Der folgende Aufsatz von Paul Le Bohec wurde von Ulrike Strombach in einer Rohfassung übersetzt und inklusive der Fußnoten von Walter Hövel überarbeitet.

 

 

 

Ergreife Besitz von einer Idee, die vorher von dir Besitz ergriffen hatte

 

Wie wir von Ideen anderer lernen

 

von Paul Le Bohec

 

 

 

"Sich selbst beobachten, ist das klug? Ja, gut, einverstanden."

 

Ich habe so eben einen Artikel gelesen, der mir erlaubt, mir des besonderen Fortleben einer

 

Idee bewusst zu werden. Beim Fortleben einer Idee habe ich die Vorstellung von der DNS,

 

die durch die Fortpflanzung viele Körper bewohnte, also durch vererbte Informationen zu

 

immer neuen Formen und Ergebnissen führt. Es handelt sich um einen in der "Cooperazione

 

Educativa" erschienenen Artikel von Walter Hövel, ein deutscher Englischlehrer.

 

 

 

Aber bevor wir auf Walter zu sprechen kommen, müssen wir viel weiter in die Zeit zurück

 

gehen. Denn, wie hatte ich mir selbst die Idee des Freien Textes von Freinet zu eigen machen

 

können? Und Freinet selbst?

 

 

 

Als Lehrer volkstümlicher, ländlicher Herkunft hatte er Rousseau, Pestallozzi, Bovet,

 

Claparede, Ferriere...gelesen. Aber durch eine Verletzung an der Lunge während des Krieges

 

1914-18 hatte er das Hauptwerkzeug des Lehrers von damals nicht benutzen konnen: die

 

Stimme. Denn er ermüdete sehr schnell. Dieser Umstand hat ihn dazu verleitet, die Ideen der

 

Philosophen und Pädagogen in die Praxis umzusetzen. Er wurde in gewisser Weise dazu

 

gezwungen, sich für die Interessen der Kinder zu interessieren. Es hat ihm also die

 

Notwendigkeit aufgedrängt, die Ausbildung der Kinder auf ihre eigenen Erfahrungen, auf ihre

 

eigene Kultur zu stützen. Und als er auf die Idee der Druckerei kam, konnte dieser Gedanke

 

konkrete Gestalt annehmen.

 

 

 

Und ich, was hat mich dazu verleiten können, mir die Idee Freinets zu Herzen zu nehmen?

 

Als Kind spielte ich gerne mit den Jungeren, zweifellos, weil die Großen mich mit ihrer

 

körperlichen Stärke und ihrer Brutalitat erschreckten. Und, da ich meinen Vater liebte,

 

konnte ich seinem Wunsch nach mehr gesellschaftlichem Ansehen für die Familie

 

nachkommen, indem ich Volksschullehrer wurde. Und als ich Freinet kennenlemte, endete

 

sofort der Schmerz um den Tod meines Vaters, - er war drei Jahre zuvor durch eine

 

Lokomotive getötet worden. Denn der Todesschmerz ist Reinvestition. Und zu dem erkannte

 

ich bei Freinet ein ähnliches Verlangen nach dem Erfolg der Kinder aus dem Volke.

 

Also konnte ich mich nur von ihm anstecken lassen. Und ich bin lang und treu genau seiner

 

Lehre gefolgt, auch wenn ich mich überwinden musste, da ich lieber meinen eigenen

 

Vorstellungen folge. Jedoch dank Freinet, Elise Freinet, Jeannette, Hortense Robic,

 

Delbasty habe ich mich total der großen Idee der "Natürlichen Methode" hingegeben. Aber

 

der Ursprung bleibt meine Umgebung mit meinem Vater, - und meiner Mutter, durch und Sprachwissenschaft gefesselt.

 

 

 

Jedoch verspürte ich sehr schnell das Verlangen zu experimentieren, es war wie ein Druck in

 

mir, der nach Befreiung suchte, der seinen Weg finden musste. Erst auf dem internationalen

 

Treffen 1979 in Landerneau habe ich es gewagt, ein Atelier zur "Natürlichen Methode"

 

anzubieten. Ich schlug vor mit ihr Esperanto zu lernen"*. Ich begann meine Idee zu

 

verwirklichen. Im Anschluss daran habe ich weiter experimentiert, um brasilianischen

 

Analphabeten um Dänisch, Finnisch und Französisch zu lehren.

 

 

 

Und so geschah es, dass einige Sprachlehrer ihrerseits von dieser Idee erfüllt wurden. Und das

 

ist es, was mich am meisten erstaunt hat. Denn für mich, ob es in Landerneau oder beim

 

Treffen in Dänemark war, geschah dies nur aus Neugierde. Ich wollte ein Experiment in

 

einem günstigen Niveau durchführen.

