Walter Hövel
Institutionen einer verändernden Pädagogik
Was Erstklässlern gefiel und dadurch auffiel
30 elementare Elemente

 

Zwei Kinder, Halvar und Leonie, interviewten 2004/2005 Erstklässler für die Schulzeitung. Das Jahr des Geschehens scheint keine Rolle zu spielen. Die „guten“ Dinge passieren heute nur in ein paar Grundschulen mehr. Bei weitem immer noch nicht so oft, dass die Schulen wirklich anders wären.

 

 

Was Erstklässlern an Schule gefällt[1]:
1 Rechnen - 2 Schreiben - 3 Lesen - 4 Englisch - 5 dass man Lernen kann - 6 Schwimmen - 7 Lehrer sind nett - 8 dass es eine Druckerei gibt - 9 es gibt genug zum Spielen - 10 die Fische - 11 die Wochenrückschau - 12 das Kinderparlament - 13 Schulversammlung - 14 Dichterlesung - 15 Versammlung - 16 gute Freunde - 17 die Übermittagsbetreuung - 18 das es AGs gibt - 19 Tanz AG - 20  Theater AG - 21 Tischtennis AG

An der Schule ist doof:
Manche Kinder rennen im Flur - Süßigkeiten mitnehmen

Das kann man ändern:
Dachbodengenehmigung - keine Äste rausreißen

 

 

Ich weiß nicht mehr, ob Leonie und Halvar Fragebögen vorbereitet hatten, ob sie nur die Meinungen sammelten, die ihnen die Erstklässler auf der Versammlung sagten, ob sie mit oder ohne Lehrer arbeiteten.

 

Ich vermute, dass sie alleine erst alle Antworten notierten und in einer zweiten Abfrage nachprüften, wie viele Kinder sich hinter die jeweilige Angabe stellten. So erhielten sie wohl eine Rangfolge.

 

Vielleicht war es auch nur ihre Reihenfolge, oder es war die Reihenfolge der Nennungen der Erstklässler.

 

Später veröffentlichten sie diese in der Schulzeitung. Das Interview fand auf einer Erstklässler-Versammlung statt.

 

Die Erstklässlerversammlung
Da wir bereits das jahrgangsgemischte Lernen 1.-4. aller Kinder in den Klassen eingeführt hatten, gab es spätestens nach 6 Wochen die erste Versammlung aller Erstklässler. Sie wurde von weiteren gefolgt, bis das Interesse der Erstklässler verschwand. Oder anders: Wie in Menschenleben üblich, leben Menschen sich von einer Lebensphase in die nächste, egal wie viel sie gelernt haben.

 

Aber erst mal waren sie als Schulneulinge neu in ihren Klassen-oder Familiengruppen. Und dieses Mal trafen sich „die Neuen“, weil sie gemeinsame Situationen und ihre eigenen Interessen hatten. Über 50 Kinder aus allen Klassen kamen ohne ihre Klassenkameraden vom 2.-4. ins Forum.

 

Sie erzählten, was ihnen in den Klassen gefiel und was nicht, was sie behinderte, was ihnen fehlte, wie sie mit der Klasse oder der gesamten Schule zurechtkamen. Wir fragten, ob sie sich eine andere Klasse oder eine andere Lehrerin wünschten. Wir hörten, was zu verändern war und was okay war.

 

Es ging nicht so sehr darum nur die gemeinsamen Interessen zu hören, sondern vor allem ihre individuellen. Wir hatten eine weitere Ebene, auf der sichtbar werden konnte, was die oder der Einzelne brauchte.

 

Wir, das waren die Schulleitung, ein bis zwei Lehrerinnen, Lehramtsanwärterinnen und einige Kinder des Kinderparlaments. Wir hörten zu und fragten manches spontan. Später berichteten alle in ihren Gremien. Wir änderten, oder sagten ihnen, wie sie es in den Klassen verändern könnten. Oft blieb die Umsetzung alleine bei den Erstklässlern, manchmal begleitete sie das Kinderparlament, manchmal halfen die Klassenlehrerin oder der Schulleiter.

 

Wir führten auch andere Teilversammlungen ein. Es waren die Mädchenversammlung, die der Jungen, die Klobesitzerversammlung, die der Buskinder, die der Einzel- und der Geschwisterkinder.

 

Es waren für alle die Englisch-, die Schul- oder die Montagsversammlung.

 

Das Rechnen auf dem ersten Platz
Was den Erstklässlern in der Schule am besten gefiel war „das Rechnen“. Wir hatten es gerade geschafft, die letzten Mathebücher aus den Klassen verschwinden zu lassen. Hier und da gab es ein Arbeitsblatt.

 

Aber im Zentrum der Mathematik stand das Material und das Aus-, Ver- und Messen selbst. Die KInder erfanden das eigene Rechnen mit weißen Blättern. Einige brachten sich schon im ersten Jahr das Dividieren bei. Kaum ein Kind wollte nichts mit Mathe zu tun haben.[2]

 

Alle Materialien wurden spielend, schmückend, bauend oder gezeichnet benutzt. Da wurde mit Loggix (runde Legos), Kapplasteinen, geometrischen Steckteilen und vielen Materialien mehr gearbeitet. Nikitinwürfel, Waagen, Messbänder, Mustersteine, Paketierungen, etc. etc., alle dienten irgendwem als Einstieg und wegweisende Beschäftigung. Lernwerkstättenprogramme aus Dortmund oder dem Klettverlag halfen. Aufgaben aus VERA-Tests, von Mathewettbewerben oder eigenen Sammlungen „intelligenter Mathematik“[3] wurden angeboten.

 

Wir Erwachsene lernten mit verschieden farbigen Muggelsteinen, Holzklötzchen, -platten und -stangen oder sogar mit dem Abakus Tauschsysteme, um dem Zehner- oder z.B. einem binären System gerecht zu werden. Es gab kein Rechnen mehr das, nur schreibend und auswendig gelernt, operationalisiert wurde. Alles wurde be-griffen. Alle tauschten bis zum Begreifen und be-griffen, wenn sie sich - auch über die Mathematik hinaus - von etwas keinen Begriff mehr machen konnten.

 

Sie stellten die Fragen, von denen ausgegangen wurden. Anderen halfen wir beim Fragen.

 

Wir machten mit den Kindern Werbewochen für Mathematik: Wir fragten, was sollen wir da lernen, wann ist Mathe spannend, wie lerne ich was, um was geht es eigentlich, was habe ich damit zu tun?

 

In unseren Morgenkreisen organisierten wir immer wieder Kleingruppen oder Partnerlernen um das Knowhow der Mathematik zu vermitteln. Manchmal konnten die Lehrer*innen etwas anbieten. Manchmal war es Holger, der kein Lehrer, aber Künstler und Musiker im Kunstraum war. Oder es waren andere Erwachsene, oft waren es die Kinder selbst, die Freunden zeigten, wie etwas geht. Wir durften bald feststellen, dass Kinder im Lehren besser als manche Erwachsenen sind.

 

Wir boten Mathe über das tägliche Selberlernen zunächst im „Adam-Ries-Kreis“, dann in der Kinderuni an. Gegen Ende der Grundschulzeit gab es für Viertklässler eine Vorlesung im Rahmen des Programms „Überleben in der Sekundarstufe I“. Hier wurde alles aufgezählt und gezeigt, was in Schule bis ins siebte Schuljahr in Mathe relevant ist.

 

Davor oder danach konnte jedes Kind einen Test machen, der VIERER“ hieß. Alle gängigen Aufgabenarten bis zum 7. wurden abgefragt. Die Kinder konnten alle Lösungen und verschiedene Lösungswege erfahren, die präsent waren. In den Klassen zuvor konnten die Kinder jederzeit einen so genannten „Überforderungstest“ anfordern.

 

Einmal war ich mit 8 Kindern der Schule beim fünftintelligentesten Mensch der Welt zu Gast. Er war Mathematiker, kannte noch Oppenheimer, saß im Rollstuhl und unterhielt sich mit den Kindern über mathematische Sachen, von denen ich keine Ahnung hatte.

 

Mathematik war eine Wunderwelt, in die die Kinder am liebsten eintauchten. Meine Meinung über jene abertausenden von Mathelehrern, die mir dies schon als Kind und in den folgenden Schuljahren vermasselten, ist bis heute nicht besonders hoch. Dabei helfen schon ein kleinwenig Montessori, ein paar Matheformate und ein paar spannende Aufgabenstellungen um es besser zu machen.

 

Im Hintergrund: Das Lernmittelfreiheitsgesetz
In NRW gibt es jährlich staatliche Gelder und Elternbeiträge, deren Höhe im Lernmittelfreiheitsgesetz festgehalten ist.

