„Möge man nichts auswendig lernen lassen, als was richtig erfasst und verstanden ist. Und wiederum möge man nichts gedächtnismäßig verlangen,

als etwas, das der Knabe nach zuverlässigen Anzeichen auch behalten kann.“
Johannes Amos Comenius 1592- 1670


Walter Hövel

Ist Auswendiglernen out?

 

Wir leben in einer „Wissensgesellschaft“, hörte ich. Heißt das möglichst viel wissen, möglichst mit Macht mit Wissen haben, zur richtigen Zeit das Richtige wissen, mit Wissen umgehen können oder jedes Wissen für jeden erreichbar machen?

Die Selbstdefinition lautet: „Unsere Gesellschaft basiert auf Wissen“. Das tut zwar jede Gesellschaft, aber wir glauben sehr viel zu wissen.

Ältere Leute schimpfen gerne auf die Jüngeren: „Die wissen doch nichts mehr“. Progressiveren Schulen wird gerne unterstellt, dass „man da ja nicht genug lerne“. „Man weiß eben Bescheid“. Fatale Irrtümer einer vielwissenden Gesellschafft.

Doch wer hat das Wissen? Wo kommt es her? „Just google it“ heißt der Slogan, wenn du heute etwas wissen willst. Und wie schnell das geht!

Du wirst mit Sprache und Sprachen beliefert. Google, YouTube, Wikipedia, Apps, Translater, die Homepages der Wissenschaftler, der Journalisten, … sie alle verraten dir blitzschnell ihr Wissen.

Bildung und Herkunft
Früher glaubte man nicht an Google, sondern „an die Bildung“. Schule hatte die Aufgabe sie zu vermitteln, den einen, den „Besseren der Gesellschaft“, etwas besser, den anderen, unteren „bildungsfernen“ Schichten, etwas volkstümlich, aber seit den 70iger Jahren breit ge“fächert“. Wir sind heute mit den Österreichern das letzte Land auf der Welt, das mit  „höheren“ Lehranstalten vielen Menschen mehr schulische Bildung vorenthält. Noch heute darf die eine Hälfte der Bevölkerung nicht aufs Gymnasium.

Daher sind wir zwar eine Wissensgesellschaft, du musst aber weiterhin in der richtigen Familie geboren sein. Die einen sind bei Borussia oder im Fitnesscentrum Mitglied, die anderen bei den Rotariern oder im Kölner Festkomitee. 

Die Bildung je nach Herkunft bleibt verschieden, aber nicht die Zahl der Computer. Und was darin steht hat keiner mehr im Kopf Dieses Wissen ist nicht mehr auswendig zu lernen! Es ist prinzipiell für alle ausgelagert erreichbar. Der Computer kann jetzt alles „auswendig“.

Auswendiglernen früher
Als ich in den 50iger Jahren des letzten Jahrhunderts ein Kind war, galt der als gebildet, der „aus dem Stehgreif“ seinen Goethe, Schiller oder sonst wen auswendig rezitieren konnte. Damals konntest du so den Gebildeten als Zitierenden erkennen.

„Festgemauert in der Erde steht die Form aus Lehm gebrannt, Heute soll die Glock noch werden, frisch Gesellen seid zur Hand, von der Stirne heiß…“ oder „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der dritte“ kamen in jeder Lebenslage, zur passenden oder unpassenden Gelegenheit zum Vortrag.

In meiner Schulzeit war das schon out. Brecht, Kafka oder Benn ließen sich nicht mehr so zitieren. „Erst kommt das Fressen dann die Moral“ sagt vielleicht mal ein „gebildeter“ Journalist. Dafür lernte ich aber meine Macbethpassagen mit „Fair is foul and foul is fair: Hover through…“ 0der „Is this a dagger which I see before me the handle toward my hand? Come let me clutch thee…“

Ich lernte die Kennedyantrittsrede „We observe today not a victory of a party but a celebration of freedom, symbolizing an end….“. Ich lernte noch den Anfang von Caesars „De Bello Gallico“ mit „Gallia est omnis divisa in partres tres…“oder Sallusts Fabel vom Wolf und Schaf „Ad rivum eundem lupus et agnus venerant siti compulsi, superior stabat lupus…“.

