Walter Hövel

 

Wie wir die Leselust begründen

 

 

 

Wir bringen den Kindern unserer Schule kein Lesen bei

 

Die meisten lernen das Lesen selbst schreibend. Sie können durch ihr eigenes Schreiben mit dem Buchstabentor nach kurzer oder längerer Zeit von einem Augenblick zum anderen jedes Wort der Welt lesen. Lesen ist keine Mühe, sondern unerzwungene Beschäftigung mit der Welt.

 

 

 

Wir helfen den wenigen Kindern, die selbst gesteuert keinen Weg zu ihrem Erstlesen finden solange, bis der eigene Weg mit ihnen herausgefunden ist. Wir machen „Lesen durch schreiben“ nicht zu einer Methode. Jedes Kind findet seinen eigenen Weg das Lesen zu lernen. Wir helfen dabei.

 

 

 

Niemand konnte bisher erklären, wie Menschen das Lesen lernen

 

 

 

Jedes Kind beginnt seinen Einstieg in sein Lesen anders

 

Die Einen lesen zunächst „nur“ ihre selbst geschriebenen Wörter, Sätze und Texte vor. Die Anderen beginnen Kinder- oder Bilderbücher zu lesen oder Sachbücher oder Texte im Netz. Wieder andere tippen Texte zu Bildern in Powerpointprogramme, die sie vorlesen. Andere lesen scheinbar oder erkennbar erst einmal gar nicht. Wir helfen Kindern, die mit dem eigenen Lesen nicht beginnen wollen solange, bis sie ihr eigenstes Interesse in die

 

Welt des Geschriebenen gefunden haben.

 

 

 

Wir wissen, dass es an anderen Schulen, in der Mehrzahl Erwachsene gibt, die Kindern das „richtige“ Lesen und Schreiben beibringen wollen. Sie haben ihre Methode der Vorgabe, des Lehrens, die sie als Garant des „richtigen“ Lernens sehen. Sie vertreten jenes Lernen, was nicht klappt, zum Unwillen gegenüber Schule führt, zu unsäglichem Leid und der Verkrümmung von menschlichen Psychen und Körpern.

 

 

 

Vorlesen ist für Zuhörer eine genüssliche, gewinnbringende Erfahrung

 

 

 

Wir Lehrerinnen und Lehrer lesen den Kindern vom ersten Tag an vor

 

Wir leben ihnen das Lesen vor. Wir pflegen unsere vorgelebte Lesekultur und opfern diese Zeit nicht vordergründigen Lehrzielen. Wir lesen zunächst Märchen oder ähnliche Texte, täglich bis einmal in der Woche. Beim Vorlesen können die Kinder malen oder zeichnen, sie können die Köpfe auf den Tisch legen und (mit)träumen, oder etwas ganz anderes, dann allerdings nicht hörbar, tun. Später werden ganze Bücher vorgelesen, Harry Potter, die unendliche Geschichte und viele Bücher vorgelesen, Harry Potter, die unendliche Geschichte und viele andere Titel mehr; nicht zu oft und zu lange, - aber regelmäßig.

 

Nichtzuhörenkönnen ist für uns keine Frage der Unhöflichkeit oder des Charakters, sondern Zuhören kann ein selbst gesteuerter und geforderter Lernprozess sein.

 

 

 

Sprechen, Lesen und Schreiben sind immer ein kooperativer Prozess

 

Unserer Kinder nehmen von Anfang an als Zuhörer an der Dichterlesung teil. Sie stellen, sobald sie in der Lage sind, auch nur ganz kurze Ein-Satz- Geschichten zu schreiben, ihre Texte - oft schon selbst vorlesend – vor. Sie können oft noch nicht ihr selbst Geschriebenes lesen. Sie lernen es auswendig oder finden „Vorleser“.

 

 

 

Wöchentlich fast vier Jahre lang, „erleben“ sie die eigenen freien Texte, die der Anderen und das gemeinsame Lesen. Nach dem Vorlesen wird immer geklatscht. Auch hier leben wir eine Kultur der Anerkennung und des Respekts vor der Entwicklung des freien literarischen Ausdrucks des Einzelnen in und mit der Gemeinschaft. Vorlesen wird von Schülern nicht (und erst recht nicht von Lehrern) kritisiert, um zum Lesen zu erziehen.

 

Stattdessen beraten sich die Kinder gegenseitig, damit alle Texte von allen verstanden werden. Die Gruppe lernt das Lesen mit dem Einzelnen, die Einzelnen mit und von der Gruppe.

