„Read it up: Studiere  eine Sache besonders, studiere sie eingehend“

Warum die Kinder bei uns so gerne lesen

                                                                                                                                                                                         von  Walter Hövel

 

 

Natürlich auch aufgrund der internationalen Schulvergleiche, habe ich mir in letzter Zeit einige Gedanken über die Lesekultur an unserer Schule gemacht. Und ich habe Kinder befragt. Die Ergebnisse der Befragung sind in den Kästen als „Kinderantworten“  zu finden.

In der Sternschnuppen-Klasse der Grundschule Harmonie, schätzten die Kinder Mitte des vierten Schuljahres  ihr eigenes häusliches Leseverhalten wie folgt ein:

Kinderantworten:

Wie liest du Zuhause?

Ich lese nichts:                       1

Ich lese gelegentlich:              2

Ich lese regelmäßig:                3

Ich lese viel und begeistert:  19

 

(Der nicht-lesende Schüler ist erst seit 7 Monaten in der Klasse und genoss vorher einen „gewöhnlichen“ Fibel- und Sprachunterricht. Einer der „Gelegenheitsleser“  kam  vor einem Jahr aus der gleichen Klasse. Der andere „Gelegenheitsleser“ liest mehr in der Schule als Zuhause. Die überwiegende Zahl der Kinder ist von Anfang an bei uns, einige sind spätere Einsteiger. )

 

 

 

Kinderantworten:

Was liest du gerade?

 „Den Michel von Lönneberga habe ich jetzt 4mal gelesen“ -  „Ich lese immer ein deutsches Buch und gleichzeitig ein russisches. Das russische heißt >Die bunten Künstler<“ -  „ Band 4 von Harry Potter habe ich erst einmal gelesen, die anderen schon zweimal“ - “Ich lese gerade was mit Nazis und Krieg. Ein Tagebuch von einem Mädchen,...ja, ja, das Tagebuch der Anne Frank“ -  „Wenn mir beim Lesen langweilig wird, dann lese ich die Computerzeitschrift“ - „Den Zahlenteufel hab’ ich  bis jetzt zweimal gelesen“ -  „Klar,  behalte ich das, was in den Sachbüchern steht“ -  „Ich lese immer meiner Katze vor, die hört zu“.

 

 

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Wir stellen seit vielen Jahren, nicht nur an unserer Schule, fest, dass aus Lesen-durch-Schreiben-Kinder selbst-verständliche Leserinnen und Leser und in der Regel Literaturgenießer werden. Lesende Kinder sind unser Alltag, Sinn entnehmendes Lesen ist überhaupt keine Fragestellung.

Das Fundament für diese Lesekultur ist sicherlich eine Lebens- und Lernatmosphäre in der Schule, die Kinder ernst nimmt, eine Kultur der Anerkennung kennt, eine Schule, in der sich Lehrerinnen und Lehrer Zeit für das gemeinsame Nachdenken über, und das Handeln mit Kindern, und einen sich ständig verändernden und zu entwickelnden Lernbegriff nehmen.

 

Ich habe 12 Gründe gefunden, die ich für dieses positive Phänomen verantwortlich machen möchte. Die Reihenfolge der 12 aus der Praxis begründeten Thesen  ist - bis auf  die letzte - eine Wertung der Wichtigkeit meinerseits, ohne das einzelne an Wichtigkeit verlieren sollen, oder der zeitlichen Reihenfolge. Die letzte These könnte auch die erste sein.

 

 

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 „She reads you like a book: Sie kann in deiner Seele wie in einem Buch lesen“

12 Gründe für die Leselust

( - Warum die Kinder bei uns so gerne lesen - )

 

  1. Wir Lehrerinnen und Lehrer lesen den Kindern vom ersten Tag an vor. Wir leben ihnen das Lesen vor. Wir pflegen unsere vorgelebte Lesekultur und opfern diese Zeit nicht vordergründigen Lehrzielen.

            Wir lesen zunächst Märchen, täglich, bis einmal in der Woche. Beim Vorlesen können          

            die Kinder malen oder zeichnen, sie können die Köpfe auf den Tisch legen und  

            (mit)träumen. Später werden ganze Bücher vorgelesen, Harry Potter, Die unendliche

             Geschichte, Michel von Lönneberga, und viele andere Titel mehr; nicht zu oft und zu

             lange, denn Zuhören muss von vielen erst gelernt werden, - aber regelmäßig.