Meine Kinder lernten so etwas bis zum Abitur der Jahrtausendwende nicht mehr!

Welch eine Sensation war es, als ein Zweitklässler im Offenen Lernen der Grundschule Harmonie den Zauberlehrling von Goethe „nur zum Spaß“ auswendig lernte, als Kinder Weihnachtsgedichte auswendig vortrugen.

Und in unserer Schulzeit, wohl noch bis in die 70iger, wurde mit „dem Merksatz“ gearbeitet. Wir mussten diese – oft in einer anderen Farbe – säuberlichst in unser Heft schreiben. Dann kam ein Kasten drum herum und wir mussten ihn auswendig lernen. So lernte ich Geschichte mit „Drei, drei, drei, bei Issos Keilerei“, Rechtschreibung mit „Wer nämlich mit h schreibt ist dämlich“ oder die Nebenflüsse der Donau in Reimen, „Iller, Lech, Isar, Inn, fließen rechts…“. Selbst außerhalb der Schule lernten wir in Merksätzen Hitlers „Weisheiten“  wie “Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder flink wie Windhunde sollt ihr sein“ oder „Willst die Karte du erhalten, leg‘ sie in die alten Falten“!

Merksätze heute? Fehlanzeige! Fehlanzeige?
Was blieb ist das Auswendiglernen von Liedern und Reimen um die „Fremd“sprache Englisch zu lernen. Diese Fachdidaktik hält so ziemlich als einzige pädagogisch begründet am Lernen von längeren oder kürzeren Texten fest. Das Motto ist, durch die Kombination von Bewegung und Sprache eine bessere Anbindung an das Gehirn zu erreichen.

Das Lernen von Deklinationen und Konjugationen ist out. Dabei sind sie der beste Beweis dafür, dass Lernen nicht nur intrinsisch, sondern auch mit blankem Zwang gelingt. Noch heute kann ich – im Lateinunterricht „gelernt“ -  locker konjugieren und deklinieren Was ich bestimmt nicht (!) freiwillig lernte.

Aber auch das ist out.

Merksätze prägen sich heute anders ein. Die Werbung sorgt dafür. „Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso“ kommt einem genauso flüssig über die Lippen wie die vielleicht 10 -20 Markennamen zu einem Begriff, ob für Jeans, Joghurts oder Autos. 2015 versucht man den Menschen z.B. den Satz „Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single über Parship“ ins Gehirn zu setzen.

Und dann kam die Deutschdidaktik darauf, dass wenigstens das Erlernen der Rechtschreibung noch steuerbar wäre. Sie führten den Grundwortschatz in der Grundschule ein. Einige kluge Köpfe alternativ offener Formen des Lernens schauten sich die freien Texte von Kindern an und stellten fest, dass Kinder ihren Wortschatz stetig erweiterten, aber durchaus mit den Wörtern des „Grundwortschatzes“ anfangen. Die Kinder und die Sprache taten also eh, was die Didaktiker in mühevoller Arbeit zusammentrugen und vor-schrieben.

Die gleichen Leute, die noch im gleichschrittigen frontalen Unterricht gelernt hatten, Texte – sinnentleert oder voller inhaltlicher Übereinstimmung – auswendig zu lernen, machten sich über die Koranschule lustig. Sie warf ihr vor, dass sie Kinder zwang, Texte auf Arabisch auswendig lernen zu lassen, also in einer Sprache, „die sie eh nicht verstanden.“

In der eigenen Kirche beteten sie “Domine Deus. Agnus Dei. Filius Patris …“oder „…opere et omissione:  mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“. Wurde das damals mehr verstanden als das Vaterunser auf Deutsch, „… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“,? Wer weiß, was er da spricht?

Aber das Auswendiglernen blieb, selbst wenn Schule es scheinbar nicht pflegte. So wie meine Generation die Beatles- oder Stonestexte oft auswendig mitsingen kann, so rasseln seit Jahren in den Klassen Kinder Texte der Ärzte, der Ramsteins oder verschiedener Rapper runter. Sie lernten aus Spaß auswendig.