 

Als ich als Schulleiter zum ersten Mal keine Schulbücher bestellte, wollte die Gemeinde mir das verbieten. Sie hatten einen Buchhändler über den sie alle Schulbücher aller Schulen bestellten und dafür 10% in die Gemeindekasse erhielten. Ein Anruf im Ministerium reichte um festzustellen, dass ich sehr wohl andere Lernmittel und bei anderen Verlage bestellen darf.

 

So rüsteten wir mit den staatlichen Anteilen unsere Klassen mit Lernmaterialen und die Schule mit „richtigen“ Büchern aus! Die Elternanteile wurden von einem Elternteil jeder Klasse eingesammelt und davon selbstständig weitere Lernmaterialien für die Klassen bestellt.

 

Dies machte einen jährlichen Etat von gut 10.000€, inklusive „Sozialscheine“.

 

Das Schreiben* ist Zweiter geworden!
Auf dem zweiten Platz folgte das Schreiben[4]. Es gab an der Schule keinen Schreibunterricht. Die Kinder brachten sich das Schreiben selbst bei, damit sie Freude daran fanden, ihre eigenen Geschichten und Texte zu verfassen. Sie lernten auf Computern* zu tippen. Sie lernten schreibend ihre Plakate und Wandzeitungen zu erstellen. Sie lernten Notizen für ihre Präsentationen* zu schreiben. Sie lernten – in der Kinderuni* – sogar Liebesbriefe zu schreiben. Wir entwickelten mit jedem Kind seinen eigenen Weg zum Rechtschreiben[5].

 

Sie benutzten das Geschriebene als Mittel des Festhaltens des eigenen Organisierens und des eigenen Wollens. Das andere Schreiben diente dem eigenen Lernen. Sie drückten aus was sie beeindruckte. Sie beschrieben was in ihnen geschah. Sie nahmen wahr, fragten selbst und stellten Vermutungen und Hypothesen auf. Sie nutzten es zur Kommunikation und Kooperation. Sie versprachlichten was sie denken konnten und wollten. Sie eroberten sich alle, - die lange genug da waren, - die Sprache.

 

Die positive Umgebung gab ihnen die Sicherheit, dass sie auch schreiben können werden. Sie erfuhren sich nicht als die zu fördernden Nichtkönner, sondern wussten, dass auch diese Kompetenz in ihnen steckt.

 

Das Lesen* landet auf dem dritten Platz
Lesen ist cool. Wie sagte ein Kind im ersten: „Ich muss nur warten, dann kann ich lesen. Das können hier nämlich alle“. Das nennen wir stressfreies Lernen!

 

 Wenn der Wille da ist lesen zu wollen, findet jedes Kind seinen Weg das zu lernen. Die Landschaft um sie oder ihn herum, war eine riesige Leselandschaft.

 

Und sie hatten alle einen anderen Weg das Lesen zu lernen. Es gibt nicht „die richtige Lesedidaktik“. Am wenigsten bieten dies die Gleichschrittigkeit einer Fibel, aber auch kein „Lesen durch Schreiben“ als Methode für alle. Bis heute gibt es keine wissenschaftliche Erklärung warum oder wie die Menschen das Lesen lernen. Wir wissen nur, dass sie es tun.

 

Der eine konnte es schon bevor er schreiben konnte. Die meisten lernten es durch ihr eigenes Schreiben. Da war das Kind, das es über das Abschreiben von Texten lernte. Die Kunst ist, jedes Kind seinen Weg finden zu lassen. Einige konnten es schon als sie in die Schule kamen, andere lernten es in wenigen Tagen oder in den zwei bis drei dafür vom Lehrplan angesetzten Jahren.

 

Wir hatten über 5ooo Bücher an der Schule. Überall waren Computer online. Wir halfen jedem Kind sein Buch, sein Genre finden zu lassen. Es gab keine Produktion von Analphabeten.

 

„English* Four You“
Das eine war die Partnerschaft zu unserer englischen Partnerschule. Diese war die Aussicht in drei Jahren nach England zu fahren, mit Engländer*innen zu reden.

 

Es gab unser Comeniusprojekt unter dem Titel „Europe For You“. Englisch war an unserer Europaschule[6] immer die Kommunikationssprache mit den anderen[7].

 

Das andere Prinzip war, dass ich als Kind entscheiden konnte mit den Juniors oder Seniors zu lernen, und mir die Lehrerin oder den Lehrer aussuchen zu können. Und dazu konnte jedes Kind seinen Inhalt und seine Form finden, um auf seinem Weg Englisch zu lernen.

 

Alle Lehrer*innen der Schule boten Englisch an! Wir störten uns nicht um C1-Qualifikationen oder Abschlüsse. Wenn Grundschullehrer*innen zugemutet wird ohne Ausbildung Mathe, Sachunterricht, Sport, Musik oder Kunst zu geben, können sie erst recht die Grundsprache eines Europas lernen und vermitteln.

 

Wir entschieden uns als Lehrer*innen alle zur gleichen Zeit Englisch anzubieten. Wir kombinierten diese Angebote mit unserer besonderen Kompetenzen. Wir hatten immer junge angehende Lehrer*innen, die keinerlei Distanz zu diesem „Fach“ kannten und immer das neueste und wissenschaftlich und fachdidaktisch Uptodateste anboten.

 

Die eine machte Geografie und „A trip around the world“, die nächste malte und schrieb  „im Picture Book“, der nächste die Schulzeitung auf Englisch, die nächste lernte „outdoor“, weil die Welt voll ist mit Englisch. Die nächste machte nur Spiele auf Englisch, ob das Werwolfspiel oder den Old King Moustage. Da wurden Theaterstücke und Szenen auf Englisch gespielt, Lieder dargestellt, Schattentheater, Rhythm and Rhymes, Fantasy Workshops, Superpowerausbildungen gemacht.

 

Da wurden Mickey Mouse oder Harry Potter Filme im Originalgeschaut oder nach schottischen Science Experimente Karteien experimentiert. Da ging es auf das Englisch sprechende Piratenschiff in der Sporthalle, in die E-Mail-Gruppe, oder das virtuelle Dialoge-Dorf im Forum. Englische Filme wurden selbst gedreht, ein ganzer Abend wurde als englisches Fest vorbereitet oder es gab eine ganze Zirkusvorstellung auf Englisch. Da wurde Karneval in Briefen beschrieben oder da wurden Zwei-Wort-Dialoge gesprochen und gespielt. Und, und, und…

 

Wir haben angefangen nicht erst Englisch zu lehren, damit dann die Kinder sprechen. Wir haben die Kraft des Theaters und des Rollenspiels genutzt, um in englischen Dialoge die Sprache durch Sprechen zu lernen. Wir sprachen Englisch zuerst!

 

So kommt „Englisch“ auf einen sensationellen 4.Platz, wo andere Schulen noch mit englischen Schulbüchern und Vokabellernen quälen.

 

5. Platz: „Dass man Lernen kann“*
Und endlich kommt das erste Ur- Harmonie-Thema „Das Lernen“*. Ist damit der „Sachunterricht“ gemeint? Das Behandeln eigener Themen? Das Grundprinzip der Schule?

 

Ist es das „Selber Lernen“ generell oder ist es das Kompliment, dass der Sachunterricht“ das Hauptfach der Grundschule ist?

 

Kinder spüren wie sie lernen. Sie werden nicht – wie im Regelfall der Schule – mit Stoff gefüttert, gezwungen zu essen. Sie lernen sich selbst zu ernähren. Sie ernähren sich gesund. Sie lernen kritisch zu konsumieren, aber zuallererst in der Vielfalt und Verschiedenheit der Angebote der Welt ihr eigenes Essen, das was sie vertragen, zu finden[8].

 

Sie lernen mehr zu sehen, zu hören zu ertasten, zu schmecken, zu riechen. Sie lernen mehr zu fühlen, mehr zu denken, mehr zu fragen, mehr zu konstruieren, Systeme eher zu durchblicken. Sie lernen mehr versprachlichen zu können. Sie lernen den eigenen Lernwillen zu stärken, ihre Lernlust zu erhalten, ihre Aufmerksamkeit zu stärken und zu verstehen, welcher Lernertyp sie sind.

 

Sie lernen dies gemeinsam zu tun, ihre Umwelt zu verändern, sich selbst und andere zu respektieren und zu würdigen. Sie lernen selber und demokratisch in einer selbst geschaffenen Umgebung der eigenen und der anderen Menschenrechte zu lernen.

 

Sie können in kürzester Zeit Besuchern in eigenen Worten ihr eigenes Lernen erklären. Sie werden – wie Richtlinien des Staates es postulieren - zu „mündigen“ Bürgern. Aus ihren Mündern kommen die Worte ihres eigenen Erlebens und Handelns.