    

  1. Wir bringen den Kindern unserer Schule kein Lesen bei. Sie lernen Lesen durch               

            Schreiben. Sie können durch ihr eigenes Schreiben mit dem Buchstabentor „von

            einem Augenblick zum anderen jedes Wort der Welt lesen“ (Reichen).  Lesen ist keine

            Mühe, sondern un-gezwungene Beschäftigung mit der Welt.

 

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Kinderantworten
Was muss ein Buch haben, damit es gut ist?

 „Action, Zauberei, Hexen, Detektive, Rätsel, Gruseln,  Abenteuer, Lustiges, Lernen, Lachen, Spannung, Trauer, Gefahr, Schlösser, Burgen, Verliese, Drachen, Neues, Tiere, Freunde, Freundschaft“
 

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  1. Unserer Kinder kennen  die Dichterlesung, sobald sie in der Lage sind, auch nur ganz kurze Ein-Satz-Geschichten zu schreiben. Hier lesen sie, fast 4 Jahre lang, wöchentlich ihre eigenen freien Texte vor. Nach dem Vorlesen wird immer geklatscht. Auch hier leben wir eine Kultur der Anerkennung und des Respekts vor der Entwicklung des freien literarischen Ausdrucks des Einzelnen. Unverständliches Vorlesen wird von Schülern nicht (und erst recht nicht von Lehrern) kritisiert, um zum Lesen zu erziehen. Stattdessen beraten sich die Kinder gegenseitig, damit alle Texte von allen verstanden werden.

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Kinderantworten

Gedanken zum Lesen:
„Das Tolle beim Lesen ist, du denkst, du bist die Figur aus dem Buch.“

 „Beim Lesen fühle ich mich, als gucke ich zu.“
„Filme sind oft enttäuschend. Es ist dann komplett anders, als ich es mir beim Lesen vorgestellt habe.“ 

„Lesen kann gefährlich sein: Du kannst dich im Lesen verlieren, und du hast zu wenig Schlaf, wenn das Buch spannend ist.“

„Es ist toll in einer anderen Welt zu sein,  weg von Dem hier.“ ( Anders als in der Sprache der Psychologie, meint die Rheinländerin  nicht <weg von dem Hier>. Sie betont das „Dem“ als Objekt  vor dem „hier“,)
„Du vergisst die Zeit!“
„Bei einem Buch kann ich mitdenken. Ich kann Probleme lösen.“

 

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  1. Wir führen die Kinder nicht beim Vorlesen fremder Texte vor. Wir üben kein Vorlesen als Vorlesen. Sie lernen es wie das Erlesen von Texten selbst gesteuert. Und alle Kinder können es. Sogar jene, die „einer Lese-Rechtschreibschwäche überführt“ wurden. Wir kennen Rückstände in der Schrift- und/oder Rechtschreibentwicklung. Es gibt aber sehr selten eine Kombination von Problemen beim Lesen und Rechtschreiben!  Das Eine ist etwas vollkommen anderes als das Andere!

          

5.      Wir haben eine Schulbibliothek und klasseneigene Präsensbibliotheken. Kinder unserer Schule können, außer bei speziellen anderen Verabredungen, immer lesen. Lesen gehört zum Kanon unserer täglichen möglichen Arbeitsaufgaben. Sachbücher werden an Stelle von Schulbüchern als Einzelexemplare aus den Mitteln des Lernmittelfreiheitsgesetzes gekauft. Kinder bringen zu ihrem eigenen Geburtstag an Stelle von Süßem und Kuchen ein Buch für die Klasse mit (was nicht nur gesünder, sondern zudem billiger ist). Die Bücher werden nicht Buchrücken an Buchrücken einsortiert, sondern sind mit den Titelseiten sichtbar hingestellt. Die Bücherei ist immer offen. Ordnung schafft immer wieder eine Mutter und wir LehrerInnen.

 

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Kinderantworten
Warum liest du?
15x: „aus Spaß“
8x: „wegen der Spannung“

4x: „es gibt mir Fantasie, ich kann in eine andere Welt eintauchen“
4x: „gegen die Langeweile“ 
4x: „damit ich was lerne“
2x: „zur Unterhaltung“
2x: „damit ich besser einschlafen kann“
1x: „aus Interesse“
1x: „weil die Eltern es wollen“
1x: „weil es lustig ist“
1x: „als Anregung für eigene Geschichten“

 

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  1. In der Schule gibt es viele Orte zum Lesen, am eigenen Platz, überall in der Klasse, in großen Papprollen im Musikraum, auf dem Gang, in einem Holzhäuschen im Foyer, auf dem Dachboden, in der Bibliothek, im LehrerInnenzimmer, draußen auf der Bank, auf der Wiese, im Sandkasten, am Teich oder im Kriechtunnel.

