Walter Hövel
Die Dichterlesung


In den 80iger Jahren wurde mir in der Freinetbewegung erklärt, dass in der Klasse von Celestine Freinet die Kinder  eigene Texte schrieben. Freinet sammelte sie ein, las sie und suchte einen Text aus. Dieser wurde an die Tafel geschrieben und von allen gemeinsam orthografisch, grammatisch, semantisch und unter den Aspekten des guten sprachlichen Ausdrucks so lange bearbeitet, bis er allen (und Herrn Freinet) gefiel. Dieser Text wurde dann vorgelesen und gedruckt, um dann in die Klassenzeitung zu kommen.

Zu Freinets Zeit war dies sicherlich ein pädagogisch revolutionärer Vorgang! Allerdings hatte ich nicht vor dies so nachzumachen wie andere Freinis damals. Ich wollte diesen für mich bereits wieder verschulten formalen Ablauf als junger Lehrer nicht imitieren. Mir war die Entwicklung der Sprache   durch das eigene Schreiben wichtiger! 

Ich wollte, dass sich die Sprache aller so entwickeln konnte, wie ich es bei Paul le Bohec verstanden hatte: Schreibt, damit ihr die Sprache als eure Sprache beherrscht und sie nicht euch! Schreibt eure Geschichten, eure Texte und Gedichte auf. Drückt aus, was euch beeindruckt.

So entstand schon in den frühen 80iger Jahren mein wöchentlicher Vorlesekreis. Der Klassenrat beschloss, dass jedes Kind, sie waren damals in der 7.Klasse, jede Woche einen selbst geschriebenen Text mitbrachte, den sie oder er im Kreis vorlas.

Kein Text musste korrigiert oder in Schönschrift abgegeben werden. Niemand  war gezwungen den eigenen Text vorzulesen. Es gab schon in unserer Hauptschulklasse mit Ute Geuss in der Wuppertalerstraße in Köln keinen Zwang zum Vorlesen. [1] Aber um jeden nicht vorgelesenen Text wurde gerungen!

Den Respekt, den die vorgelesenen Texte - als auch der dazugehörige Kreis bei den Jugendlichen erwarb, transportierten wir auch für die Neugierde nach jedem Text! So gab es Texte, die nur einer ausgewählten Gruppe, einer Freundin, einer ausgelosten Mitschülerin, einer Lehrerin oder einem Lehrer vorgelesen wurden. Manchmal, ganz selten, blieb es beim Nichtvorlesen. Ich erinnere mich noch, wie Miriam (17) mit über einer Woche Verspätung ihren Text mit den Worten „Ich lese ihn doch vor“ herausholte. Beim Vorlesen war es durch die Ergriffenheit der 9.Klasse  einer Hauptschule noch leiser als sonst. Der anschließende Applaus war viel lauter.

Als ich meine Arbeit 1995 an der Grundschule Harmonie eben in der Grundschule fortsetzte, brachte Uschi Resch dazu das passende Wort aus Wien mit: „Dichterlesung“. Bald wurden in allen Klassen „Dichterlesungen“ gemacht.

Viele, viele Hospitanten sind seit nunmehr 20 Jahren von der Qualität der Texte, dem Entwicklungsstand der Sprache und der sozialen Atmosphäre in den Dichterlesungen begeistert. Viele haben gerade diese „Technique“ an ihre Schulen, in ihre Klassen, Kurse und Seminare mitgenommen. Einige haben sie didaktisch begründet und als ernstzunehmende Bereicherung in ihren durchaus lehrerzentrierten Unterricht eingeführt (z.B. Beate Leßmann, Dieck Verlag). Andere haben ihn für ihre offenen Konzepte benutzt.

