Walter Hövel
Schulbesuch

Geschrieben zwischen 1970 und 1973

 

Eines jener öffentlichen Gebäude.
Angenehm geheizt, wenn man aus der frühen Kälte einer dieser späten Herbsttage kommt.
Eine unscheinbare Holztüre, die einem erlaubt, ein zu schlüpfen in die Vorhalle,  mit Treppen, Anfängen von Gängen, mit Anschlagflächen und einem Cola-Automaten.
Eine lieblos in den Raum gestellte Vitrine, in der Mineralien, Muscheln und Seesterne ausgestellt sind, mit vergilbten Prospekten von Teneriffa und dem Harz. Irgendwann sicherlich der Stolz einer Schulklasse, jetzt übriggeblieben, verwahrlost.
An der Anschlagfläche strotzt ein Plakat mit schwarz-rot-goldenen Farben, „Deutschland nach 1949…“, daneben Brandschutzvorschriften, ein getippter Tagesordnungsvorschlag einer Versammlung der Schülermitverwaltung, mit Zusätzen von typischen Schriftzügen von Schülern, irgendwo schön, ungelenk – verschnörkelt.
Einen dieser Schülernamen kenne ich bereits. Ein ausländisch-klingender, mit „i“ endender. An der Mauer des Schulhofs stand einer dieser Schülersprüche, für die Erwachsenen unangenehmen Kinderreime: „Taggoni treibt’s mit Blondi“.
Weißgekälkte, hohe, triste Wände, wie die gesamte Atmosphäre.
Ein freundlicher, hilfsbereiter Hausmeister: „Da müssen Se noch 10 Minuten warten … Dat Lehrerzimmer? ... Vorne, gleisch reschts, dä erste Raum …“
Ein Blick in die Gänge.
Lang, weißgekälkt, rechts Türen, links, teilweise benutzte Kleiderhaken.
Ab und zu in der langgezogenen Stille der langen Gänge, Kinderstimmen, aggressive, verängstigte, - nie einzeln -, immer mehrere gleichzeitig, wie abgesprochen.
Dann aber, einzelne Stimmen: „RUHE, sonst passiert was…Ich mache das nicht länger mit!!! ...“
Frauenstimmen. Zweifelsohne Lehrer.
Sie verfehlen nicht ihre Wirkung auf mich. Ich erschrecke. Diese Stimmen sind direkt vor mir, trotz der Wände zwischen uns.
In dieser weißgekälkten Umgebung rechnet man schon mit irgendetwas, aber das übersteigt jede Erwartung.
Ein Gedanke: „Ob meine Stimme hier draußen auch so klänge, wenn ich vor der Klasse stehe?... Verdammt, … du hast schon des Öfteren vor Klassen gestanden … Um Gottes Willen … Nein…“
Es sind die Stimmen wie von Verzweifelten, rau, hysterisch, unkontrolliert.
„Es ist die Wirkung der weißgekälkten Wände … Du bist nur in Gedanken … von der Wirkung der Akustik überrascht…“
Doch da wieder die gleiche Stimme.
Aus einem anderen Raum.
Es sind Schreie.
Gefährliche, mechanische, drohende, weißgetünchte Schreie.
Da stehe ich hilflos, entsetzt, zwischen den Mauern. Hinter den Mauern, Menschen, Kinder in den Räumen, zur Erziehung freigegeben.
Dann ein Geräusch, das ich vorher eigentlich mit Entsetzen erwartet hätte, das schrille Läuten der Schulglocke. Doch es ist kurz, fast erlösend.
Pause, große Pause; die Gänge gerade noch leer, füllen sich mit Menschen. Kinder strömen aus der angenehmen Wärme in die Kälte des Schulhofs. Einzelne sondern sich ab aus diesem Strom, Erwachsene, Lehrer, hin zu ihrem Raum, dem Lehrerzimmer.
‚Aber ich kann sie nicht wiedererkennen, nichts von der Bosheit ihrer Schreie in ihren Gesichtern; im Gegenteil, sie sind freundlich, menschlich.
Ich werde angesprochen: „Sie sind sicherlich Herr… Kommen Sie doch rein…“