Walter Hövel

Alle Menschen sind begabt!

Inklusive Gedanken zur „Begabtenförderung“

 

Gehen wir in unserem Denken einmal von den so genannten „Hochbegabten“ aus. Auf Begabung achten, diese Notwendigkeit propagieren viele. Nur wenige tun es. Dabei ist es ein alltägliches Problem in jeder Schule!

Die aktuelle Fachliteratur veranschlagt die Zahl der „Hochbegabten“ oder „Teilhochbegabten“, etwa in Sprache oder Mathematik, auf mindestens ein Kind pro Klasse. Jürgen Reichen, ein Schweizer Pädagoge, sagt in seinen Vorträgen gerne: „Ein Lehrer muss damit rechnen, dass in jeder Klasse ein Kind sitzt, dass intelligenter ist als er oder sie selbst.“ Da wir nicht von „Hochbegabten“ sprechen, sondern von verschieden begabten Menschen, sind es schon erheblich mehr, die wir entdecken können. Gehen wir also von einer größeren Zahl Kinder aus, die potentiell häufig oder durchgehend unterfordert und aus Intelligenzgründen „mit Schule“, Familie, Erwachsenen und ihrer sozialen Umgebung überfordert sind.

Der Mythos des angepassten fleißigen „Wunderkinds“ war der Gesellschaft weniger ein Problem, Probleme hat eher das Kind selbst. Ein „neu“ entstandenes, oder nun erkennbares Problem unserer Gesellschaft ist, dass sie noch nicht gelernt hat mit widerstrebender kindlicher Intelligenz umzugehen. Wie sie angepasste Intelligenz anerkennt, so reagiert sie bei schwieriger Begabung gerne traditionell mit Tendenz zum Ausschluss des Unbekannten, des „Anderen“.

Wir als Grundschule erfahren dies bei „weiterführenden“ Schulen. Fast alle „Begabten“ unserer Grundschule stabilisieren und entwickeln sich so, dass sie in den nachfolgenden Systemen zu Recht kommen. Für wenige Kinder (ich spreche von weniger als 1% eines Jahrgangs), die zudem nur Monate oder nur bis zu zwei Jahren bei uns waren, stellt das nach der Grundschule folgende selektierende Schulsystem eine gegenseitige Überforderung dar. An unserer Schule konnten besonders auffallende junge Menschen lernen und sich entwickeln. Das Regelschulsystem antwortet gerne mit Straf- und Ausschlussverfahren bei nicht erklärbarem Verhalten. Lehrerinnen und Lehrer suchten (und fanden) die „Störung“, die „Abnormalität“ und die „Krankheit“ im Kind oder der Familie. Das Kind wurde „ausgesondert“. Sie schafften es nicht, mit einander und ihnen klarzukommen[1].

Zu viele Schulen fördern durch das selektive Schulsystem und den Test-, Klassenarbeits-, Diktat- und Klausur- und „Leistungs“druckkult[2] immer noch zuerst reproduzierendes Durchschnittsdenken und durchschnittlich Denkende. Sie arbeitet mit der Gaußschen Normalverteilungskurse und selektiert eine „Spitze“ aus. Das deutsche drei bis fünfgliedrige Schulsystem selektiert, oft gegen die pädagogisch engagierte Arbeit der einzelnen Lehrpersonen und  Einzelschulen, nicht nur nach unten, sondern unterdrückt auch die eigene „Elite“, es sei denn, man gehört zu den „sozial Abgepolsterten“. Andere führende Wirtschaftsmächte wie die USA versorgen zwar auch zuerst die Söhne und Töchter der Reichen und Mächtigen, fördern aber mit ihrer Einheitsschule und ihren Stipendien die ausgesuchte Intelligenz jeder gesellschaftlichen Schicht.

 

Nach unseren Erfahrungen reagieren „Begabte“ nicht, wie in älterer Literatur gerne beschrieben, als besonders ehrgeizige, sich rasch eine Disziplin aneignende „Streber“. Diese Schüler gibt es weiterhin. Es gesellen sich aber vermehrt solche hinzu, die sich „bewusst“ am Mittelmaß der Klasse orientieren, Anstrengungen ausweichen oder schulische Leistungen schlicht verweigern, oder nichts anderes tun, als sich mit „Erwachsenen messen“ zu wollen.

