Walter Hövel

 

„Die Kindheit ist unantastbar“

 

Ein Buch von Herbert Renz-Polster, erschienen 2014 bei Beltz

 

 

Herbert Renz Polster ist Kinderarzt in Frankfurt am Main. Ich begegnete ihm auf

 

einem Kongress der „balance“, den Freinetleuten in der Kita. Er hielt die

 

Hauptrede vor vielen Hundert Menschen.

 

Er begeisterte mich. Er inspirierte mich mit seinem ersten Satz zu einem Artikel (1).

 

Der Satz hieß „Wir sind das Dorf“. Ausgehend vom afrikanischen Leitsatz, dass

 

„Erziehung“ das ganze Dorf braucht, gab er uns den Auftrag als existierendes

 

Dorf die Bildung unserer Kinder selbst zu verantworten.

 

Neulich gab mir Ben Schreiner aus Luxemburg „sein“ Buch „Die Kindheit ist

 

unantastbar“ in die Hand. Zugegeben, ich lese selten Bücher, weil ich den

 

meisten nicht glaube. Aber dieses las ich.

 

„Bürgerliche schlafen oder dröhnen sich voll, weil ihnen bewusst ist, dass sie selbst nichts ändern können,

 

weil sonst die Blase, in der sie leben, platzen könnte.“ (Ben Schreiner)

 

Im Folgenden gebe ich einfach Zitate wider, die ich von Renz-Polster aufschrieb.

 

Einige Zitate schrieb ich selbst, angeregt durch seine Worte. Andere Fakten fand

 

ich, während ich sein Buch las.

 

Nur einmal hatte ich das Gefühl ihm zutiefst widersprechen zu müssen. Ich

 

stimme nicht mit seiner Aufteilung der „amerikanischen“ Freiheit und

 

französischen „Gleichheit“ in unserem Denken überein. Bei mir stehen die

 

Menschenrechte als primärer Leitfaden darüber. Aber ich glaube, genau das sagt

 

er im Endeffekt.

 

„Respektieren wir unsere Kinder und Jugendlichen als eigenständige Persönlichkeiten, die ein Recht haben über

 

ihr jetziges Leben mitzubestimmen, oder sehen wir sie primär als zukünftige Arbeitskräfte, deren fachliche

 

Qualifikationen zu trainieren die vorrangigste Aufgabe von Schule sein sollte? ... In dieser Frage müssen wir

 

persönlich und politisch Position beziehen.“ (Hans Brügelmann)

 

Herbert Renz Polster:

 

„Ich halte die jetzt in alle Lebensbereiche

 

vordringende Ökonomisierung für das zentrale Thema der heutigen Bildung“ -

 

„Dieser Machtwechsel von den Staaten hin zu den Konzernen ist Realität“. -

 

„Unser Sozialstaat...geht nicht durch ‚Sozialschmarotzer‘ kaputt, sondern durch

 

erfolgreiche transnational aufgestellte Unternehmen“ – „Große Unternehmen

 

drohen nicht nur mit Flucht, um keine Steuern zu zahlen. Normale Bürger können

 

nicht ernsthaft mit Flucht drohen. Und sie werden gegen die aufgehetzt, die vor

 

Tod und Verhungern in die Flucht getrieben werden.“ – „2014 sind bereits 25.000

 

Kitas als ‚Haus der kleinen Forscher‘ zertifiziert.“ - McKinsey, Siemens,

 

Bertelsmann, VW, Telekom, SAP und der Staat wollen „Häuser der kleinen

 

Forscher“. Keiner bezahlt ein „Haus der kleinen Ärzte, des kleinen

 

Pflegepersonals“ oder gar der kleinen Kinder.

 

(1) Walter Hövel. Kinder brauchen das ganze Dorf. In: Rabensteiner/ Rabensteiner. Internationalization in Teacher

 

Education. Interculturality. Volume 2. Schneider Verlag. 2014. S.187-214. http://www.walter-

 

hoevel.de/schulentwicklung/kinder-brauchen-das-ganze-dorf/

 

„...weil das didaktische Modell häufig eben doch in einer Art pädagogischer

 

Belauerung mündet, hat es in meinen Augen durchaus auch einen autoritären

 

Kern.“ - „Zumindest muss mit Gegenwind rechnen, wer ... Dinge fordert wie etwa:

 

mehr kreatives Denken, mehr Augenmerk auf die Sozialkompetenz oder gar auf

 

die von den Schülern selbst bestimmte und selbst organisierte Bildungsinhalte“ -

 

„Wer im Leben in die Enge getrieben ist, hat es auch mit seinen Beziehungen und

 

damit auch in der Erziehung schwerer.“ - „Tatsächlich werden in Deutschland

 

