findet.

 

Der alte Weg wird leider in der täglichen Praxis beibehalten. Die Studentin schildert wie die Erzieherin das Kind, das beißt, erst ermahnt, dann mit der Mutter spricht und dann eine Strafe ausspricht.

 

„Die Studentin schreibt, dass sie zunächst einmal herausfindet, warum das Kind überhaupt andere Kinder beißt und sie eventuell Lösungswege findet, damit es mit diesem Verhalten aufhören kann.“ Das erinnert mich an die Grundschule Harmonie, wo wir irgendwann entlang eines Gedanken von Mauricio Wild lernten zu fragen, was das Kind davon hat, dass es sich so verhält wie es sich verhält.

 

Sie fand eine einfache, aber übersichtliche Erklärung bei D.Gutknecht (8).

 

„Das Beißen von Kleinkindern kommt vermehrt im Alter von ein bis drei Jahren vor. Die Ursachen werden in drei Bereiche aufgeteilt:

 

Die kindliche Entwicklung

 

Kinder erkunden ihre Welt mit dem Mund und dieses ist ein wichtiger Bestandteil der kindlichen Entwicklung. Sobald aber ein Kind mit diesen mundmotorischen Erfahrungen nicht ausreichend befriedigt wird, kann es zu einem Beißverhalten kommen. Aber es können auch andere Gründe dahinter stecken, wie z.B. das Zahnen, der Wunsch nach Erfahrung von Kausalität, Selbstwirksamkeit und Aufmerksamkeit.

 

Die Umgebung

 

Enge und fehlende Rückzugsmöglichkeiten, bedrängende Situationen (z.B. im Garderobebereich) führen dazu, dass einige Kinder anfangen zu Beißen. Durch viele Spielsachen, zu viele Eindrücke und durch einen stressigen Tagesablauf kommt es zu Überstimulation und die Kinder können hierbei auch mit Beißen reagieren. Besonders, wenn sie lange warten müssen, müde, hungrig oder gelangweilt sind.

 

Die emotionale Situation der Kinder

 

Da Kleinkinder sich noch nicht sprachlich ausdrücken können, führen Emotionen, vor allem Frust oder Ärger dazu, dass Kinder zu Beißen beginnen. Auch hohe Anspannung und Angst werden auf diese Weise abgebaut.“ (9)

 

Sie schreibt weiter „Ich habe versucht, das Verhalten des Kindes in einer ganzen Woche auch schriftlich festhaltend nachzuvollziehen“. Dann bildet sie ihr eigenes Bild von dem, was sie bei dem Kind sieht. Sie weiß sehr wohl, dass dies ihr Bild und nicht das des Kindes selbst ist. Unter anderem sieht sie, dass dies ein Weg ist, wie das Kind die Aufmerksamkeit – ob positiv oder negativ – der Erzieherin bekommt. Es erhält seine Zeit.

 

Und dann tut sie nichts anderes als zu dem Kind – in Augenhöhe – Beziehung aufzunehmen. Das Kind beginnt sich gesehen und zunehmend verstanden zu fühlen. Sie sagt sehr deutlich, dass dies schwieriger war als sie dachte...

 

Immerhin hat sie den Gedanken, dass Kinder Beziehung brauchen neu und anders in die tägliche Praxis der Kita geholt. Sie hat deutlich gemacht, was Beißen und Beziehung miteinander zu tun haben.

 

1 https://www.zeit.de/2003/36/Bei_a7er_36

2 https://www.faz.net/aktuell/wissen/leben-gene/verlust-der-impulskontrolle-sorgt-fuer-beissattacken-13016164.html

3 https://www.blick.ch/life/gesundheit/psychologie/psychologe-erklaert-suarez-attacke-er-hat-lustvoll-zugebissen-id2941234.html

4 https://www.welt.de/gesundheit/article143885364/Menschenbisse-sind-gefaehrlicher-als-Hundebisse.html

5 https://www.heilpraxisnet.de/naturheilpraxis/hohes-gesundheitsrisiko-wenn-menschen-menschen-beissen-2015071340781

6 Herbert Scheithauer, Professor, https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Scheithauer

7 Büsra Eryilmaz, Was tun, wenn Kinder anfangen zu beißen,Linz 2019

8 Gutknecht.D. (2014). Wenn kleine Kinder beißen. Eine Herausforderung für Fachkräfte in Kita und Tagespflege, 5, S6-9, https://www.kleinstkinder.de/zeitschrift/bisherige_ausgaben/elvis_img/kleiki/0004301215_0001.pdf

9 Alles zitiert nach Büsra Eryilmaz