Ihre sozial emotionale Entwicklung scheint oft in keinem Verhältnis zu ihrer Intelligenz zu stehen. Anderseits durchblicken sie die Verhaltensstrategien der Erwachsenen leicht oder sie signalisieren kein Verständnis für das, was der Erwachsene von ihnen will.

Es gibt die Tendenz zu - für uns Erwachsene, aber auch Kinder - auffälligem Verhalten. Wir glauben einem besonders ausgeprägten kindlichen „Omnipotenzverhalten“ zu begegnen, auch in Verbindung mit aggressivem Verhalten, oder „Ausschlussspielen“, „Mobbing“ oder „Zickenverhalten“ in der Klassen- oder Schulgemeinschaft, das von diesen Kindern ausgehen kann, sie aber auch – in derselben Person - betreffen kann. Diese Kinder erscheinen oft hilflos, manchmal verzweifelt, in einer eigenen Welt lebend. Ihnen scheinen Beziehungs- und Entwicklungserfahrungen der Erziehung und des Aufwachsenkönnens zu fehlen. Oft trauen sie weder sich selbst noch ihrer Mitwelt. Einige von ihnen scheinen den Dialog mit der sie umgebenden Welt zugunsten eines inneren Dialogs[3] aufgegeben zu haben. Dieser innere Dialog scheint ihre Welt zu bilden, in der sie zu Recht kommen wollen, was uns wiederum als „Omnipotenz“ oder Verweigerung begegnet.

Sie schaffen sich gerne eigene – oft schwer erreichbare Wissensgebiete und zeigen defizitäres Desinteresse in klassischen Lehrbereichen oder Lernanforderungen. Sie reagieren damit, dass sie zunächst, oft für lange Zeit einfach, in Ruhe gelassen werden wollen.

Es gibt gesellschaftliche Versuche jene „schwierigen“ Begabteren auszuschließen, indem „Leistungsbereitschaft“ zum Kriterium der „Hochbegabung“ ernannt wird, nach dem Motto: „Wenn der Mensch intelligent ist, dann arbeitet er auch!“ Unsere Schule hat sich gegen ein solches Verständnis von „Integration entschieden. Wir unterstellen jedem Menschen als ureigenes menschliches Prinzip die Bereitschaft zum Lernen. Wir überzeugen Kinder davon, dass eigenständiges Lernen auch für Menschen, die bevorzugen, alles sofort zu können, zu lernen ist. Wir geben ihnen ihren Raum und ihre Zeit zum Leben und Lernen in der Schule. Wir geben ihnen die Orientierung über die Lernangebote der Schule, die Schlüssel zum Öffnen der Türen zur Welt und uns selbst als authentische Lehrerpersönlichkeiten, die selber lernbegierig sind. Wir als Lehrerinnen und Lehrer, als Schule müssen dabei immer mit-lernen.

 

Begabte, Kinder, die viel nachdenken, große Fantasie oder Sorgen haben, können einsam sein. Es fehlt ihnen in der Schule mit Durchschnittsstrukturen[4] an Partnern, Freunden oder auch Erwachsenen, die ihnen „gewachsen“ sind. Sie können bei Gleichaltrigen auf Unverständnis und Ablehnung treffen, weil sie sich „seltsam“ verhalten. Oft müssen sie sozial-emotionale Erfahrungen der Kleinkindphase nacharbeiten, oft leben sie „in anderen Sphären.“

Sie brauchen aus der Sicht vieler Erwachsenen im besonderen Maße jenes „wohl ausgewogene Gleichgewicht von Liebe und Grenzziehung im erzieherischen Bereich“. Aus der Sicht der Kinder müsste darüber nachgedacht werden, dass es eher ein Grundbedürfnis von Kindern ist, mit Erwachsenen kooperieren zu wollen, und dass wir Erwachsene vielleicht noch nicht zu dieser Kommunikation und Kooperation in der Lage sind.