Erziehungsratschläge bis heute gerne mit Theorien des Behaviorismus

 

begründet“ - „Das Problem schlecht auf das Berufsleben vorbereiteter

 

Jugendlicher, rührt übrigens nicht daher, dass ... die heutige Generation nicht

 

hart genug angefasst wird, wie manche hilflose Seelen behaupten.“ - „Was uns

 

als die beste Erziehung für unsere Kinder erscheint, ... hat vielmehr damit zu tun,

 

für was sie einmal gebraucht werden“ – „Wir brauchen keine totale Pädagogik. Sie

 

sollte uns vielmehr Angst machen.“

 

„Das Konzept der frühen Bildung führte eindeutig nicht vom Kind zum Konzept,

 

sondern vom Konzept zum Kind“ -

 

 

„Wie wir die Kinder sehen, hat nichts mit dem

 

zu tun, wie Kinder sind.“ -

 

„Man kann ein Kind nicht darüber belehren wie es stark wird. Mitgefühl

 

kann man einem Kind nicht beibringen. Soziale Kompetenz lässt sich

 

erst recht nicht anerziehen. Kreativität kann man nicht erarbeiten, nicht

 

einmal üben. Es braucht eigene Erfahrung und eigene

 

Auseinandersetzung mit der Welt.“

 

 

„Wie soll jemand, der sich lustvolle Freiheiten nimmt, ein guter Untertan werden?“

 

Die - von mir verstandenen - 5 Grundsätze des Herbert Renz-Polsters

 

- „Primum non nocere“

 

- Zuerst nicht schaden! Kinder lassen können.

 

- Eine an Beziehungen und Erfahrungen reiche Umwelt bieten. Kinder entscheiden ihr Leben selbst.

 

- Immer klar haben, dass Bildungsfragen Gesellschaftsfragen sind. Und hierbei gibt es Mächtige und

 

(!) Gegenbewegungen.

 

- An die eigene und die Kraft der Menschen glauben. Fragen können.

 

- Jede Veränderung sind die Kinder selbst. Ihr Fundament ist ihre Persönlichkeit. Kindheit ist ein

Persönlichkeitsrecht.

 

Eigene Zitate

 

„Dieses Land glaubt sich Millionen von Arbeitslosen halten zu können. Es glaubt,

 

Flüchtlinge ausweisen zu müssen, Billiglöhne und Harz4 zu zahlen, „Migranten“

 

als Menschen 2.Klasse zu halten. Es glaubt, Milliardengeschäfte als Wirtschaft

 

und Staat machen zu können. Und dann fehlen allerorten Bus- und LKW-Fahrer,

 

Pfleger, Polizisten, Erzieher und Lehrer. Es fehlen Zeit, Sinn, Bewegung und

 

Gesundheit. Vielen fehlt der Mut zum eigenen Handeln.“

 

„Ab wann kann ein Kind sich aufsetzen, laufen, reden, sich anziehen, ernähren

 

 

(2) Wenn auch sprachlich etwas altbacken, lohnt es sich noch immer den Aufsatz von Célestin Freinet “Arbeit und Spiel“, S. 247ff. in Hering/Hövel, Immer noch der Zeit voraus, nachzulesen.

 

 

oder einen Vortrag halten? Ein Kind ist von Geburt an ein Mensch.“

 

„Es reicht nicht an Schulen demokratische Formen zu lehren. Jede(r) kann dort

 

demokratische Inhalte leben und lernen.“

 

„Schulische Bildung wird als Mittel zur Domestizierung von halbwegs wild

 

lebenden Menschen erprobt.“

 

„Wir brauchen Lehrer*innen, die nicht einfach für den Lehrplan, das Fach und den

 

Staat, sondern Demokraten, die zuerst für die Kinder und sich selbst arbeiten.“

 

„Wir brauchen Lernlehrer*innen aus den unteren Schichten, aus der Masse der

 

Migranten und Flüchtlinge, normale‘, pädagogisch ausgebildete und (!) begabte

 

Lernkünstler, die nicht mehr unter-richten oder belehren, sondern verstehen und

 

demokratisch lernen.

 

„Die besten Lehrer*innen sollen Lehrer*innen lehren wie Menschen selber lernen.“

 

„Viele unserer Lehrkräfte kommen aus den Mittelschichten. Da sie oft die Kinder

 

nicht verstehen, sehen sie ihr Handeln nicht politisch-pädagogisch. Zu viele

 

suchen Lösungen in psychologischen Therapieformen.“

 

 

„Freinet stammte aus einer unterprivilegierten Klasse. Das Unrecht, das diese Klasse erleiden musste, hatte ihn dazu gebracht, die Fragen von Schule, Erziehung und Unterricht neu zu überdenken“ (Paul le Bohec)