 

 

 

Wir führen die Kinder nicht beim Vorlesen Texte vor

 

Wir üben kein Vorlesen als Vorlesen fremder oder eigener Texte. Wenn du gut vorlesen willst, wirst du es üben – oder nicht. Das ist aber kein Kriterium einer Bewertung. Sie lernen es wie das Erlesen von Texten selbst gesteuert. Und alle Kinder können es. Sogar jene, die z.B. von einer „Kinderpsychologin“ „einer Lese-Recht-Schreib-Schwäche überführt“ wurden.

 

 

 

Wir kennen Rückstände in der Schreib-, Schrift- und/oder Rechtschreibentwicklung. Es gibt aber sehr selten eine Kombination von Problemen beim Lesen, Schreiben, Sprechen oder Rechtschreiben! Das eine ist etwas vollkommen anderes als das andere! Jedes Kind kann vorlesen. Probleme treten nach unserer Erfahrung nur auf, wenn jemand wie Mutter oder Großvater zuhause doch das Lautieren mit Buchstaben oder das laute Vorlesen zwangsweise als Hausaufgabe geübt hat. Das stockende Lesen oder das „Vorlesen“ sind in der Regel Wegweiser zu dieser veralteten Art des Leselernens. Eine Mitarbeiterin der Bezirksregierung nannte es einmal „Vorbellen“.

 

 

 

Unsere Schule ist eine Bibliothek

 

Kinder unserer Schule können, außer bei speziellen anderen Verabredungen, immer lesen. Lesen gehört zum Kanon unserer täglichen möglichen Arbeitsaufgaben. Kinderliteratur, Sachbücher, Kindermagazine, Bilderbücher, Kunstbücher, selbst gemachte Zeitungen und Bücher, jede Form von Texten werden an Stelle von Schulbüchern als Einzelexemplare aus den Mitteln des Lernmittelfreiheitsgesetzes und anderen Töpfen gekauft. Kinder bringen zu ihrem eigenen Geburtstag an Stelle von Süßem und Kuchen ein Buch für die Klasse mit (was nicht nur gesünder, sondern zudem billiger ist). Bücher

 

werden nicht Buchrücken an Buchrücken einsortiert, sondern sind mit den Titelseiten sichtbar hingestellt. Die Büchereien sind immer offen und zugänglich. „Ordnung“, also die Chance des Wiederfindens schaffen immer wieder Mütter oder wir LehrerInnen.

 

 

 

Du wirst von anderen durch das eigene Wort verstanden

 

 

 

In jeder Klasse stehen Hunderte von Büchern, die gerade gelesen oder nach dem Lesen liegen gelassen wurden. Im Forum stehen Regale voll mit Bücherkisten zu verschiedensten Themen und ein Regal mit türkischer und russischer Literatur. Im „Snoezelraum“ der Schule stehen Regale mit Kinder- und Jugendliteratur und Bilderbüchern. Im Kunstraum ist ein Wandregal mit Kunstbüchern, die das Cover sichtbar zeigen. In einem Flur stehen Experimentebücher sichtbar im Experimenteschrank, im anderen Flur zwei Tische mit englischen Schul-, Kinder und Sachbüchern. Viele „private“

 

Bücher bringen die Kinder mit. Und sie lesen ständig im Netz. Die Schule ist eine öffentliche Bücherei. Sie fordert zum Lesen auf, genau so wie gut 50 PCs in der Schule verteilt und überall zugänglich.

 

 

 

Übrigens haben wir dadurch nicht mehr Brillenträger, eher weniger als in der Gesellschaft. Unseres Erachtes liegt dies an der Vielfalt der Lerngelegenheiten inund außerhalb des Gebäudes und an der Ganzheit und Freiwilligkeit des Lernens

 

In der Schule gibt es viele Orte zum Lesen

 

Die Kinder lesen am eigenen Platz, überall in der Klasse, in großen Papprollen liegend im Musikraum, auf dem Gang sitzend, in einem Holzhäuschen im Foyer, auf dem Dachboden, im Snoezelraum, im LehrerInnenzimmer, draußen auf der Bank, oder der Schaukel, auf der Wiese, im Sandkasten, am Teich oder im Kriechtunnel. Oft sitzen sie zusammen und lesen sich gegenseitig vor. Einige lesen auch im benachbarten Kindergarten den Kleineren vor.