Janusz Korczak beschrieb dies einmal mit den Worten „an den erwachsenen Leser: Ihr sagt: ‚Der Umgang mit Kindern ermüdet uns’. Ihr habt Recht. ‚Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen. Hinuntersteigen, uns herabneigen, kleiner machen.’ Ihr irrt Euch. Nicht das ermüdet uns. Sondern dass wir zu ihren Gefühlen empor klimmen müssen. Empor klimmen, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen, um nicht zu verletzen."

Sie brauchen kein wohl ausgewogenes Verhältnis von „altmodischer“ systematischer Übungskultur und dem Angebot „moderner“ Arbeitsformen selbständiger, selbst organisierter Formen des projektorientierten Lernens. Gerade jene, die sich in Grenzsituationen der Krise ihres Lernens und Verhaltens befinden, würden diese „Behandlung“ nicht zulassen. Sie würden die Erwachsenen zum Zwingen zwingen und die Rolle von „Genies“ spielen oder das Spiel gelangweilt mitspielen, um abzutauchen.

Vor ein paar Jahren konnten wir bei der Umstellung auf Jahrgangsmischung 1-4 eine neue Klasse zusammenstellen. Alle Kinder unserer Schule, die ihre alten Klassenverbände verlassen wollten, fanden sich hier ein. Da sich unsere Klassen Namen geben, diskutierten die Kinder lange, ob sie sich die „Taucher“ oder die „Genies“ nennen wollten. Sie entschieden sich gegen das „Abtauchen“ und heißen heute noch immer „die Genies“. Kein einziges Kind von damals ist noch in der Klasse, aber eine übergroße Zahl von „Genies“ arbeitet dort auch heute noch entlang des damals von den Kindern entwickelten „Arbeitsprogramms“.

Es ist geprägt von hohem Individualismus, höchster Sensibilität in Fragen der Selbstentscheidung, hohem Lernanspruch, aber auch oft kindlichem Verhalten, hoher sozialer und psychischer Empfindlichkeit bei gleichzeitiger sozial-psychischer  „Unaufmerksamkeit“ bis hin zu sporadisch auftauchenden Verweigerungsreaktionen. Aber auch in den anderen Klassen unserer Schule ist die Zahl der Kinder, die ihre Begabungen sichtbar erfahren und ausleben, größer geworden.

Sie – und ihre Eltern suchen ganz bewusst verschiedene Klassen mit verschiedenen Lern-, Sozial- und Lehrerpersönlichkeitsprofilen. Sie suchen sich die Klasse mit musischem Schwerpunkt, oder die hoch sensible, aber klare und gut organisierte  Klassenlehrerin, oder die Klasse, die viel in Projekten arbeitet, oder die ruhigste Klasse, oder die Klasse, die am häufigsten zum Lernen die Schule verlässt oder einfach eine Lehrperson mit einer Intelligenz- oder Persönlichkeitsstruktur, die am Besten zum Kind passt. Dies ist bei uns möglich, da alle Klassen durch die Altersmischung 1 bis 4 für alle zugänglich sind, - und auch nicht im Gleichschritt von Didaktik- oder Reformtheorien marschieren, noch wir uns selbst und unsere Kinder in von Lehrer-Teams gemachte Arbeitspläne pressen.

Erleichtert wird uns die Arbeit durch das neue Schulgesetz in Nordrhein-Westfalen, das die Wahl der Schule den Eltern überlässt. Über 30% unserer Eltern fahren ihre Kinder zwischen 10 bis zu 50km jeden Morgen zur Schule. Bei uns bestimmen nicht mehr gleichschrittiger Unterricht oder vorgegebene Lehrprogramme, die glauben zu wissen, was Menschen wann und wie lernen werden, das Arbeiten jedes Kindes, sondern mit jedem und für jedes Kind wird ein eigener Lernplan erarbeitet.