 

 

 

Aber Dietlinde Baillet hatte dies ernst genommen. Während des folgenden Jahrs hatte sie

 

Deutsch auf diese Weise in der Sexta unterrichtet. Das hatte mich ein bisschen erschreckt. Ich

 

fühlte mich ein wenig verantwortlich fur das Durcheinander, dass diese verruückte Idee

 

verursachen konnte. Aber es gab kein Durcheinander. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, dass

 

auch Beth Deutschen Schwedisch auf diese Weise beibrachte. So war ich in Brasilien schon

 

viel überzeugter vom Ernst dieser Angelegenheit. Und es handelt sich bei der Unterrichtung

 

von Analphabeten nicht mehr um ein Spiel.

 

 

 

Doch kommen wir nun zu Walter. Wie ließ er sich von dieser Idee beschlagnahmen?

 

Ich erinnere mich daran, ihn in unseren Arbeitsräumen in Dänemark oder Finnland gesehen

 

zu haben. Aber beim internationalen Treffen in Deutschland 1989 in Oer-Erkenschwick hatte

 

er meiner Einführung in die "Natürliche Methode" für Mathematik, den Spracherwerb und das

 

Zeichnen beigewohnt*.

 

 

 

Es ist zweifellos die allgemeine Theorie der Methode, die ihn verführt haben muss. Was er

 

tut, entspricht jedoch nicht meiner Ursprungsidee. Von der Idee besessen, hat er sie

 

beherrscht, domestiziert, mit Beschlag besetzt, damit sie seinen eigenen Bedürfnissen dient.

 

 

 

ICH blieb näher an der Theorie des Fremdsprachenerwerbs. Allerdings hatte ich weniger Zeit

 

für die praktische Realisierung. Und, ich ignorierte total, was nach dem Einstieg passieren

 

konnte. Es ist mir passiert, dass ich beim Gebären einer neuen Idee mitwirkte, aber ich habe

 

nicht darauf geachtet, was das für Folgen hat. In Brasilien zum Beispiel hatte ich den Anlasser

 

betätigt, um den Motor in Gang zu bringen. Aber es gehörte zur Aufgabe der

 

Analphabetinnen zu sehen, ob sie unter ihren eigenen Bedingungen in der Lage waren, die

 

Kupplung zu betätigen. Dietlinde, die im Elsas unterrichtete, hatte naturlich ähnliche Ideen.

 

Und Walter, er hat meine so reine Methode umgangen! (Ja, ein Embryo, ein bisschen

 

Methode.) Er hat von vorne herein Englisch durch seine Schüler kreieren lassen. Das, ja, das

 

war gut. Aber sie (sie und er) haben festgestellt, dass Englisch mindestens auf dem Gebiet des

 

Bekleidung, bei den Reisen, der Nahrung, den Publikationen,.... Dieses voreilige

 

Hineinstürzen, sich einlassen auf die Realitat hat mich zuerst enttäuscht. (Allerdings bin ich

 

gegenüber dem objektiv konkret Praktischen allergisch.) Beinahe hatte ich "Skandal",

 

"missbräuchliche Entfremdung" geschrien. Denn ich sehe diesen Vorgang des Lernens von

 

Sprachen nach der "Natürlichen Methode" eher als Wieder-Erschaffung", als "Wieder-

 

Erfindung" der Sprache. Bei mir stehen der personliche Ausdruck, die Inhalte, das

 

Gefiihlsgedachtnis, die Verhältnisse, die Beziehungen in der Gruppe, die Kultur selbst mehr

 

im Mittelpunkt. Das musste übrigens auch bei Walter und seinen Schulern existiert haben,

 

auch wenn sie sich dessen nicht bewusst waren. Aber sie zielen eher auf eine praktische,

 

sofortige Anwendung der Sprache hin. Und in diesem vereinten Europa, - haben sie nicht

 

recht? Na ja, es geht schon alles seinen Gang.

 

 

 

Ist nicht schon die Tatsache, dass sie ein Jahr durchgehalten haben wunderbar, trotz der

 

Schwierigkeiten, die man seitens der Eltern und der Verwaltung ahnt...und auch angesichts

 

der Ungewissheit, der Angst vor dem Erfolg. Es handelte sich nicht um einen Versuch an ein

 

paar halben Tagen, sondern sie arbeiteten mit Walter, wie auch bei Dietlinde, ein ganzes Jahr.

 

Welch eine Kühnheit, welch ein Mut, und, es hat auch noch funktioniert. Am Ende des Jahres

 

wussten die Kinder von Walter im schlechtesten Fall genau so viel wie die anderen. Aber, das

 

entscheidende ist, sie hatten in dieser Zeit anders gelebt!

 

 

 

Ja und jetzt frage ich, wie macht es Marta Fontana, die Walters Artikel übersetzt hat? Auf

 

welche Grundlagen stützt sie sich, wenn sie als Englischlehrer in die "Natürliche Methode"

 

praktiziert? Auf den Impuls des Einstiegs, den Ausdruck, auf die Kommunikation in einer

 

positiven Gruppe?

 

 

 

Kümmern sich die italienischen Kinder weniger um die Spuren, die das Englische in ihrem

 

Land hinterlässt? Interessieren sie sich mehr für Chansons oder für Rock? Ich weiß es nicht.