 

  1. Die Kinder greifen in der Regel zunächst zu Sachbücher, um etwas über ihre selbst ausgesuchten Themen des täglichen Arbeitens zu lernen. Später folgt die Kinder- und Jugendliteratur. Wir organisieren regelmäßig (ein- bis zweimal im Jahr) Leseprojekte mit von den Kindern individuell ausgesuchten Büchern. Wir LehrerInnen beraten sie. Wir organisieren auch die Begegnung mit Goethe oder Schwitters. Wir präparieren immer wieder Lesetische oder füllen Displays (Buchhandlungen geben sie kostenfrei ab, wenn sie sie ausrangieren), mit Büchern zu Themen. Wir besorgen Bücher aus schulfremden Einrichtungen, oder besuchen sie. Wir haben  einen permanenten Zugang zum Internet in jeder Klasse, der jederzeit von allen benutzt wird.

 

 

  1. Die Konkurrenz zum Lesen wird eingeschränkt. Ins Videogerät kommen nur wissenschaftliche Filme oder Verfilmung von (von uns als Schulgemeinde) anerkannter Literatur. Gewalt-, Böller- oder Sinnlosspiele weichen mathematischen und sachkundlichen digitalen Programmen, Gameboys und Pokemons bleiben zu Hause.

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Kinderantworten

Wie viele Seiten pro Woche liest du?
 „2,4,10,15,20,25,40,50,50,60,60,70,75,80,80,80,90,100,100,120,180,200, über1000“

Das ergibt einen Durchschnitt von 110 Seiten.

 

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  1. Wir koppeln das Lesen an Lernen-Lern-Techniken. Zum Beispiel an Aufgaben wie: „Findet 10 für euch wichtige Informationen aus einem Text heraus und tragt sie vor“, „Tauscht euer erinnertes Wissen aus Texten in einem Kugellager aus“, „Bildet einen neuen Text aus selbst gesuchten Stichworten aus einem Märchen oder einer Geschichte“. „Markiert im Text was für euch das Wichtigste ist.“

 

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  1. Wir reflektieren das Lernen, also auch das Lesen mit den Kindern im, und als   

      Unterricht, wie bei den hier veröffentlichten „Kinderantworten“.

 

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Kinderantworten
Lieblingsbücher der Kinder
 Harry Potter (9x), Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter, Michel Lönneberga (2x)
Die Drachenreiter, Der rote Mustang,, Nick Nase, Der tätowierte Elefant, englische Landroverzeitschriften, Wilfried der Riese, TKKG, Leselöwebücher, Die Brüder Löwenherz, Jim Knopf, Der kleine Mann, Zeitschrift „Computerbildspiele, Achtung Monster, Hanni und Nanni, Der Wunschpunsch, Der kleine Vampir, Molly soll leben, Die klügste Katze der Welt, Das Buch der Schatten, Comics, Die kleine Hexe, Tiergeschichten, Bücher über Rennwagen, Geschichten mit Drachen, Über Putzi lacht man nicht, Die Ponys auf der Insel, Lippels Traum, Christian und die wilden Tiere, Das Tierlexikon, Der Pfiffikus, Das schöne Mädchen, Die Prinzessin auf dem Pferd, Tigerteam: Das vergessene Verlies, Tigerteam: Das Grab des Pharaos, Tigerteam: das Phantom auf dem Fußballplatz, Der Zahlenteufel, Die Nachtreiter, Die ???, Inspektor X, Pferdepflege, So ein Bruder, Ramona, Das Vamperl, Asterix und Obelix, Kwiatkowski (alle 1x)
  


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  1. Wir erklären uns zu Literaturkennern. Wir tauschen in der Klasse unsere Erfahrungen mit Kinder- und Jugendliteratur aus. Wir fragen nach, wenn wir im Kreis sitzen. Zum Unterricht gehört es, Bücher vorzustellen. Auch LehrerInnen lesen Kinder- und Jugendliteratur, ob Michael Ende, Joanne K. Rowling, Kay Meyer, Cornelia Funke, Eoin Colfer  oder Astrid Lindgren. 
  1. Niemand wird zum Lesen gezwungen. Lesen steckt an. Auch das Lesen ist eine Frage der Demokratie.

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„Lesen: Das Gute vom Schlechten  trennen“