Auch die, die uns als Begabte auffallen, arbeiten bei uns in der Inklusion aller Kinder und Erwachsenen. Jedes Kind entwickelt sein eigenes Lernprofil, formt seine eigene Lernerpersönlichkeit. Für jedes Kind gilt, dass wir und es selbst die ureigensten Bedürfnisse und Lernwege jedes Einzelnen herausfinden müssen.

Wenn vielerorts das Denken in zu kompensierende Kategorien mit „schwierigen“, behinderten“, „begabten“, „legastenischen“, „Grundkurs-Erweiterungs-Leistungskurs“-, Hilfs-Sonder-Förder-“, Diskalkulie“-, „Migranten“-Kinder in ein immer weiter differenziertes Lehrsystem aufgegliedert wird, lernen wir ein demokratisches System des eigen verantwortlichen, kooperativen und inklusiven Lernens aufzubauen.

Nicht nur begabte oder behinderte, sozial benachteiligte oder mehrsprachige Kinder holen sich so ihre besonderen Bedingungen ab, die sie zu allererst selbst formen lernen. Alle Kinder müssen ihre eigenen von ihnen selbst zu festigenden Zeiten und Rhythmen, ihr ureigenes „reichhaltiges Futter“ finden, um überhaupt ein sichtbares Lerninteresse zu entwickeln, bei optimaler Bewegungsfreiheit für ihre eigen sinnigen, aber berechtigten(!) Ausflüge in einer Umgebung von Raum, Zeit und Menschen, die sie akzeptieren. Und bei diesen Ausflügen müssen sie auf kompetente erwachsene Begleiter und Medien, Kultur und Informationen innerhalb und außerhalb der Schule, stoßen können, die ihnen Tore der eigenen und fremden Kompetenzen öffnen helfen.

Sie brauchen den sozialen Schutz und die inhaltliche Geborgenheit IHRER Klassengemeinschaft und die Möglichkeit, diese jederzeit verlassen zu können. Das Herz der Klasse ist der Kreis, der Klassenrat. Hier entscheiden die Kinder und ihre Erwachsenen (Klassenlehrerin, Lehramtsanwärter, Assistentinnen) wie sie zwischen 7Uhr morgens und 15Uhr nachmittags leben und lernen, kooperieren und kommunizieren. Hier gestalten sie ihre Beziehungen, zu Freunden, zu Erwachsenen, zu Mitlernern, - und über die Klasse hinaus zu anderen Freunden, Lernpartnern und Erwachsenen. Dies ermöglicht unsere Schule zuerst dadurch, dass in buchstäblich allen Räumen der Schule und zu jeder Zeit gelernt und sich mit allen Kindern anderer Klassen verabredet werden kann.

Sie brauchen Foren, in denen sie ihre Rechte formulieren, vertreten und erstreiten können. Dies ist wiederum zuerst der Klassenrat, aber dann auch die Schulversammlung, das Kinderparlament, Sorgengruppen, Flur-, Bus- oder die Gender-Versammlungen, der Rat der Weisen Kinder oder einfach das jederzeitige Recht auf „Verabredung“ zum Lernen und Reden mit jedem in der Schule.

Sie brauchen das von ihnen selbst bestimmte und erfahrene Maß an Ausgeglichenheit ihrer eigenen Lernzeit und der Möglichkeit des Besuchs von Lernangeboten. Primat hat die Zeit des eigenen Lernens, an eigenen Themen, Fragen und Interessen, das Forschen, Experimenten und Versuchen in allen Fächern und Gebieten, der freie Ausdruck in Sprache, Tanz, Bewegung, Musik, Kunst oder Theaterspiel. Sie brauchen die Zeit für die Entwicklung der Systematik des eigenen Lernens, der Bewältigung von Lehrplanzielen und die Erweiterung und Erringung eigener Kompetenzen. Andererseits finden sie feste und wechselnde Angebote, wie die Mitarbeit an Unterrichtsreihen unserer Lehramtsanwärterinnen, Kleingruppenarbeit der Lehrerinnen, individuell begleitete Arbeit in unserem Lernstudio, der „Lounge“, individuelle Hilfe unserer Assistenten, Einzel- und Gruppenunterricht bei unserer Musikerin, Besuch des von Künstlern geführten Kunstraums, unserem „Adam-Riese-Kreis“[5], die Frage der Woche, die Präsentation auf der Schulversammlung, der wöchentlichen einstündigen Vorlesungen, Projekten, oft mit Praktikanten, Studentinnen und anderen Gästen von außerhalb der Schule, unsere monatliche Kinderuni mit Kompaktseminaren, unseren Angeboten mit Seelsorgern, unserem Matheförderraum, unsere Englischseminare, unseren Austausch mit der englischen Partnerschule,…. Entscheidend bleibt, dass die Kinder, sich für diese Angebote selbst entscheiden, also sie in IHR Lernen einordnen. Und spätestens hier wird deutlich, dass wir keinen Unterschied mehr zwischen begabten, behinderten und „andern“ Kindern machen müssen. Wir fordern und fördern immer – so weit wir es können - jede und jeden „auf Verdacht“, prophylaktisch oder inklusiv.