Meine Kinder konnten über ihre Magickarten viel mehr englische Vokabeln als ihre Lehrerinnen, andere können Aufstellungen von Fußballteams auswendig. Im offenen Unterricht war zu beobachten, dass Kinder Lexikonseiten auswendig lernten, die Länder der Welt und ihre Hauptstädte oder sogar Fahrpläne der Bahn im Kopf konnten.

Andere Sprachen lernen nicht „auswendig“
Im Englischen animiert das Wort „auswendig lernen“ ganz anders: „You are learning by heart“. Auf Französisch heißt es „par Coeur“. Selbst im Lateinischen und Afrikaans lernt man mit dem Herzen. Andere romanische Sprachen oder das Niederländische bemühen die „Memoria“, also das Gedächtnis. Das Deutsche gibt vor ähnliches zu wollen. „Du kannst etwas aus dem Gedächtnis, ohne Vorlage, ohne Buch“ heißt es.

Erst im 13. Jahrhundert erschien in unserer Sprache der Begriff des „Auswendiglernens“. Es geht darum, dass das Lernen „nach außen gewandt“ ist, „nach außen gewendet“ wird.

Und die Schule heute?
„Etwas aus- und inwendig kennen“, heißt die Redewendung. Inwendig bedeutet das Innere sehen, den Inhalt, das Wesen, das Wesentliche, äußerlich, die Form, die Gestalt, das Erscheinungsbild. Soll „auswendig“ andeuten, keine Ahnung vom Inneren zu haben und es nur von außen zu kennen? Ist es das Wissen, wie Wissen von außen aussieht?

Dabei beherrscht das Auswendiglernen die heutige Schule in nie dagewesenem Ausmaß!  Auswendiglernen ist heute das wichtigste Mittel die Schule und ihre Abschlüsse überhaupt zu schaffen. Wenn du nicht leicht oder ausdauernd „auswendig lernst“, bist du ohne Nachhilfelehrer, die Mama, gute Freunde oder die „Kunst des  Pfuschens“ in unserer Schule raus! Um Klausuren und Prüfungen zu bestehen, lernen die Prüflinge auswendig. Dies behalten sie oft für 14Tage, ohne es verarbeitet oder übernommen zu haben. Lernen findet für den Test, nicht für den Menschen statt. Unser schulisches „Lernen“ ist auf kurzfristige Reproduktion, nicht auf nachhaltige Inhalte, Haltungen oder Handlungen ausgerichtet. Kurzfristige Kenntnissansammlungen stehen im Vordergrund. Der Erkenntnisgewinn bleibt der Person überlassen.

Dieses veränderte Auswendiglernen ist die Grundlage einer Schule, die Bildung durch Ausbildung ersetze. Es wird selten nach der Qualität des Lernens gefragt, als vielmehr nach Noten, Abschlüssen und Zertifikaten. Diese ordnen dich in deine, allerdings entscheidende, gesellschaftliche Stellung ein.

Was bedeutet Sprache für uns?
Unsere Sprache ist hierbei das wichtigste geistige und gesellschaftliche Transportmittel. Sie transportiert letztendlich auch die Daten, die uns Maschinen liefern. Hier spielt die Sprache ihre tragende Rolle. Aber sie ist nicht nur über Schule, Bildung und Ausbildung vermittelbar. Sie erfasst jeden noch so kleinen Bereich der menschlichen Existenz. Ihre Entwicklung ist schneller als jeder Lehrplan oder jede Wissenschaft sein kann. Sie ist stärker als Medien, die sie ständig zu schaffen versucht, wandlungsfähiger als Werbung und Politik sie prägen. Sprache wird von allen gemacht. Sie ist so beherrschbar wie der Mensch selbst. Sie bricht immer wieder aus. Sie sucht immer wieder die Freiheit des Worts.

Sprache verändert sich, Sprache verändert dich. Du veränderst Sprache. Sprachen sind lernbar. Sprechen ist lernbar. Wir sind Sprache.