 

Es ist also nicht das Gleiche, wenn Schüler*innen irgendeiner Schule sagen, dass Schreiben, Lesen und Rechnen für sie das Wesentliche der Schule wären. Eher war es unsere Art wie wir Kulturtechniken verstanden, die sie beeindruckte.

 

Immer wieder erlebten wir, wie Kinder, die vorher eine andere Schule durchlebten, uns als ihre „Befreiung“ erlebten. Aber ihnen fiel die Umstellung auf die eigene Entscheidung oft schwer. Einige brauchten längere Zeit der Erholung oder der Übernahme der Freiheit.

 

Die Kinder, die von Anfang an bei uns lernten, erlebten uns als „Schule“. Sie wussten oder ahnten, dass sie diese besuchen mussten. Sie nahmen alles was es gab als das Normale. Sie drängten auf eine permanente Reform von schulischem Lernen. Sie entwickelten Vorstellungen der Weiterentwicklung dieses Lernens und, - lernten sich schneller auf andere, auch geschlossene Systeme einzustellen.

 

Wir erlebten Kinder, die vorher geschlossene Systeme erlebten, so, dass sie lange brauchten bis sie sich auf offene Systeme einstellen konnten. Dagegen lernten die Kinder, die erst offenen Systemen begegneten, sich besser auf geschlossene, wie die „weiter“führenden Schulen einzustellen.

 

Was auffiel: Das altersgemischte Lernen*
Irgendwann empfahl die damalige Landesregierung in NRW das Lernen in „jahrgangsgemischten Klassen“. Sie wollten mehr Öffnung des Unterrichts provozieren.

 

Unsere Schule kannte bereits das offene individualisierte Lernen trotz Jahrgangsklassen. Die Meinungen in unserem Kollegium gingen recht weit aus einander. Die einen sagten, dass wir die Jahrgangsmischung nicht bräuchten, die anderen, dass dies ein weiterer konsequenter Schritt wäre.

 

Also gingen wir einen zwei Jahre dauernden Weg, in dem sich Eltern und Lehrer*innen alle vorhandenen Modelle in der Schullandschaft ansahen. Die Schüler*innen diskutierten die Probleme in Klassenräten und im Kinderparlament rauf und runter.

 

Am Ende stand folgendes bei Erwachsenen und Kindern fest:

 

Die Kinder sagten: Wir werden weniger gleichaltrige Freunde in den Klassen haben. Also müssen die Klassen noch offener werden.

 

Das schafften wir. Die gesamte Schule wurde zur 9.Klasse der Schule mit einem eigenen Lernprogramm. Wir entwickelten zu den bereits vorhandenen Möglichkeiten der Öffnung der Arbeit der Klassen im Rahmen des Bekannten erst AGs, dann Projekttage, den Adam-Ries-Kreis, Vorlesungen und dann die Kinderuni. In den Montagsversammlungen machten wir das Gesamtgeschehen für alle transparenter. In den Klassenräten wurde z.B. klar, dass jede auch mit Kindern in anderen Klassen arbeiten konnte.

 

Die Erwachsenen (Eltern, Lehr*innen, andere Mitarbeiter) lehnten die Modelle ab, die die Schule teilten. Sie wollten weder die Aufteilung in eine Unter- und Oberstufe in Klassen 1/2 und 3/4, noch wollten sie eine „das Gymnasium vorbereitende Klasse“ durch eine Aufteilung in1/2/3 und 4.

 

Wir alle wollten Klassen von 1-4 oder „rollierende Systeme“, die mit 1/2 anfingen, daraus wurde 2/3, dann 3/4,  dann 4/1 und dann wieder1/2 …. Wir legten uns nicht fest. Wir wollten beide Systeme neben einander etablieren.

 

Aber es folgte eine schwarz-gelbe Regierung, die das „rollierende System“ verbot. So waren bald alle unsere Klassen, Klassen von 1 bis 4.

 

Viele Menschen sagen uns nach, dass dieses jahrgangsübergreifende Lernen der Grund für die entscheidende Abspaltung vom „Mehrheitsglauben des Volkes“ war.

 

Ich weiß nur, dass das Lernen über alle denkbaren Altersstufen einer Schule am ehesten dem Lernen der Menschen und ihrer Familien entsprach. Es war und ist einfach – ohne Abteilungsunterricht, bei offenem Lernen, - die natürlichste Art wie Menschen zu lernen.

 

Niemand von uns wollte in der Zukunft auf die Einführung des Jahrgangsübergreifenden Unterrichts verzichten.

 

6. Grund: Schwimmen
Die Verantwortlichen der Kommune sahen das Schulschwimmen immer als etwas Lästiges an. Selbst das Gymnasium konnte immer wieder nicht zum Schwimmen, weil die Reparatur des Bads für die Zeit vor den Ferien festgelegt wurde. Wir, die Schulen, hatten zu wenige Schwimmzeiten.

 

Wir kamen ab von der Schwimmzeit als Spaßzeit und achteten darauf, dass alle unsere Kinder schwimmen lernten. Daher begann das Schwimmen im Ersten. Jedes Kind hatte so lange Schwimmen bis es Schwimmen konnte. Dann war das nächste Kind dran. Wie die Kinder das akzeptierten!

 

7. Rang: Lehrer sind nett
Die meisten Kinder gehen noch gerne zur Grundschule, weil da ja gelernt wird, was jede/r lernen will. Die Grundschulkinder lieben in der Regel ihre Grundschullehrer*innen. Nur wenige von ihnen werden rechtzeitig als Frau Mahlzahn, angepasste Tantentypen oder überstresste, weil unterqualifizierte Schulmeister enttarnt.

 

Wir achteten darauf, dass wir allen Kindern in Augenhöhe begegneten. Wir achteten darauf, dass sie als Menschen und Kinder ernst genommen wurden. Wir achteten darauf, dass wir sie nie zwangen oder überredeten. Wir begegneten ihnen demokratisch und achteten auf die Einhaltung demokratischer Lernmethoden und Verhaltensregeln. Wir achteten darauf, dass das Lernen selbst demokratisch blieb.

 

Einmal hatten Kinder vor einem Lehrer Angst. Er ging. Einmal spannte eine Lehrerin Kinder vor ihren Karren. Auch sie ging. Ansonsten halfen wir Lehrerinnen und Lehrer uns gegenseitig auch dann nett zu bleiben, wenn der Alltag in Schule, die Familie oder man oder frau sich selber stresste.

 

Wir waren immer für jedes Kind da, aber nicht verantwortlich für sein Lernen. Das Nettsein als Lehrer*in verlangt psychische Gesundheit, eine Persönlichkeit, auf die Kooperationsangebote von Kindern und Jugendlichen adäquat eingehen und qualifiziert lernen lassen zu können.[9]

 

Der 8. wichtigste Grund:  Die Druckerei*
Im Forum stand jene Druckmaschine „Boston 36“ aus der Zeit im Zweiten Weltkrieg. In Köln wurden die Flugblätter gegen die Nazis auf ihr gedruckt. Heute gehört sie dem Kölner Zentrum gegen den Faschismus. In Eitorfer Rathaus hängt heute noch das Konterfei des Nazi-Bürgermeisters Ohligs.

 

Wir hatten noch die klassische Freinet-Druckerei. Buchstabe für Buchstabe, die Rechtschreibung beachtend, wurden hier die Texte der Kinder von den Kindern spiegelverkehrt gesetzt. Dabei halfen ihnen immer wieder Erwachsene. Auch druckten diese immer wieder alleine.

 

Hier sahen Kinder ihre eigenen Erwachsenen noch arbeiten.

 

Sie druckten gemeinsam. Gelernt hatten dies die Eltern unserer Schule in den Anfangsjahren von einem arbeitslosen Drucker. Sie gaben es Generation für Generation an die nächsten Eltern weiter.

 

Sie lernten ganze Bücher zu machen. Sie machten Plakate für Schulfeste und Tage der Offenen Tür. Sie druckten Postkarten, die unter dem Titel „Lyrik mit dem Poststempel“ an in- und ausländische Klassen verschickt wurden. Immer wieder druckten Kinder nur für sich oder ihre Präsentationen. Sie lernten mit Holz- oder Metalllettern zu drucken. Die Druckerei war etwas Ästhetisches, etwas Außergewöhnliches[10].

 

Ort der Veröffentlichung: Die Schulzeitung
Die Schulzeitung wurde während des Lerntages gemacht. Es war eine Arbeit wie jede andere. In der Zeit kamen die Kinder aus verschiedenen Klassen. Zu Anfang wurde sie gedruckt, später gedruckt und online gestellt. Nachher gab es sie nur noch online. Zu der Zeit wurde sie schon in Deutsch und Englisch rausgegeben. Von den Lehrkräften machte dies immer halbjahrweise ein Erwachsener, der „Lust“ dazu hatte. Später machten es die Kinder ohne uns.