Eine unserer Erfahrungen lautet: Wir bekommen aus Kindergärten, aber auch aus anderen Grundschulen immer wieder „schwierige“ Kinder. Sie eckten an, verloren bereits die Lernlust, zeigten sich aggressiv, hatten Bauchschmerzen, hatten sich so durch Schule so verändert, dass Eltern ihre Kinder „nicht wieder erkannten“. Schon nach wenigen Tagen in einer eigen verantwortlichen Lernumgebung entpuppen sich die meisten „Neuen“ einfach als normale begabte Kinder. Sie arbeiten an eigenen Themen, sie lesen, lesen, lesen, lernen zu malen, philosophieren, knacken mathematisch komplexe Aufgabenstellungen, spielen und reden …. Sie kommen erst an, dann wieder zu sich und finden lernend (wieder) zu sich selbst. Sie brauchen Zeit und Ruhe, Verletzungen müssen heilen, die Chance zur Eigenständigkeit muss erst in eigene Aktivität übersetzt werden. Nur wenige brauchen lange, um ihre Intelligenz und ihr Lern- und Verhaltensprofil zu finden und zu stabilisieren.

 

Und wir Erwachsene…

Kinder brauchen ein Zuhause oder wie Goethe es einmal nannte, das „Behaustsein“. Sie brauchen viel echtes und erarbeitetes Zutrauen und Vertrauen, nicht psycho-soziales laissez-faires Lassen bei gleichzeitiger Gängelung, Nichtloslassenkönnen, das In-Watte-gepackt-werden oder „Verwöhnt“werden der Mama oder der Papis, die kind dann noch in vollständiger Orientierungslosigkeit vors Bein tritt, wenn die Eltern nicht ganz oder nicht schnell genug so funktionieren, wie es von ihnen zu erwarten wäre.

Wie erprobt sind viele Kinder schon im Ablauf der „erzieherischen“ Ereignisse! Erst wird geschimpft, dann passiert nichts. Es wird angebrüllt, oft verzweifelt und nichts ändert sich. Der Erwachsene kann aggressiv, selbstmitleidig oder selbst verzweifelt reagieren. Das Kind kann nun Schuldgefühle entwickeln, sich zurückziehen oder „aussteigen“. Zu oft erfahren sie Wiederholungen, die kind eben ertragen, aussitzen oder gewinnen können lernt.

 

Entscheidend ist aber, dass das Kind aus positiven Veränderungen, aus Situationen mit Problemlösungsangeboten lernt. Wir nehmen uns jede Zeit, um gemeinsam und ganzheitlich mit den Kindern eigene Inhalte(!) und dazu gehörige Formen des Arbeitens gerade im Sinne von eigenen und kooperativen Handlungsabläufen zu erarbeiten und einzuüben. Dies sind keine Trainingsprogramme für die Kinder, sondern reflektierte Erfahrungsstrukturen der Kinder. Sie lernen nicht nur das Lernenlernen, sondern erziehen sich zur eigenen Erziehungskompetenz! Und da wären wir Erwachsenen wieder beim Mit-Lernen, denn uns hatte dies niemand beigebracht!

