Walter Hövel
Kunst und Mathematik


1994 machten wir auf einer einwöchigen Fortbildung die Ausstellung zu einem Atelier „Kunst und Mathematik“ im Schloss Gnadenthal bei Kleve.

 

Wir waren 11 Lehrer*innen, die sich in diesem „Langzeitatelier“ täglich an einem Morgen auf einer „Freinetwoche“ der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in einem Mathe- oder/und Kunstatelier zusammengefunden hatten.

 

Damals war es bei Lehrer*innen der Grund-, Haupt-, Gesamt- und Sonderschule, seltener in anderen Schulformen so üblich, für eine Woche „auf Fortbildung zu gehen“. Für immer gut bis zu 100 Teilnehmer*innen boten Freinetleute Wochen und/oder Wochenenden an. In der Zeit war ich mindestens einmal im Monat auf solchen Veranstaltungen. Ich bot gerne Kurz- oder Langzeitateliers oder schon Vorträge an, Oder ich begab mich zu Leuten, um von ihnen zu lernen.

 

So lernte ich nicht nur vom selbst organisiertem und eigen bestimmten Lernen der Kinder, sondern die gut 30 Jahre meines Lehrerdaseins von Teilnehmer*innen oder als Teilnehmer der Lehrer*innenbildung. Ich tat dies seit 1982 gut 20 Jahre lang. Dann kamen die nächsten 20 Jahre Unmengen von Menschen zu meiner Schule oder ich ging im In- und Ausland zu Vorträgen oder zu Universitätsseminaren.

 

Unvergessen ist dieses Atelier, das wir in Kleve machten. Die Grundidee bekam ich auf einer Kunstausstellung in Duisburg, zu der mich Ulrike Meyer-Strombach mitnahm. Der Künstler und Hochschullehrer Dietmar Guderian stellte Bilder aus, die mit Mathematik zu tun hatten. (1) Schon immer versuchte die Kunst „Probleme“ mathematisch zu lösen oder Mathematik künstlerisch darzustellen. Heute tun und können das mehr.

 

Elf Menschen entschieden sich für meine Idee in einem Langzeitatelier „ihre Mathematik in ihre Kunst“ zu packen. Ihre Titel hießen unter anderem „Tri-Trichter“, "Infang und Umhalt“, „Bereinigte Zahlen“, „Konfetti stapeln“, „Das Seil um die Erde“, „Würgender“, „Die Einkleidung der Braut“, „401 auf 3000 mal 100mm, „Manxhatton“, „Vorspiel zum Möbiusband“ oder „Right im Winkel“. Sie redeten nicht, sondern brachten sich und ihre mathematischen Aufgaben in ästhetische Formen. Sie lösten „ihre Probleme“ künstlerisch.

 

Einer von ihnen, wohl Andreas Boxhammer von den „Die Daktiker“, einem heute noch bekannten Kabarett aus Dortmund, schrieb wohl den Text zur Präsentation in Form einer Vernissage:

 

Experimentelles Atelier: Kunst & Mathematik

Zahl, Fläche-Raum – Grundenergien unseres Universums, gebannt in Tonpapier und Speckstein.

Linie, Farbe, Form – Grundelemente unserer Ästhetik, erfüllt durch Hunderterraum und Bruchteil.

 

Fasziniert und verworren, erfreut und befremdet, betroffen und besoffen schwankt die Betrachterin zwischen Einerseits und Brechreiz angesichts der hier angesammelten strukturellen Enigmation und materialen Kryptik 'Alles verstehen heißt alles verzeihen.' (Hl. Veronika von Versailles)

 

Was sie in der Grundschule nie verstand, hier wird der aufmerksamen Betrachterin alles immanent transparent: Großes und kleines 1x1, Primzahlzerlegung, Flächeninhalt und Umfang, Pi und das korrekte Verhalten auf dem Abort werden ihr hier spielerisch-ästhetisiert-transformiert-verschmiert vermittelt.

 

Wer genau beobachtet, wird mit vielen entdeckenden Erinnerungen, ja. erinnernden Entdeckungen reich belohnt. Wer kennt ihn nicht, den schönen Abzählreim: '1, 2, 3, 4, Speckstein – alles muss versteckt sein'! Und so wird es einem dann am Ende, ganz am Ende begegnen: das Plazu.

 

Die Ausstellung ist bis zum 11.11.1994 geöffnet.“

 

 

Fortbildung war für Erwachsene gedacht. Sie experimentierten nicht an oder für Kinder, sondern an sich selbst. Mit dieser Botschaft und Erfahrung gingen sie zurück in die Schule. Einige verstanden ihre Erkenntnisse an Kinder und Jugendliche ab- und weiterzugeben. Sie erweiterten so die eigenen Rechte und die aller Lernenden.

 

(1) 

Mathematik in der Kunst der letzten dreissig Jahre: Von der magischen Zahl - über das endlose Band - zum Computerprogramm