 

Wichtig war mit den Kindern darüber zu reden, „wie man an spannende Artikel kommt“. Wir stellten ihnen Formen des klassischen oder investigativen Journalismus vor. Wir brachten ihnen Umfragen oder Erhebungen bei. Sie lernten Interviews, Fotos zu machen oder Forderungen in eine Kampagne zu kleiden. Sie waren dabei, wenn Kinder draußen lernten, bei Präsentationen,  Schulversammlungen und Exkursionen oder interviewten Lehrer und Schulleiter, was es Neues gäbe. Manchmal schrieben sie auch Meldungen der Schulchronik um oder die Beiträge gleich selbst.

 

Ähnlich wie beim Lernen zeigten wir ihnen Arbeitstechniken und Darstellungsformen, ließen aber die Finger von ihren eigenen Themen und ihren Meinungen.

 

9. Begründung: Spielen ist super!
In vielen Gesprächen mit Kindern stellte ich fest, dass Kinder Spiele genau unterscheiden können. Sie wissen wann sie etwas spielend herausfanden, wann sie spielend lernten. Sie wussten, wann sie Erwachsene, ihr Verhalten und ihre Arbeit nachspielten. Sie wussten um ihre Rollenspiele oder wann sie etwas „vorspielten“. Sie wussten um den Unterschied des Spiels untereinander, mit Eltern oder Großeltern. Sie kannten den Unterschied zwischen Brettspielen, Kartenspielen, Gemeinschaftsspielen und Computerspielen. Sie wussten, wann sie „im Spiel aufgingen“, und wann sie spielten „um Zeit totzuschlagen“.

 

Kinder haben ein sehr ausgeprägtes Spielebewusstsein. Spielen beginnt in der Kindheit und hört, wenn ein Mensch Glück hat, nie auf. Es verändert sich nur und es verändert den Menschen.

 

Haben Menschen als Kind genügend Zeit und Gelegenheit zum Spielen, finden sie Freunde und sich selbst. Sie finden Kenntnis und Erkenntnis. Eine Schule ohne Spiel mutiert zur Lernhölle.

 

Irgendwann merkten wir, dass unsere Kinder bemerkten, dass sie zu wenig Zeit zum Spielen am Nachmittag hatten. Wir begriffen, dass wir zumindest morgens zu wenig spielten.

 

Wir lernten noch mehr Rollenspiel, noch mehr mit Materialien zu arbeiten, noch mehr (oder weniger Zeit) zu lassen, noch mehr spielend zu lernen.

 

Wenn Eltern mit Kindern nicht mehr so viel spielen können, muss die Schule auch dieses Angebot bedienen und anbieten können.

 

Am Spielen erkennst du die ausgeprägte Entwicklung der Bindung und des Kindseins selbst.

 

Der Ganztag ist kein verlängerter Schul-Arbeitstag! Der Ganztag ist eine Zeit des Lernens mit Spiel, Arbeit und Müßiggang, um das Gelernte, das Erlebte „verarbeiten“ zu können. Nicht nur die Menschen werden heterogener und vielfältiger. Auch die Lehrer*innen müssen es werden. Die Lernwege und Lernlandschaften sollten reichhaltiger wie der ganze Schultag werden.

 

Das Außengelände und im Sportunterricht (beide später beschrieben) entwickelten wir alles an Spielen, was uns nur einfiel.

 

In einem Projekt wurden neue Spiele erfunden. Schach[11] spielende Kinder sahst du immer und überall. Es gehörte zur Schule wie das Schreiben freier Texte*, als das Malen von Bildern.

 

Im Musik- und Theaterraum fandst du eine große bewegliche Bühne auf der immer gespielt wurde. Einmal war der Vorhang zu, weil sie dahinter spielten. Ein anderes Mal war er zum Forum hingeschoben, weil sie etwas vorspielten. Hier wurden Filme gezeigt. Im Musik- und Theaterraum übten sie Klavierspielen. Sie trommelten auf selbst gebauten Cajons mit einem Rhythmiklehrer. Hier probten die Schulbands. Hier gab es Gitarrenunterricht und wurde Schlagzeugspielen geübt.

 

Jeder Ort der Schule wurde als Theaterraum genutzt, das Forum, die Vorhalle, die Kinderbuchbibliothek oder der Dachboden.

 

Bei der Kinderuni[12] gab es jede Form von Spiel, das nur vorstellbar war. Hier wurden Onlinespiele selbst programmiert, Boal Theater zur Lösung echter Probleme genutzt, Trickfilme mit Legofiguren gedreht. Hier wurden Kooperationsspiele als „Eggrace“ oder „Kofferpacken“ gespielt. Hier wurden Tischrollenspiele oder alte Fingerspiele geübt.

 

Spiele wurden ins Englische übersetzt auf dem Hof als „Fisher, fisher how deep is the water?“ oder als „Werwolfe“ im Lehrerzimmer.

 

Menschenschattenspiel oder das Bauen riesiger Loggixtürme war zu beobachten.

 

Fußball von Mädchen-, Jungs oder gemischten Teams fand auf dem DFB-Minispielfeld statt. Hier oder woanders waren Nachbarschulen zu Turnieren eingeladen. Kinder brachten sich gegenseitig das Einradfahren bei, sie spielten Hockey, jonglierten, übten Seilspringen, balancieren, spielten Verstecken, träumten im Gras liegend.

 

Sie schaukelten wild oder lasen dabei. Sie reparierten Brücken oder rutschen im Schnee oder auf Wasser die Hänge hinab. Sie kletterten in Bäume oder bauten eine Hütte im „Verbotenen Wald“. Sie lernten Skat- oder Uno spielen. Sie fuhren Fahrrad, mit Skates oder in ihren Tretautos.

 

Sie bauten Iglus, zerschlugen Steine, schnitzten Hölzer, spielten stundenlang in den Sandkästen, liefen Rutschen hoch, oder arbeiteten in der Specksteinhütte.

 

Sie matschten und erfanden einmal einen Wetterkreislauf in einem geschlossenen Glas. Sie beobachteten die Geburt von Asseln, sammelten „Borussia-Dortmund-Spinnen“ und retteten Bergmolche.

 

Sie spielten im Wald, am Fluss und Bach. Im Forum tauschten sie einmal in der Woche Sammelkarten und besuchten Briefmarkenausstellungen.

 

Es gab keine Grenzen zwischen Spielen und Lernen.

 

Kooperations- und Rollenspiele in der Sporthalle
wir bauten aus Matten, Barren und anderen Geräten eine Burg. Wir hängten große und kleine Matten in die Schwungringe und bauten Schaukeln. In die Kletterwände bauten wir Matten um sie runterrutschen oder –springen zu können. Aus Seilen und Recken bauten wir Schwung- und Kletterbereiche. Aus Holzkegeln und Bällen entstanden Kegelbahnen. An den Wänden bauten wir Geräte aufeinander um möglichst hoch klettern zu können. Rollbretter und kleine Kästen wurden zu Cars und Mattenwagen zu Taxis. Wir drehten Holzreifen um dann mit einem Ohr auf dem Boden liegend die letzten Geräusche und die Stille zu hören. Wir balancierten, kletterten oder sprangen. Alle diese Stationen erfanden und bauten die Kinder.

 

Jeder stellte am Schluss jeder Stunde seine neuesten Erfindungen und Ideen vor. Neue und alte Spiele wurden gespielt.

 

Bei der „Schlauen Jagd“ gingen zwei „Katzen“ raus, während die Zurückgebliebenen zwei „Mäuse“ bestimmten, die die Katzen nicht kannten. Gewonnen hatten beim Fangen die Mäuse nur, wenn eine der gewählten Mäuse ungefangen übrig blieb. Umgekehrt war die Jagd zu Ende, wenn die Katzen vorzeitig beide Mäuse fingen.

 

Beim Ausbruch aus dem Gefängnis standen alle auf einer Seite der aufgestellten großen Weichmatte. Alle mussten über sie auf die andere Seite klettern. Du hattest nur gewonnen, wenn alle rüber waren.

 

Bei der Mattenolympiade gab es verschiedene Arten des Spiels. Es galt Anlauf nehmend sich auf seine Matte fallen zu lassen, um so Stück für Stück zur gegenüber liegenden Wand zu gleiten. Das Team krabbelte unter die Matte um mit ihr wie eine Schildkröte rüber zu laufen. Alle lagen auf ihrer Matte. In dem Team wo sich zuerst jemand bewegte, verlor. Du musstest die Matte mit Kindern drauf transportieren, sie stehend tragen oder du klapptest sie immer weiter bis zum Berühren der nächsten Wand um.

 

Bei der Regatta wurden die langen Bänke umgedreht. Alle saßen auf ihnen und durften nur auf der Rückseite der Sitzbänke stehen. Unter den Bänken lagen einige Holzstäbe. Nun kam es darauf an auf den Stäben, die hinten abgeholt und vorne wieder untergelegt wurden, als erstes von zwei oder drei Teams an der anderen Seite der Halle anzukommen.