Immer wieder sind es hilflose Eltern, hilflose Lehrer, hilflose Erwachsene, ja sogar schon hilflose Kinder, die selbst keine demokratisch oder human erziehenden Vorbildeltern hatten.

Sie wollen und wollten anders, offener und freier erziehen oder möglichst wenig erziehen, hatten und haben aber niemals gelernt wie das geht. Sie sind oft mit sich selbst überfordert und reagieren über, resignieren, überspielen oder „sehnen sich manches mal nach autoritär funktionierenden Zeiten zurück“, die es aber nie als „funktionierende“ Realität gab. Oft suchen sie, selbst noch verhaftet in der Erziehung der eigenen Eltern und Großeltern, die selbst von faschistischen oder anderen antidemokratischen Erziehungsidealen geprägt wurden, nach der „Schuld“ für Fehlschläge[6]. Der Ehemann, noch lieber der getrennt lebende „leibliche“ Vater machen die Schwäche der Mutter verantwortlich, manche Eltern die „Unstrukturiertheit“ der heutigen Schule, andere die einmal zu lasche, einmal zu autoritäre Lehrerin, oder die Gene oder die Medien oder das zuständige Amt.

Sie selbst sind nicht die autoritären Erzieher der Vergangenheit. Sie sind die zu Erwachsenen gewordenen ehemaligen Kinder „der veränderten Kindheit“, die Neil Postman 1983(!) beschrieb.

Genau so, wie wir immer mit einer veränderten Kindheit zu tun haben, haben wir auch mit einer „veränderten Erwachsenheit“ zu tun. Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass die „veränderten Kinder“ von Damals von den Eltern und Großeltern von Vor-Damals erzogen wurden, denen alle Werte verloren gingen und in Frage gestellt wurden, auf denen sie sich in den Zeiten vor, während und nach dem letzten Weltkrieg gestützt hatten. Ihre Welt, ihre Erziehung war in einer Riesenkatastrophe gescheitert und gebrandmarkt. Sie hinterließen Kinder, die heutigen Erwachsenen, die sich einerseits von der Weltsicht und Erziehung ihrer eigenen Eltern abwenden mussten, andererseits aber bar jeder Orientierung, jeder erzieherischen Sicherheit und bewährten Kenntnissen Verantwortung übernehmen mussten. Sie suchen nach neuen Erkenntnissen, in der Vergangenheit, in den kommerziellen und ideologischen Angeboten der Konsum- und Medienzeit, in spirituellen Sphären und Gedanken, in Literatur, in Fernsehmagazinen und bei intellektuellen Ratgebern.

Dabei helfen Fernseh-Nannys, Illustriertenkommentar-Erziehungsspezialisten oder auf Bildzeitungs-Niveau argumentierende Kinder“psychologen“ ala Winterhoff[7] so wenig wie viele schlechte Vorträge über Hochbegabung.

Es scheint eher das Problem zu sein, das unsere gesamte Generation sich als „lernende Generation“ verstehen lernen sollte. Zunehmend viele Kinder, die auf rasant verändernde Lebensbedingungen deutlicher reagieren als je zuvor. Da wir eher mit noch mehr Veränderungen zu rechnen haben, sollten wir unsere Lernfähigkeit schneller steigern!

Viele der heutigen „Fehler“ werden und wurden in einer Frühkindphase von den „veränderten Eltern“ gemacht, wo der Wunsch zu einer Erziehung zu Selbstständigkeit und Selbstbestimmung mit dem Alleinlassen und Unberatenseinlassen verwechselt wurde. Stattdessen neigen und neigten viele Eltern gerade in dieser Phase dazu, dem Kind immer die ideale Spiel- und Unterhaltungsumgebung zu bieten, alle Gefahren, allen Schmutz, alle Risiken und Selbsterfahrung im Erproben mit der Welt, ihren Emotionen, ihrer Sprache und ihrem Verhalten und Handeln, die sie auch schon verändern wollen und können, dem Kind aus dem Weg wegzuräumen, um später nicht loslassen zu können.