 

 

 

Wir machen Werbung für anspruchvolles Lesen

 

Die Kinder greifen zu Sachbücher oder nutzen den permanenten Zugang zum Internet in jeder Klasse, um etwas über ihre selbst ausgesuchten Themen des täglichen Arbeitens zu lernen. Wir organisieren regelmäßig Leseprojekte mit von den Kindern individuell ausgesuchten Büchern.

 

 

 

Wir LehrerInnen beraten sie. Wir organisieren auch die Begegnung mit Goethe oder Schwitters. Wir präparieren immer wieder Lesetische oder füllen Displays (Buch-handlungen oder Kinos geben sie kostenfrei ab, wenn sie sie ausrangieren), mit Büchern zu bestimmten Themen.

 

 

 

Wir besorgen Bücher aus schulfremden Einrichtungen, oder besuchen sogar Bibliotheken. Nicht nur unsere Kinderuniversität nutzen wir als Angebot zur Begegnung mit Literatur und Welt.

 

 

 

Die Konkurrenz zum Lesen wird eingeschränkt

 

Ins Videogerät, ins DVD-Fach oder auf die Festplatte kommen nur wissenschaftliche Filme, Verfilmung von (uns als Schulgemeinde) anerkannter Literatur oder selbst gedrehte Filme. Gewalt-, Böller- oder Sinnlosspiele weichen mathematischen und sachkundlichen digitalen Programmen, Gameboys und andere Zeittotschlagspiele bleiben zu Hause. Das Auswählen eines Buches für das eigene Arbeiten und Lernen wird immer unterstützt. Wir fordern sie immer wieder zum Lesen, zum guten Lesen auf.

 

 

 

Lesenlernen als „mit dem Lesen lernen“

 

Wir machen das Lesen nicht nur zur Technik des Erfahrens von Welt, Werten und Sinn, sondern erklären es den Kindern auch als Mittel des Lernens.

 

 

 

Wir koppeln das Lesen an Lernen -Lern -Techniken, an Aufgaben wie: „Findet 10 für euch wichtige Informationen aus einem Text heraus und tragt sie vor“, „Tauscht euer erinnertes Wissen aus Texten in einem Kugellager aus“, „Bildet einen neuen Text aus selbst gesuchten Stichworten aus einem Märchen oder einer Geschichte“. „Markiert im Text was für euch das Wichtigste, was für euch neu ist.“ „Stellt einen Text als Bibliodrama dar“. „Erzählt euch gegenseitig was ihr in Filmen, im Netz oder in Büchern entdeckt habt Bildet euch“.Anderen und sich selbst beim Lesen helfen ist auch Gegenstand von Leadershipausbildung.

 

 

 

Wir reflektieren das Lesen

 

Im Klassenrat, in Kreisen, in Arbeitsgruppen, in Seminaren reden wir mit Kindern darüber, was Texte spannend macht, welche Texte sie lesen, was einen guten Text ausmacht, wie sie Texte lesen, wie sie gründlich, oder schnell lesen, wie sie Texte auswendig lernen, sie betonen, sie singen, sie rezitieren. Welche Rolle Gelesenes für sie beim Theaterspiel, beim Drehbuchschreiben oder in der Email aus England spielt. Wir halten sie an, sich gegenseitig zu beraten, auszutauschen, um mit, durch und über das Lesen zu lernen ist. So machen sie weder eigene Texte, Vortäge, Bücher oder Filme.

 

 

 

Wir erklären uns zu Literaturkennern

 

Wir tauschen in der Klasse unsere Erfahrungen mit Kinder- und Jugendliteratur aus. Wir fragen nach, wenn wir im Kreis sitzen. Zum Vorstellen des Selbstgelernten gehört es, Bücher vorzustellen. Wir pflegen „die Normalität“ des Lesens. Auch LehrerInnen lesen Kinder- und Jugendliteratur, ob Michael Ende, Joanne K. Rowling, Kay Meyer, Terry Pretchett, Cornelia Funke, Eoin Colfer oder Astrid Lindgren.

 

 

 

Niemand wird zum Lesen gezwungen

 

Lesen steckt an. Dem Gelesenen Sinn, den „richtigen“ Sinn entnehmen lerne ich besser, wenn ich über den Inhalt des Gelesenen selbst entscheide. Auch das Lesen ist eine Frage der Entwicklung der eigenen demokratischen Einstellung und der Gesellschaft.

 

 

 

So lernen Erwachsene auch zu Kindern hochzublicken. Sie lernen sie ernst zu nehmen. Sie verstehen, was sie lesen. Sie verstehen wie wir. Sie sind Menschen.