 

Die Hüftschwungringe wurden - eine Linie der einen Seite der Halle nicht übertretend - nach einander in Richtung der gegenüberliegenden Hallenwand gerollt. Der Ring, der am nächsten an der Wand gegenüber liegen blieb, gewann.

 

An anderen Tagen wurde die gesamte Halle verzaubert. Verschiedene Stationen entstanden unter Obertitel wie „Auf den Dächern von Paris“, „Eine Reise durch Afrika“ oder „Im Land der Regentrude“.

 

Einmal im Jahr trafen sich die Lehrerinnen in der Halle um die neuesten Spiele aus dem letzten Jahr sich gegenseitig vorzutragen.[13]

 

Als 10. Beispiel bereichern „Die Fische“ das Schulleben
Im Forum stand weit über 10 Jahre ein Aquarium. Wie oft saßen dort Kinder und schauten den Fischen nur zu.

 

Die kölsche Nr. 11: Wochenrückschau
Bei vielen meiner Kolleg*innen hörte die Woche damit auf, dass überlegt wurde, was in der Woche am Wichtigsten war. Das konnte auch außerhalb der Schule passiert sein, wie die Geburt einer Schwester, der Tod des Großvaters oder das neue Meerschweinchen. Bei mir hieß das „Wochenabschlusskreis“, bei anderen anders. Jeder Mensch kam dran. Die Antwort „Alles“, führte immer zu der Frage „Was ist alles?“.

 

Das Schulgelände
Die Schule war auf eine aufgeschüttete Fläche mitten in ein zum größten Teil noch entstehendes Neubaugebiet gebaut worden. Um die Schule rum, und vor der Schule wurde ein Schulhof asphaltiert. Der Bau der Straße zur Schule mit Fußsteigen und Parkbuchten wurde erst 14 Jahre später fertiggestellt. Um die Schule herum war eine große „Ausgleichsfläche“ für das Wohngebiet geplant.

 

1996 zogen wir in die neue Schule ein und hatten zwei Jahre später ein Schulgelände. Wir, die Lehrer*innen und Eltern dachten Pausenhof und Ausgleichsfläche als eins, nämlich als Schulgelände.

 

An einem Wochenende kamen gut 200 Kinder, Eltern und Lehrer*innen. Dabei waren ein Bagger und eine Raupe des Bauhofs. Gegen den Widerstand in der Verwaltung hatte sich in der Verwaltung der damalige Leiter des Bauhofs über Anweisungen hinwegsetzen können.

 

Niemand glaubte, dass uns es gelingen würde mit einem zentral-dezentralen Konzept die Grundzüge eines recht großen Schulgeländes fertig zu stellen.

 

Die Grundidee war ein Huckleberry-Finn-Gelände zu schaffen, wo die Kinder „wie früher“ spielen konnten.[14]

 

Aus Lavaasche wurde ein Weg um die Hälfte des Geländes gemacht. Die großen Fahrzeuge ließen eine teichähnliche Wasseransammlung entstehen. Dort entstanden ein Kiesstrand und eine Steinumrundung. Ein Boulplatz mit Parkbänken wurde gebaut. Hügel wurden angelegt und mit Brücken und Baumstämmen verbunden. Hunderte von Sträuchern und Laub- und Obstbäumen wurden gepflanzt. Ein teilweise überdachter Sandkasten entstand mit einer Robinienumrandung, aus der zwei heute Riesenbäume wieder ausschlugen. Ein kleinerer Ford aus Kellerstützbalken aus Neubauten entstand. Ein recht großes Tipi aus Fichtenstämmen wurde eines der Wahrzeichen der Schule.

 

Überall wirbelten kleine Gruppen, in der immer mindestens eine Person wusste was zu tun war. Am Abend stand zu unserer eigenen Faszination ein Gelände, das es heute noch gibt.

 

Es bekam nie einen Zaun. In zwanzig Jahren verließen genau zwei Kinder das Schulgelände!

 

Jahr für Jahr gab es eine Geländeaktion in der das Gelände repariert und weitergebaut wurden. Ein „Bachlauf“ entstand, ein Graben, ein Gartenhäuschen, Hoch- und Klassenbeete, eine Kräuterspirale, ein zweiter Sandkasten, Spiralen im Gelände, ein DFB-Mini-Spielfeld, eine Pumpe mit unterirdischem Tank und einer Goldwaschrinne, Schaukeln, eine Rutsche, Außenklassen, eine Specksteinhütte, ein Sitzkreis, die Wandaufschrift „Grundschule Harmonie“, ein „unheimlicher“ Gang,…

 

Wir hatten viel mit Vandalismus zu tun, vor dem uns die örtlich Verantwortlichen nicht schützten. Wir bauten und reparierten immer wieder, mit der Hilfe Jugendlicher, der Nachbarn und immer wieder großartigen und großzügigen Spenden.

 

Alleine die Erstaktion zur Bebauung des Schulgeländes brachte uns ein Plus von 3000 DM.

 

Im Jahre 2000 erhielten wir den Umweltpreis des Rhein-Sieg-Kreises“ und den Titel einer Umweltschule. In der Laudatio wies der damalige Landrat ausdrücklich darauf hin, dass wir den Preis auch deshalb erhielten, weil wir uns gegen die Gemeinde durchgesetzt hatten.

 

Für die Kinder war das gesamte Schulgelände innen und außen immer Lernort! Überall konnte uns sollte gelernt werden. Wir unterschieden so auch unsere Sommerschule, die viel draußen stattfand und unsere Winterschule. Das Gelände war weit über 150m breit und 300 m lang.[15]

 

Die heilige Zahl 12 platziert das Kinderparlament*
Ein Kinderparlament ist kein Einüben in Demokratie für Kinder. Kinder haben die gleiche Würde und die gleichen Rechte wie Erwachsene.

 

An der Grundschule Harmonie zählten die Beschlüsse des Kinderparlaments genauso wie die Beschlüsse der Lehrer*innen oder der Eltern. Es fand einmal die Woche am Vormittag statt. Es wurde von einem Kind geleitet. Jede Leitung konnte sich die Hilfe anderer Kinder holen. Das Kinderparlament entschied darüber, wie die eigenen Beschlüsse eingehalten wurden. Das Kinderparlament achtete selbst darauf wie alt die Vertreter waren, oder ob sie Jungen oder Mädchen waren.

 

Jede Klasse konnte zwei oder drei Vertreter ins Kinderparlament schicken. Es war ihre Sache wie lange sie im Kinderparlament waren. Die Klassen oder Parlamentarier entschieden, was berichtet wurde. Einige blieben nur eine Sitzung, andere das ganze Schuljahr. Die Regeln waren in der Regel wie im Klassenrat[16].

 

Das Kinderparlament wählte jeweils für ein Jahr einen „Kidsmanager, also einen Erwachsenen, der bei den Sitzungen half.

 

Ich selber lernte als immer wieder gewählter Kidsmanager von Jahr zu Jahr besser, die Klappe zu halten.

 

Es gab keine Gewichtung der Beschlüsse der Klassenräte oder der Schulversammlung oder des Kinderparlaments.

 

Das Kinderparlament entwickelte sich immer einen Schub nach vorne. Erst half das Projekt der Rechte der Kinder. Dann etablierte das Kinderparlament die Kinderuni.

 

Wenn es einmal schlechter lief, überlegten sie selbst woran das lag. Sie ersetzten sich oft selbst durch andere, neue Kinder. Auch Erstklässler machten mit und leiteten die Sitzungen.[17]

 

Platzierung Nummer 13: „Schulversammlung*
2013 besuchte ich die Evangelische Schule von Margret Rasfeld, der Schulleiterin und Bildungsinnovatorin, in Berlin. Ich sah eine Schulversammlung, die der unseren sehr ähnelte. Vielleicht sah ich sie deshalb so kritisch oder uns selbst.

 

Ursprünglich hatte ich die Schulversammlung in England abgeschaut. Dort trifft man sich jeden Morgen um für Gott und der Königin ein Gebet zu sprechen. Im Anschluss erzählt der Schulleiter den Kindern, wie sie sich benehmen sollten. Etwas neuer war dann der „Virtue Tree“ aus Neuseeland, der die neuen zu verfolgenden Werte vorgab. So eine Versammlung wollten wir natürlich nicht.

 

Das Schulordnungsgesetz kannte übrigens die „Schulversammlung“ als eine die Schule bestimmende Institution, die jederzeit einberufen werden kann. Leider wird sie selten von Schulen genutzt.

 

Aber ich wollte „in demokratisch“ eine Montagsversammlung und eine zusätzliche Schulversammlung alle 14 Tage machen.