Das Freie Schreiben mitsamt der Dichterlesung gehört zu den für die Freinetpädagogik typischen „Techniken“, in der das Lernen in die Hände der Kinder übergeht. Sie erhalten das Wort, oft sogar die ganze Sprache. Sie ist in sich demokratisch, weil es den Kindern möglich wird, ohne didaktische Gängelung, ohne Ablernen von vorgefertigten Arbeitsschritten, ihr eigenes Lernen zu organisieren und zu bestimmen, individuell und kooperativ! Diese Techniken des Freien Ausdrucks verlängern als Dichterlesung das Freie Schreiben nicht nur hinein in ein demokratisch  autonomes Lernen, sondern formt die demokratischen Verhältnisse in der Klasse oder Lerngruppe und stärkt die demokratische Haltung jedes einzelnen Menschen. Sie übernehmen die Verantwortung für die Formung der eigenen Sprache und lernen so, das eigene Leben zu bestimmen.

Als Hartmut Glänzel vor vielen Jahren bei uns im Rahmen des „FreiNetzes“, einem freinetischen Vorläufers des „Blick über den Zauns“, bei uns hospitierte, konnte er sofort diese Möglichkeiten der Kumulierung der Arbeit des Freien Schreibens in der Dichterlesung erkennen. Er nahm sie mit nach Berlin. Ich freute mich riesig, als ich Ende 2014 den Satz der Menschen von der Berliner Kinderschule las: „Hartmut hat die Kinderschule geprägt wie kein anderer. Hartmut hat uns die Dichterlesung geschenkt…“ (FuV 149, S.7)

In den Jahren der Geschichte der Dichterlesung an der Grundschule Harmonie entstanden viele Klassenzeitungen und Bücher, Texte für die „Lyrik mit dem Poststempel“, Druckwerke, lose Blattsammlungen, Computerdateien und voll geschriebene Hefte.

Oft musste um die Qualität gerungen werden. Ich weiß noch wie Christian Schreger aus Wien einmal voller Empörung sagte, dass nicht alle Kinder Dichter sind. Noch heute widerspreche ich ihm mit Freude, wohl wissend was er mit seiner Bemerkung meinte, dass auch alle Menschen Künstler und Wissenschaftler sind.

Oft konnte niemand mehr die Furz-, Monster-,  Pferde- und Soap ähnlichen Endlosgeschichten anhören. Aber immer wieder gewann die Liebe und Herausforderung zum Schreiben, die Fähigkeit die eigene Sprache entwickeln und verbessern zu wollen. Immer wieder fanden die Kinder zu ihrer ureigenen Schreibe und ins nächste Stadium ihrer eigenen Entwicklung. Wygotski hätte sich gefreut. Seine Zone der nächsten Entwicklung beschreibt schließlich die Distanz zwischen dem aktuellen Entwicklungsniveau eines Kindes, bestimmt durch seine Fähigkeit  Probleme selbständig zu lösen und der Ebene potentieller Entwicklung, in der Probleme mit Erwachsenen oder in diesem Fall fähigeren Kindern gemeinsam gelöst werden.

Mal halfen neue Ideen und Beispiele, mal Schreibteams, oft Techniken des Freien Schreibens von Lehrern gezeigt oder in Kinderuniseminaren vorgestellt, oft das Schreiben am Fluss oder im Park, oft die Beispiele von Max Frisch bis Johann Wolfgang von Goethe.

Viele Lehrerinnen und Lehrer lasen auch ihre eigenen Texte vor. Manchmal, wenn ich keine Zeit hatte eigens für die Dichterlesung zu schreiben, konnte ich auf einen meiner pädagogischen Artikel oder eines meiner Gedichte zurückgreifen. Sie wurden als meine freien Texte akzeptiert.

Oft dauerten die Dichterlesungen zu lange, länger als eine ganze Stunde. So wurde in zwei oder drei parallele oder zeitlich getrennte Gruppen aufgeteilt, mit oder ohne Erwachsene, eine Lesung für jüngere, eine für ältere Kinder, eine für Mädchen, eine für Jungs, eine für ein gemischtes Team. Es gab Zufallsaufteilungen nach Pulloverfarben oder Tierkreiszeichen, mal Lesungen nur für Interessierte, wieder andere integrierten die Texte in eine allgemeine Vorstellrunde, …aber immer überlebte die Dichterlesung.