Mit unserer Sprache machen wir unsere Welt. Wir verstehen sie in Bildern, die wir zu Worten und Buchstaben gemacht haben. Wir schaffen mit unserer Sprache unsere Realität. Mit Sprache erhalten, zerstören oder verändern wir sie. Aber niemals kann Sprache die Veränderung der Welt und der Menschen oder die eigene Entwicklung der Sprache selbst aufhalten. Wir können nur die Richtung der Veränderung mit der Sprache beeinflussen. Es gibt keine Haltung, kein Handeln und keine Macht ohne Sprache.

Mit der Sprache wird auch dafür gesorgt, dass Menschen die Welt so sehen, wie die anderen oder die, die sie etwa in Schule oder in den Medien verstanden haben wollen.

Hierbei verändert sich Sprache innerhalb nur einer Generation. Mein Großvater hätte nichts mit dem Wort „Computer“ oder „Satellit“ anfangen können, seine Mutter nichts unter „Auto“ oder „Staubsauger“ verstanden. In meiner Kindheit sagte niemand „cool“ oder „Wie doof ist das denn?“. Abertausende von Beispielen belegen diesen Wandel. Wir machen die Sprache. Wir machen unsere Realität. Wir machen uns selbst.

Für die Schule bedeutet das
Gute Schule als Ort des Lernens versteht sich immer weniger als Vorgebender einer Sprache, „wie sie sein sollte“. Wir wissen, dass sie sich verändert. Die einen reden nicht von „Arbeitslosen“, sondern „stellen Arbeitende frei“. Die anderen meinen bei Demokratie nicht mehr Mehrheiten, sondern Menschenrechte. Wieder andere reden nicht mehr von „Behinderten“, sondern bauen „Behinderungen“ ab.

Wir können heute als Lehrerinnen und Lehrer entscheiden, ob wir jungen Menschen „unser Verständnis der Welt in unserer Sprache rübergeben“ wollen, oder ob wir die Begegnung der Sprachbildung junger Menschen mit der bereits vorhandenen Realität unserer Sprache(n) möglich machen. Wir entscheiden uns immer öfter den Kindern das Wort zu geben. Die Entscheidung lautet, wie Nazim Hikmet einmal dichtete, „Die Welt den Kindern zu geben“.

Bei der Sprache gilt, was Paul le Bohec postulierte: „Beherrsche, was sonst dich beherrschen würde“!

Es ist also gut, wenn alte Formen des Auswendiglernens als Zwang oder zwingende Selbstverständlichkeit out sind.

Es ist unsere Aufgabe, in Schule und Gesellschaft sinnentleertes Auswendiglernen für Tests und Prüfungen durch eigen-sinniges, selbstverantwortetes, selbst aktives Lernen zu ersetzen. Und dies geht über, mit und in der Sprache.

Und dabei ist es toll, wenn wir Menschen haben, die das Memorieren, das Vortragen „über das Herz“ beherrschen und pflegen.

In der Schule heißt das Priorität für das freie Schreiben, die freien Texte, Dichterlesungen, das eigene Rollenspiel, die Begegnung mit „guter“ Literatur, Sprachforschung der Kinder, Theaterspiel und Sprachspiel…und Auswendiglernenlassen, - wer immer das wann mit wem will!

In der Schule heißt dies Priorität nicht für Lehrpläne, sondern für jeden Menschen, für seine Kompetenzen, seine Ziele, für das individuelle, heterogene und inklusive Lernen. Wir werden viele Behinderungen, die auch Schule durch Belehrung beim Lernen schafft,  wegräumen müssen.

Menschen brauchen Freunde und Familien, gesundes Essen und Trinken, Sprache und Spiel. Sie brauchen Zeit, Selbstwert, Freude und Raum zum eigenen Lernen.

Alte und neue Schule sollten ihr Verhältnis zum Wissen ändern. „Lange Zeit hieß es, Wissen bestimme das Verhalten. Allerdings bestimmen eher die Erfahrungen das Verhalten" (Richard Louv).