 

Und Tereza Lima Barros aus Brasilien? Hat sie ihre Leidenschaft, die sie der "Natürlichen

 

Methode" entgegenbrachte, fortsetzen konnen? Wie sieht ihre Methode des Englischlernens

 

nun aus?

 

 

 

Anscheinend kann man, durch alles was oben gesagt wurde, auf ein wichtiges Element der

 

Freinetpadagogik hinweisen. Weil wir menschliche Lebewesen sind, die in Gemeinschaften

 

leben, werden wir von Natur aus von Ideen besessen. Aber besteht nicht die Arbeit eines

 

jeden von uns allen darin, sich dieser Ideen zu bemächtigen, sie zu bezwingen, und sie in

 

seinen eigenen und den Dienst der menschlichen Gemeinschaft zu stellen? Außerdem kann

 

sich niemand als Herr oder Besitzer einer Idee deklarieren! Wir sind zu sehr in der Noosphäre

 

("Die Welt der Idee", Edgar Morin) versunken. Und die Ideen profitieren von unseren

 

persönlichen Umständen: Familie, Gefühlsleben, Ereignisse, Neigungen, physische und

 

psychische Konstitution, soziales Umfeld...um sich in unseren Geist wie ein Virus ein zu

 

schleichen und sich dort nieder zu lassen. Aber dank unseres Immunwiderstandes werden wir

 

sie immer wieder packen und sie zwingen, fur uns zu arbeiten.

 

 

 

Bachelard (Le Rationalisme Applique) sagt dazu: "Ein Schüler zu bleiben muss der geheime Wunsch eines Lehrers sein. In der Tat gehen die Gelehrten in die Schule des Lehrers und des Schülers. Die Dialektik des Lehrers und seines Schülers polt sich um. Es gibt die Elemente einer dialogischen Pädagogik, wo weder Macht noch Innovationskraft zu Argwohn in der Gemeinschaft dieser Wissenschaftler führt."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

' Erschien in Deutschland in Ingrid Dietrichs Handbuch Freinetpadagogik: Walter Hövel, "Methode naturelle" in Englisch. Ein Bericht uber

 

das erste Jahr Englischunterricht in der 5a, S.229-240, Weinheim und Basel 1995; und Fragen und Versuche Nr.54.

 

 

 

^ Jeannette Le Bohec, seine Frau, mit dar er viele Jahre an einer Schule arbeitete. In Fragen und Versuche Nr.6, wurde ein Artikel von ihr

 

unter dem Titel "Das fianzosische Paradies" veröffentlicht, in dem sie den wiederkehrenden Vorgang der Selbst-Verunsicherung schildert,

 

wenn mensch wieder einmal mit einer Freinetklasse beginnt.

 

 

 

Mitglieder der frz. Freinetbewegung. Ein Aufsatz von Freinet und Robic ist zu finden in: C.Koitka, Freinetpadagogik, "Die Organisation

 

der Klasse", S.63-77, Frankfurt am Main 1989

 

 

 

* Er beginnt mit da Aufforderung; "Schreibt alle einen Satz in Esperanto”. Die Sätze werden korrigiert, und dann von den Schreiberinnen an

 

die Tafel geschrieben. Nun analysieren alle die Sätze an der Tafel, um Syntax, Semantik, Grammatik und den Wortschatz entdeckend,

 

"wiedererfindend” zu erarbeiten. Das gemeinsam durchgearbeitete Material und Wissen ist in den fortgeführten Experimenten mit da

 

Sprache nun Grundstode zur wehaen intuitiven Produktion von Texten und Sprache. Wenn Paul Le Bohec die zu lernende Sprache selbst

 

nicht beherrscht, begleitet ihn ein "native speaker" , da sie oder er aber nicht die Sprache lehrt, sondern den Prozess nur begleitet, um die

 

richtigen Produkte zu bestätigen und um die Produkte ohne Problenuitisierung zu korrigieren.

 

 

 

Eine französische Kollegin aus dem Elsass. Sie veröffentlichte: Ditlinde Baillet, Freinet- praktisch, Weinheim und Basel, 1989

 

 

 

Beth Adams-Ray lebt seit vielen Jahren in Deutschland und gab mit Christiane Bartel die Kartei "Spielt mit den Schatten!" bei der Päd

 

Koop heraus.

 

 

 

Es war 1982 in Bonn bei einer Freinet-Foitbildungswoche. Paul Le Bohec referierte zu "Patricks Zeichnungen" und "Verstehen heißt

 

Wiedererfinden. Natürliche Methode und Mathematik", Bremen 1993 und 1994er

 

Und da zweistündigen Veranstahung "Esperanto lernen mit der Methode Naturelle"

 

 

 

Marta Fontana lebt und arbeitet in der Nähe von Neapel. Sie publiziert seit Jahren regelmäßig im Multilettre, der einmal jährlich

 

erscheinenden Zeitschrift der internationalen Freinetbewegung