Die Altersmischung 1 bis 4 war nie eine Behinderung. Die „Anfänger des Schreibens“ lasen, wenn sie es schon konnten, einzelne Wörter vor, oder ließen sie vorlesen. Einige „Anfänger“ schrieben Wörter zu Bildern aus und auf dem Computer und zeigten ihre Powerpointpräsentationen, andere erzählten nur. Und die gute alte Freinetmethode kam zum Einsatz, wenn Erwachsene oder Freunde die Texte aufschrieben, die die Kinder erzählten.

Ich vergesse auch nie die erstaunten Ohren und Augen eines Kindes, das schon zwei Jahren bei uns war und der Text eines Erstklässlers ordentlich länger war als seiner.

Ich habe manchen englischen Text gehört. Einige wurden mit der Hilfe erwachsener Gäste, aber die meisten  alleine, mit Freunden, Wörterbüchern oder Google-Translate geschrieben. Leider waren die türkischen oder portugiesischen Texte die Ausnahme.

Ich weiß nach über 30 Jahren des Schreibens freier Texte, welch eine literarische, sprachliche, geistige, psychische und soziale Entwicklung die jungen Dichterinnen und Dichter  bei uns erlebten! Ich weiß, welch eine Lernwirkung das eigene oft tägliche Schreiben und das wöchentliche Hören von  zwanzig oder mehr Texten nach drei bis sechs Jahren der Grundschule hat.

Dichterlesungen und Klassenrat (als Planungsort der gemeinsamen Arbeit) sind die wichtigsten auf einander dialektisch wirkenden Orte, die Kinder als kompetente Lerner selber lernen lassen.  Hierzu Wolfgang Mützelfeldt aus dem Schulprogamm der Freien Schule PrinzHöfte: Einer wie der andere sind „der Ort demokratischer Willensbildung, der Ort individueller Verankerung, der Ort sozialer Verantwortung, noch einmal genannt, der Ort, an dem sich die soziale Gruppe bildet, bzw. immer wieder konstituiert. Hier wird der Rahmen geschaffen, in dem die unterschiedlichen individuellen Fähigkeiten sich entfalten und der Unterschied zwischen Freiheit und Beliebigkeit erfahrbar wird. Es ist ein zentraler Punkt für die Lebensfähigkeit der Gruppe, hier findet das statt, was in systemischer Betrachtung ‚Rückkopplung‘ heißt. Die einzelnen Mitglieder des Systems beziehen sich aufeinander, bilden ein System konsensueller Verhaltenskoordinationen aus, … Es wird so ein gemeinsamer ‚Sinn‘ herausgebildet. Das entscheidende ‚Instrument‘ für diese Vorgänge ist die Sprache.“

 

Und durch das „Lesen durch Schreiben“,  eines der intelligentesten pädagogischen Konzepte der letzten 30 Jahre, war für die Kinder die Dichterlesung nicht nur der nahtlose Übergang in die weitere Entwicklung ihres Sprachgebrauchs. Vielmehr bekam der Begriff eine nicht geplante doppelte, weitertragende Bedeutung. Durch die Kompetenz des eigenen Erlernens des Lesens und die Fortsetzung des Schreibens als eigener Schriftsteller, entwickelte sich bei fast allen Kindern eine regelrechte Lesewut! Sie waren fasziniert von den über 5000 Büchern an einer Schule als Bibliothek. Sie lasen viele der Bücher, die wir statt Schulbücher einkauften. Sie waren und sind begeisterte Leser auf den Seiten ihrer Computer. Sie sind lesend in der Welt unterwegs. Dieses „Lesen durch Schreiben“ ist Kern des Offenen Lernens im selbst bestimmten „Deutschunterrichts“ der Schülerinnen und Schüler.

 

Dichterlesung könnte man nun der „Methode Naturelle“, dem „Offenen Unterricht“ oder dem „Menschenrecht der Kinder“ auf das eigene Lesen, Schreiben und Lernen zuordnen …



[1] Vergl. hierzu:  Uschi Resch, Walter Hövel,  Freie Texte heute, In: Hansen-Schaberg/Schonig (Hrsg), Freinetpädagogik, Hohengehren 2002