 

Als Schulleiter gegrüßte ich jeden Montag um 8 Uhr alle anwesenden Schulangehörigen und führte durch den Morgen. Später tat dies ein Kind oder eine Lehrer*in. Es folgte die Nennung aller Geburtstage der letzten Woche, das Singen von Happy Birthday für jede/n und ein abschließendes „Cos she’s a jolly good fellow“ und „Cos she‘ s so cool. Wenn keiner Geburtstag hatte sangen wir das Harmonielied.

 

Dann lernten wir über Jahre, alles von Kindern und Erwachsenen zu benennen, was im Laufe der Woche alle Interessierendes in der Schule stattfand. An 5 Tafeln an der Wand wurde dieses Programm der ganzen Woche, für alle sichtbar, angeschrieben.

 

Es folgte die Beantwortung der Frage der Woche[18]. Hierbei kam es nicht darauf an „die richtige“ Antwort zu finden, sondern möglichst viele möglichen Antworten. Die nächste Frage der Woche wurde immer abwechselnd von einem Mädchen und einem Jungen gestellt. Der letzte Fragende entschied wessen Frage genommen wurde. „Quizfragen wie „Wie hoch ist der Mount Everest“ wurden sofort beantwortet oder nicht zugelassen.

 

Die andere Versammlung war die Schulversammlung. Immer eine andere Klasse bereitete sie – ohne Mitwirkung der Lehrkräfte – vor. Sie sammelten ein Programm aus der laufenden Arbeit der Schule. Freie Texte wurden vorgelesen, Experimente, Matheergebnisse, Tänze Theaterstücke, Bilder, Musik oder anders Denkbare wurden alle 14 Tage gezeigt. Im zweiten Teil konnte das Kinderparlament, Kinder, die Lehrer oder die Schulleitung Anträge stellen und dazu Beschlüsse fassen.  

 

Vierzehnter wird die „Dichterlesung“
Eine recht genaue Beschreibung der Dichterlesung ist auf meiner Homepage zu finden[19].

 

Beim 15. Mal wird „Versammlung“* genannt
Jahre später passiert ähnliches, nur noch deutlicher. Die Kinder der Schule wählen bei einer Umfrage[20], das „Versammeln“ auf den ersten Platz ihrer Aktivitäten.

 

Und wieder waren wir verwundert. Die Kinder berichteten uns, dass die häufigste Form ihres Lernens die Zusammenkunft auf allen denkbaren Ebenen war.

 

Das war den Kindern bewusster als uns Lehrkräften. Es gibt eben kein Lernen ohne die Gemeinschaft, was der Talmud uns schon erklärte.

 

Wäre es das ewige Einberufen von Kindern zwecks Einweisung oder Briefings gewesen, wäre dies als „Zwangsform“ sicherlich nicht positiv bewertet worden. Auch wenn es manchmal anstrengend war, länger in einem Klassenrat zu sitzen, auf der Schulversammlung zu diskutieren oder das eigene Englischlernen zu evaluieren, wird das Versammeln aus eigener Motivation hoch angesehen.[21]

 

Ungenannt: Die Präsentation
Unsere Schule kannten weder Noten, noch ähnliche Nachweise. Es gab keine Tests, Pensenbücher, Logbücher, lehrergemachte Wochenpläne oder andere verbindliche Abschlüsse von „Unterrichtseinheiten“.

 

Unser Lern- und Leistungssystem basierte auf ganz anderen Prinzipien. Es gab den Klassenrat, in welchem du jeden Tag vorstelltest, was du machtest. Hier wurde von allen evaluiert und versprachlicht, was warum mit wem, wann und wozu gemacht wurde.

 

Hier wurde auch ausgetauscht, wem du das Gelernte vorstelltest. Du musstest entscheiden, ob die Ergebnisse allen im Kreis, einer (auch Klassen übergreifenden) Gruppe von Interessierten, Freunden, auf der Schulversammlung, außerhalb der Schule, im Netz, in einer Ausstellung, an der Wand oder keinem präsentiert wurde.

 

Du lernest als Kind dich (mit der Hilfe von Selbsteinschätzungsbögen[22]) selbst einzuschätzen. In einem Gespräch mit zwei Vertretern der Schule und Eltern erklärtest du deine Selbsteinschätzung und deine Weiterarbeit in einem „Arbeitsvertrag“.

 

Dies entstresste die Gesamtatmosphäre, in die auch die Erstklässler eintauchten.[23]

 

Zum 16., der goldene Oldie: „Gute Freunde“
Viele Kinder und Jugendliche kommen zur Schule, weil sie Freunde treffen. Einige sagen, sie kämen nur deshalb.

 

„Gewöhnliche“ Schule zieht daraus seltsame Schlüsse: Viele Lehrer*innen intervenieren, wenn Schüler*innen zusammen reden. Sie meinen, dass sie aufhören sollen zu „quatschen“. Sie wollen, dass den Lehrern zugehört wird, nicht den Freunden. Sie verhindern, dass Freunde zusammen raus gehen. Sie beäugen eine Zusammenarbeit hoch skeptisch und lassen sie nur zu, wenn „etwas dabei rauskommt“. Sie wollen nicht, dass Freunde zusammenspielen, weil „man ja dabei nichts lernt“. Sie beurteilen wer falsche Freunde sind, „weil sie einen von der Arbeit abhalten“. Sie wissen wer ein schlechter Umgang für jemanden ist. Die Gruppenpädagogik will sogar, dass alle mit allen Freunde werden. Andere entscheiden, wer zusammensitzen darf. Sie bilden Klassen so, dass alle gleich alt sind. Verschiedene Altersfreundschaften sind verdächtig. Händchen halten, Küssen, Tanzen sind so seltsam wie zusammen Rechnen, Abschreiben, Vorsagen oder das Gleiche machen.

 

Eigentlich verhindert Schule, dass Freunde zusammen lernen. Wir glaubten, die Kraft der Freundschaften und Freunde für das eigene Lernen zu nutzen. Wir unterhielten uns mit den Kindern eher darüber, ob man mehr als einen besten Freund haben darf, wer wem wobei hilft, wer zusammen rausgeht, an einem Thema arbeitet oder wer jemanden kennt, die etwas weiß.

 

Wir freuten uns über gute Freunde! Freunde machen mehr und besseres Lernen.

 

17. Übermittagsbetreuung*
Mal wieder fanden die Deutschen einen Kompromiss. Zwischen Finanzierbarkeit und Elternwillen entwickelten die Bundes- und Landesregierungen keine ordentliche, echte Ganztagsschule wie in den anderen europäischen oder Ländern weltweit. Sie schafften (die Finanzierung) der staatlichen Aufgabe der Kinderbetreuung am Nachmittag ab und „übergaben“ diese Aufgabe den Schulen.

 

Sie erfanden „die offene Ganztagsschule“. Das bedeutet, dass die Eltern entscheiden, ob ihre Kinder über Mittag blieben oder nach Hause gingen.

 

Das wiederum bedeutete, dass es zu wenige Ganztagsplätze gab und die Eltern viel Geld für die „Nachmittagsbetreuung“ bezahlen mussten. Dies bedeutete, dass „Träger“ den Ganztag, die „Ganztagsschule“ übernahmen und Kommunen rote Zahlen errechneten oder hatten, um diese „Neuerung“ zu finanzieren.

 

Das bedeutete zudem, dass die Kommunen über die Leitungen der Ganztagsschulen einen größeren kommunalen Zugriff auf die Schulen erhielten. Das bedeutete für viele Schulen, dass vormittags „in der Schule“ etwas anderes passierte als nachmittags „in der Ganztagsschule“.

 

Das wiederum bedeutete, dass die Träger viele Menschen einstellen mussten, die das „Handwerk“ der Pädagogik nie gelernt hatten. In einigen Fällen war dies ein Fortschritt, weil diese Menschen freier und offener mit Lernen und Leben umgehen konnten als manch eine Lehrer*in. Andererseits waren hier auch verklemmte und engstirnige Erwachsene unterwegs, die den Nachmittag z.B. mit den Hausaufgaben anfingen. Einige Landesregierungen machen dies dann auch zum Prinzip von Hausaufgaben, die eben nicht mehr „zu Hause“ gemacht werden.

 

Unsere Schule kannte schon vor der Einführung der „offenen Ganztagsschule“ eine eigene Übermittagsbetreuungsgruppe. Als die Nachbarschule drei Gruppen zusammenbekommen mussten, stellten wir zu deren Gunsten unsere Mittagsbetreuung ein.

 

Nachdem die drei Gruppen wider Erwartung des örtlichen Schulamtes voll waren, führten wir, wie alle anderen Eitorfer Grundschulen, die Betreuung wieder ein.