Kinder wachsen in Phasen auf. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass Erfahrungen in der nachfolgenden Phase mitgenommen werden müssen, aber Erlerntes oder Gegebenes, das vorher wichtig war, auch wieder verlernt oder geändert werden muss[8]. Von der Säuglings- zur Kleinkindphase muss z.B. der Klammergriffreflex oder das Schwimmen unter Wasser verlernt werden, später Fremdeln, Schreien oder Trotzverhalten.

In der Kleinkindphase kann das Kind viele Dinge nachmachen, die kompetente Erwachsene vormachen. Hier müssen Kinder etwas gerne tun, weil die Eltern es er“warten“. Eine Form des „aktiven Wartens“, nicht Erzwingen, noch Laissez-faire, also Rückgriffe auf alte Erziehungsmethoden sind gemeint, sondern die Verantwortung des Erwachsenen, seine „richtige“ Entscheidung vorzuleben und vorzugeben. Dieses „richtige“ Entscheiden ist in keinem vorhandenen gesellschaftlichen Konzept allgemeingültig und umfassend beschrieben. Eher müssen wir lernen systemisch zu denken und solche „Programme“ im Gespräch mit anderen Erwachsenen und den Kindern zu entwickeln, die immer nur zu dem einen Kind, seinen Eltern, seinem Lernweg passen[9].

Die Diskussions- und Verantwortungsfähigkeit von Kleinkindern ist nicht begrenzt, sondern anders als bei Erwachsenen, als bei Kindern oder Pubertierenden. Wir sollen mit ihnen liebevoll und selbstbewusst reden, ihnen erklären, sie ernst nehmen, sie erproben lassen, sie hören und erfahren. Wir müssen auf sie achten, sie vor vielem beschützen. Aber nicht vor allem was wir fürchten, und nicht vor jeder Beule, eigenen Erfahrungen und eigenen Emotionen. Und wir sollten wissen, dass sie in dieser Zeit viel mehr mit uns als jemals später wieder machen. Und wir müssen präsenter sein, so wie wir als Eltern diese Präsenz, und mit ihr weitere Teile unseres Verhaltens ihnen gegenüber, verändern müssen.

Ein Anlass ist der Eintritt in die Schule. Kinder lösen sich nach dem Kindergarten in ihrem zweiten von noch vielen Schritten aus ihren Familien. Sie sind bereits in der Phase, wo sie nicht mehr imitieren und sich anpassen müssen, um zu (über)leben, sondern sie verlassen das Nest und lernen fliegen. Was ihnen wiederum schwer fällt, wenn Eltern sich und ihre Kinder nicht aus der Kleinkindphase verabschieden.

Es gibt Kinder, die eine miserable Kleinkindphase[10] erlebten und noch in dieser stecken. Sie fordern dann in der Schule viel: „Ich arbeite nur, wenn ich will!“, „Ich war das nicht.“, „Ich höre einfach nicht zu“, „Ich mache nicht weiter, wenn ich etwas nicht sofort kann!“ „Ich will, dass du mich zum Lernen zwingst! (Aber wehe du tust das, dann verweigere ich erst recht)“. „Mir ist langweilig, weil du mir nicht das Richtige anbietest.“ „Ich lasse mich nicht zwingen.“

 

 

Es nützt nichts durch Ermahnung, Belehrung, Bestrafung oder Konditionierung gegen sie zu arbeiten, sondern nur positive Erfahrungen mit dem eigenen positivem Verhalten und der dazugehörigen Erfahrung und Erkenntnisgewinnung können Menschen – auch für die nachfolgenden Generationen, „umpolen“. So wie es stimmt, das geschlagene Kinder bereits als Kinder und wieder  als Erwachsene schlagen, so stimmt es um so mehr, dass sie es los werden können, wenn sie selber neue gewaltfreie Erfahrungen in ihrer Umgebung und (!) in ihrem eigenen alternativem positiv eingeübten Handeln gemacht haben.