 

Wir nahmen keinen „Träger“, sondern gründeten einen eigenen eingetragenen Verein zur Durchführung unseres Ganztages. Wie erfanden die „Feste Langzeit in einer Gruppe“ und nannten ihn „FLieG-Verein“. Die Zahl der festen erwachsenen Mitarbeiter steigerte sich von anfangs 8 Lehrer*innen auf 41(!) Personen. Sie waren zu den Lehrkräften angestellte des „FLieG-Vereins“, eine Sonderpädagogin, zwei Köchinnen, ARGE-Verträge für „nichtvermittelbare Kräfte, Integrationshelfer*innen, 1€-Kräfte und Praktikanten.

 

Wir bekamen durch Eigen- und kommunale Finanzierung eine eigene Küche und kochten selbst. Das Mittagessen in der Schule kostete 20E im Monat für das erste Kind. Das zweite aß schon viel billiger. Sehr schnell folgte das kostenfreie Frühstück für alle.

 

Das örtliche Schulamt bat uns keinen Träger zu wählen, da wir mit einem Plus arbeiteten, während die Ganztagsträgerschaften der anderen Schulen alle ein Minus hatten.

 

Wir hatten vier Nachmittagsgruppen, die immer aus zwei Klassen gebildet wurde. In der Regel blieben sie bis 16 Uhr. Einige gingen früher, andere nur bestimmte Tage, die „Späteste“ wurde um 18 Uhr abgeholt. Wieder andere Kinder blieben nur zum Essen.

 

Wir lernten als Lehrkräfte auch am Nachmittag zu arbeiten. Es gab außer montags in der Zeit der Lehrer*innenkonferenz keine Zeit ohne Lehrkräfte. Lehrer*innen mit Kindern durften nicht am Nachmittag arbeiten, andere maximal zweimal in der Woche. FLieG- und andere Kräfte waren auch am Vormittag in der Schule.

 

So schafften wir eine Verschränkung unseres Schultags. Der Nachmittag wurde so von den Kindern als Lern- und Spieltag beschlossen wie der Vormittag. Die Erwachsenen bildeten mit den ebenfalls helfenden Eltern eine „Gemeinschaft der Erwachsenen“ Wir lernten demokratisch für und mit den Kindern zu arbeiten.

 

Zweimal im Jahr gab es eine große pädagogische Konferenz aller. In der Zeit gab es keine Betreuung.

 

Unsere Erstklässler wussten von dem allen wenig und fühlten sich einfach wohl, auch wenn sie länger blieben.

 

18. AGs
Zu Beginn unserer Schule boten wir so viele AGs wie möglich an. Wir sprachen zu Beginn nur Eltern und Großeltern an. Zuerst kamen Mütter, die Vorlesen, Hausaufgabenmachen und Päckchenrechnen beaufsichtigen wollten. Wir wurden sie wieder los oder sie lernten das Gleiche zu tun wie wir Lehrer*innen.

 

Dann kam die nächste Generation der Vorleserinnen, Druckerinnen und „Assistentinnen“, die einfach in der Klasse den Lehrern halfen. Es kamen Eltern, die boten die „Wickinger AG“ an, Gartenarbeit, die Schulfeuerwehr“, Sägen und Schnitzen, Rechtschreiben, Ruinenbau oder Aquariumspflege an.

 

Dann begannen sie Kindern dabei zu helfen die eigenen Themen zu bearbeiten, zu experimentieren, Computer einzurichten oder eigene Texte zu schreiben. Wir lernten Projekttage zu Themen zu machen wie „Erzähltechniken“, Stilrichtungen“ oder „Die Rechte der Kinder“*. Kinder boten „Kompetenztransfer“ für andere Kinder an oder zeigten z.B. an über 50 Stationen ihren Eltern wie sie arbeiteten.

 

Wir machten Dichterlesungen in den Klassen und luden zum „Adam-Ries-Kreis“ ein. Immer mehr Lehramtsanwärter boten ihre Unterrichtseinheiten an, an denen du teilnehmen konntest. Unsere „Inklusionsstudentinnen“ machten eigene Angebote wie „Chinesisch“, „Mathe“ oder „Jonglieren“.  Mütter machten feste Stunden zu Französisch oder Spanisch. Beim letzteren saßen auch Lehrer*innen auf der Schulbank. Unsere Integrationshelfer machten Angebote wie „Englisch-Türkisch lernen. Ein-€-Kräfte lehrten Türkisch oder halfen einzelnen Kindern. Gäste stellten ihr spezielles Können vor, wie Standardtänze, Vorstellen der selbstgezüchteten Medusen, Vorlesen aus eigenen und fremden Büchern, den Nachbau von Galileos Fernrohr oder etwas über ihr Herkunftsland wie Lettland oder die USA[24].

 

Dann folgten die wöchentlichen Vorlesungen*. Es folgten die Kinderunis und Kinder-Kinderunis*. Immer mehr gelang es uns auch Menschen einzuladen, die aus der Region kamen. Wir bemalten eine lebensgroße Kuh, wir hörten vom örtlichen Pfarrer etwas über die Entstehung der Bibel, lernten die Orgel kennen, Künstler in ihrem Skulpturgarten oder mittelalterliche Musikinstrumente. Autowerkstätten und die Feuerwerksfabrik wurden besucht oder wir spielten Bingo in Altersheimen oder lasen in Kindergärten vor. Bald folgte die Einladung von Kindergärten zur Kinderuni*. Kinder anderer Schulen machten Vorträge bei uns und Schüler*innen der weiterführenden Schulen boten am „Girls- und Boys-Day Gruppen „Bodybuilding“ oder „Den Satz des Phytagoras“ an.

 

Wir machten Berufspraktika für Grundschulkinder und Fahrradtouren, z.B. an der Ems. Wir wanderten eine Woche lang zum Rhein oder machten eine selbst ausgedachte Wallfahrt für Kinder. Mit der Sternwanderung von den bis zu 70km entfernten Wohnorten der Kinder. (Wir wanderten natürlich nicht weiter als 20km) machten wir Geld oder wir gingen regelmäßig Golfen.

 

Wir lernten draußen zu lernen*. An der großen Kreuzung gingen wir der Frage nach, wo die Kennzeichen der Autos herkommen. Wir gingen in den Wald, an den Fluss. Wir halfen Kröten die Straße zu überqueren oder fuhren nach Brüssel oder Luxemburg. Wir legten Stolpersteine oder fuhren zum ElDe-Haus nach Köln, wo Kinder die eigenen Vorträge zu den Verbrechen der Nazis hielten.

 

Lernen fand nicht einfach wie Schule statt. Überall und immer wurde das gelernt, was Kinder lernen wollen. Das ist die Öffnung des Offenen Lernens. Erziehung braucht das ganze Dorf[25].

 

Wir arbeiteten in der eigenen Gemeinschaft und der da draußen. Lernen fand in „Arbeitsgemeinschaften“ statt. Wir pflegten das „AG-Lernen“.

 

19.Tanz
Wie bei uns getanzt wurde! Auch Jungs taten es! Lernen ist Bewegung. Walzer tanzen, Indianertänze. Volkstänze, Indische Tänze, Karnevalspromenaden oder Tanz mit den englischen Gästen, all das war wichtig und gleichberechtigter Bestandteil des täglichen Lernprogramms.

 

20. Theater
Da wurde Martin Buber, 100 Jahre Ortsteil Harmonie als Musical, Harry Potter oder Goethes Faust selbst gespielt oder von Gästen aufgeführt. Da war alle zwei Jahre das Theater von Zartbitter zu Gast, um die Rechte der Kinder zu schützen und zu stärken. Da gab es viele Präsentationen mit Theateranteilen. Als Arbeits- und Darstellungstechnik gab es Menschenschattenspiel, Boaltheater, Stabpuppenspiel, Filme, Fotofolgen oder Pantomime[26]. Die Kinder spielten und schrieben ihre Stücke selbst. Manchmal gab es ein Casting und oft genug englische Theateraufführungen. Immer (!) spielten Kinder Theater. Sie übten auf den Gängen, in jedem Raum, draußen, wo immer sie Platz fanden.

 

Einer unserer Hausmeister war Schreiner und baute uns zum Missfallen der Verwaltung eine große bewegliche Theaterbühne. Oft genug schlossen die Kinder den Vorhang und spielten im Inneren ihre eigenen, manchmal auch spontanen Plots.

 

Große Teile des Englischunterrichtes waren als Rollenspiele angelegt. Kinder lernten durch Tischrollenspiele zu führen. Die Nerds der Big-Bang-Serie hätten ihren Spaß an Robby oder Elia gehabt.

 

Nicht zuletzt die Kinderuni zeigte immer neue Techniken, die Kinder erfanden immer wieder neue Varianten.

 

Das Theaterspiel wurde zu einer der wichtigsten Motoren des eigenen Lernens. Die Freinetpädagogik nennt dies den „Freien Ausdruck“.

 

21. Tischtennis
Tischtennis war eine Zeitlang total in. Mal verschwanden Formen der Arbeit, mal tauchten sie wieder auf. Es gingen auch manchmal Themen und Techniken mit den Menschen, die da waren. So die Kinderfeuerwehr, das Filmen, die Schreibtabletts, das Komponieren.

 

Schule kann nicht alles erhalten, außer dem wesentlichen und dem, was erhalten bleiben kann.

 

Wie unser Netz entstand…
Wir diskutierten 1996 bis 1997 sehr lange, ob wir überhaupt diese Computermaschinen in die Schule lassen wollten. Wir wussten, dass Computer nur Ja oder Nein, also 0 und 1 Botschaften zum Funktionieren brauchten. Es gibt keine Zwischentöne, kein Verändern, sie beherrschen deine Zeit, dein Denken und dein Leben. Wir dachten, dass dies auf das Denken und Fühlen der Menschen abfärben muss.

 

Heute wollen viele einfach das Schulbuch und wenn es geht, möglichst viele teure Lehrer durch elektronische Programme ersetzen.

 

Wir haben uns damals entschieden uns dieser gesellschaftlichen Herausforderung zu stellen. Wir folgten dem Slogan, dass die Kinder beherrschen sollten, was sonst sie beherrscht.

 

Die offizielle Unterstützung war zu Beginn, vor allem finanziell von Seiten der Kommunen und der Regierungen sehr zurückhaltend. Wir besorgten uns Unmengen von Computern, die von großen Firmen ausgemustert wurden. Wir, die Kinder schneller, lernten damit zu arbeiten.

 

Nun wollten wir eine innerschulische Vernetzung und den Internet-Anschluss. Niemand aber hatte die Zeit und die Kenntnisse zur Installation, bis sich Folgendes ereignete.

 

Ein Schüler des Gymnasiums installierte um 1998 auf deren Homepage (etwas, was wir erst später bekamen) eine nicht lustige sexistische Sache. Er wurde erwischt und sollte bestraft werden. Er suchte sich die Strafe einer sozialen Arbeit an einer Grundschule aus und landete bei uns.

 

Schnell war ausgemacht, dass er unser Netz angeschlossen an das Internet bauen sollte. Schlau wie er war, machte er darauf aufmerksam, dass er noch einige „Kumpels“ für diese Arbeit bräuche. Er schlug LAN-Nächte in der Schule vor. Damals musste man sich noch an einem Ort treffen, um die mitgebrachten Computer zum gemeinsamen Spielen zu vernetzen. Schweren Herzens, angesichts der benutzten Spiele, sagten wir zu.

 

Im Gegenzug stand unser Netz sehr schnell. Später kümmerten sich andere ältere Schüler (wie Holger Wagner und Bernd Schlein) darum, und Ein-€-Kräfte (Uwe Kindermann und Frank Trienenjost leisteten Pionierarbeit), die wir einstellen konnten.

 

Wir haben immer mit vielen Computern in jeder Klasse, offen, vernetzt, im Netz angeschlossen und eigenen funktionieren Regeln[27] erfolgreich gearbeitet.

 

Die Computer waren eine umfassende Informationsquelle für die eigenständige Arbeit der Kinder, Träger für viele Arbeitsprogramme, eine Schreib-, Druck- und Dateienmaschine, eine Chance zum E-mailen, zur Skype und sonst wie Live-Bilder-Schaltung, eine Chance zur Homepage oder zur Publikation und ein weit offenes Tor nach Europa.

 

Wir lernten mit Tabletts und interaktiven Whiteboards zu arbeiten. Alle Kinder konnten Powerpointpräsentationen, einige lernten mit dem Gerät Lesen und Schreiben.

 

Ein Raum der Schule musste allerdings immer computerfrei bleiben.

 

Kritik der Kinder
Die Kritik ist gering. Sie beschweren sich darüber, dass einige Kinder immer wieder über die Flure und im Forum laufen. Das war in der Tat so. Klassenräte, Schulleitungsgespräche, Schulversammlungen, Lehrerinnenkonferenzen oder Kinderparlamentssitzungen versuchten erfolglos das zu ändern. Wer laufen wollte konnte dies jederzeit außerhalb des Hauses – ohne sich „eine Erlaubnis holen“ zu müssen machen. Aber immer wieder rannte jemand im Schulgebäude.

 

Bis im Kinderparlament sich Folgendes ereignete. Zum zigsten Male war diskutiert worden. Es blieben nur noch Vorschläge, die scharfe Kontrollverfahren auf den Gängen mit „Aufsehern“, „Dementoren“ genannt, vorsah. Sogar harte Strafen wurden diskutiert. Da meldete sich ein Mädchen mit den Worten „Früher hatten wir viel intelligentere Lösungen für so was“. Worauf aus einer anderen Ecke der Sitzung die Bemerkung kam „Dann lass uns doch alle rückwärtsgehen“.

 

So wurde es beschlossen. An einem Montag mussten alle Menschen, auch Lehrer*innen in den Fluren und im Forum rückwärtsgehen. Und ich weiß bis heute nicht warum, aber es funktionierte. Ab dem nächsten Tag lief niemand mehr im Haus. Und das blieb immer so.

 

Die Bemerkung mit den Süßigkeiten verstehe ich nicht mehr. Ich weiß nicht, ob es die Forderung war, sie mitbringen zu dürfen oder sie aus der Schule zu verbannen…

 

Der Dachboden war über dem ganzen bungalowähnlichen Gebäude der Schule. Der eine Teil wurde nie genutzt. Er war nur über einen Kriecheingang zu erreichen. Der andere Teil hatte einen Heizungsraum, drei kleinere Räume und einen riesigen gut 50 Meter langen Raum.

 

Es war aus statischen und „Sicherheitsgründen“ von der Gemeinde verboten worden diesen Teil als Arbeitsbereich zu benutzen. Wir hielten uns daran und benutzten die Räume eben wie einen Dachboden. Dort sammelte sich in Regalen und Ecken alles an, was sich auf einem Schuldachboden ansammeln kann. Und Lehrern fällt da viel ein!

 

Die Kinder liebten diesen Dachboden. Er war unheimlich, spannend, abenteuerlich und unwirklich. Er war über eine tolle Holztreppe im Forum nur mit ausdrücklicher Erlaubnis um etwas zu holen zu betreten.

 

Ganz selten gingen wir mit einer Gruppe hinauf, um Ketten- und Gruselgeschichten im Kreis sitzend zu erzählen. Wir richteten einen der kleinen Räume als Arbeitsplatz für ein Kind ein, das absolute Ruhe brauchte. Aber der Dachboden blieb ansonsten tabu und die Kinder wollten das ändern.

 

Auch die Erwachsenen hätten dort lieber eine tolle Hausmeisterwohnung zur Betreuung des Hauses gesehen. Wir hätten dort lieber Arbeitsräume für uns und die Kinder gehabt. Wir hätten einen Umbau sogar – wie bei der Küche geschehen – mitfinanziert. Aber es gelang nie und so gab es nie eine „Dachbodengenehmigung“.

 

Unserer Schulgelände war – wie beschrieben – mit Haselnusssträuchern und Weiden bepflanzt, dass abgerissene Äste nachwuchsen. Das war aber vielen Kindern, die die Natur und „ihr Schulgelände“ schützen wollten, ein Dorn im Auge. Immer wieder starteten sie Kampagnen gegen das Aus- und Abreißen von Pflanzen. Damit waren sie recht erfolgreich!

 



[1] So auf der Homepage www.grundschule-harmonie.de  veröffentlicht

[2] Da begann unsere Beratungsarbeit und die hohe Kunst der nicht zwingenden oder überredenden Pädagogik.

[4] Hierzu viele Aufsätze auf der Homepage www.walter-hoevel.de. Im Folgenden werden alle diese Beiträge mit einem * gekennzeichnet.

[8] Daniela Hofstetter. Wie aus Langeweile Lernfreude wird. Interviewpartner Walter Hövel und ein amtierender Schulleiter und vier Grundschulkinder. Eitorf/Linz 2017. Download: https://www.walter-hoevel.de/p%C3%A4dagogische-beitr%C3%A4ge/langeweile-und-lernfreude/

[14] Vgl. Eckehard Schiffer, Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde, Beltz 2010

[24] Diese vielen Beispiele sind in den Chroniken der Schule zu finden.

[25] Walter Hövel. Kinder brauchen das ganze Dorf. In: Rabensteiner/ Rabensteiner. Internationalization in Teacher Education. Interculturality. Volume 2. Schneider Verlag. 2014. S.187-214. http://www.walter-hoevel.de/schulentwicklung/kinder-brauchen-das-ganze-dorf/

[26] Darstellungstechniken