Das macht die Selbsterziehung der Kinder an der Grundschule Harmonie so nachhaltig, wie uns die Eltern unserer „Ehemaligen“ häufig genug berichten. Sie sind starke Persönlichkeiten, sie entwickeln eine breit gefächerte eigene Intelligenz und sind gute Lerner, nicht nur auf die Schule bezogen. Das heißt nicht, dass sie in ihrer weiteren Entwicklung gegen schlechte Erfahrungen in sozialer oder schulischer Umgebung gefeit sind. Einige gehen auch „Um“wege oder, ihre Wege.

Alle Menschen sind begabt!

 

 

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

(UNO – Die Menschenrechte)

 

 

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich

(Grundgesetz)

 

Alle Menschen sind Kinder Gottes, und alle müssen werden, was sie sind

        über den anspruchvollen Weg der Freiheit

(Benedikt XVI)

 

Alle Menschen sind Künstler (Joseph Beuys)

 Alle Menschen sind Philosophen (Sir Karl Popper)

Alle Menschen können Theater machen (Augusto Boal)

Alle Menschen können zusammen lernen (LEBENSHILFE)

 

Alle Menschen können Lesen und Schreiben lernen

Alle Menschen sind denkende und fühlende Wesen

Alle Menschen lernen Sprachen sprechen

 

Alle Menschen sind begabt.

 

 

Der Weg zur Anerkennung der Begabung aller  führt über die Verwirklichung von

Menschlichkeit[11], Freiheit und Autonomie, auch beim Lernen!

Das verlangt demokratisches Denken und Handeln in Familie, Schule und Gesellschaft

 

 

Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“. (Albert Einstein)

 

 

Das verlangt eine Schule ohne innere und äußere Selektion!

 

 

 

Schule muss begabter werden!

 



[1] In den vielen Ländern der Welt mit Einheitsschulen, die auch keine „Förder“- oder „Sonderschulen“ kennen, gibt es erst gar nicht „unsere“ Möglichkeiten der Aussonderung.  Hier wird mit jedem Kind gearbeitet!

[2] „Leistungsdruck“ ist ein irreführender Begriff, bei dem der Anspruch an „Leistung“ nicht mehr den ökonomischen, kulturellen und demokratischen Bedingungen unserer Gesellschaft entspricht. Er entspricht dem von den „Leistungsdruck“- Schulen gemachten Druck, der die intrinsische Motivation zum Lernen dem Zwang zum Lernen unterordnet. Was bleibt ist der „Druck“. Dieser hat sich zum Kult entwickelt, der die Beibehaltung eines veralteten Schulsystems begründet und rechtfertigen soll.

[3] So kommt der Begriff „Autismus“ nach MCD, Hyperaktivität und HDAS in Mode.

[4] Nicht die Menschen sind als „durchschnittlich“ gemeint, sondern die Struktur von Schule selbst

[5] Wöchentlich bietet eine andere Lehrerin mathematische Aufgabenstellungen an. Aus jeder Klasse kommen zwei Kinder, die mit den anderen das Problem lösen lernen, um es dann zwei Kindern in der eigenen Klasse beizubringen. Diese kommen zum nächsten „Adam-Ries-Kreis“. (mehr auf:  www.grundschule-harmonie.de)

[6] Viele Bücher von Alice Miller mögen hier weiterhelfen

[7] Lesen Sie sein Buch…., damit sie wissen, was für ein Unsinn dort mit geschickten Argumenten verknüpft wird.

[8] Nicht zufällig nannte Frederic Vester sein bahnbrechendes Buch aus den 70iger Jahren, das Hirn- und Lernforschung verband, „Denken, Lernen, Vergessen“.

[9] Ein gutes Beispiel dieses Denkens gibt:  Wilhelm Rotthaus, “ Wozu erziehen? Entwurf einer systemischen Erziehung“

[10] Neuere Untersuchungen scheinen darauf hinzuweisen, dass Neurosen, Traumata, Stressverhalten nicht nur erzieherisch-sozial weitergegeben werden, sondern auch als genetische Information, ohne dass dies den betroffenen Erwachsenen bewusst wird. Sie können durch positive Erfahrungen wieder weggearbeitet werden.

[11] „Menschlichkeit“ ersetzt den Begriff der „Brüderlichkeit“