Ulrich Hecker

 

Warum nicht handlungsorientiert Literatur

 

 

 

"Nur für die Minderjährigen

 

unter unseren Mitbürgern

 

hat das Recht auf

 

freie Lektüre keine Geltung.

 

Sie, die ohnehin

 

täglich in Betonbunkern

 

gefangengehalten werden,

 

welche das Gemeinwesen

 

eigens zu diesem Zweck

 

errichtet hat,

 

zwingt man fortgesetzt.

 

Gedichte zulesen,

 

und was noch viel

 

entsetzlicher ist,

 

zu interpretieren.

 

Gedichte,

 

an denen sie in den meisten

 

Fallen keinerlei Interesse

 

bekundet haben."

 

 

 

Hans Magnus Enzensberger (1)

 

Auf den Tatbestand dieser Realität reagiert ein handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht, der einen "handelnden Umgang mit literarischen Texten" in das Zentrum seiner Bemühungen stellt.

 

 

 

Handelnder Umgang mit Literatur ist eine Antwort auf Fragen,

 

 

 

  • wie Schülerinnen und Schüler ihre Subjektivität, ihre Interessen und Bedürfnisse in den Literaturunterricht einbringen können,

 

 

 

  • wie das ewig wiederholte "Über-den-Text-Sprechen-Müssen" aufgebrochen werden kann,

 

 

 

  • wie die ursprüngliche Lust, sich kreativ und produktiv mit Elementen der Realität auseinanderzusetzen, auch im (Literatur-)Unterricht entwickelt und (wieder-)belebt werden kann.

    Wie also konnte ein Unterricht mit und über Literatur aussehen, der nicht zwangsläufig im "Interpretationsgespräch" endet, der ursprüngliche Literaturinteressen

 

oft zerstört und die langsameren und schwächeren Schüler meist zurücklässt und

 

entmutigt?

 

 

 

Handelnder Umgang mit Texten bedeutet: Texte werden von Leserinnen und Lesern in andere Medien, Situationen und Aussageformen hinein "übersetzt", sie werden variiert, ergänzt, gekürzt, hinterfragt, verfremdet, ihnen wird zugestimmt, widersprochen, sie werden hinterfragt ...

 

Kurz: Schülerinnen und Schüler werden ermutigt, aktiv und produktiv mit Texten umzugehen, ihnen auch mit den eigenen Gefühlen zu begegnen,maus Texten schließlich "etwas anderes" zu machen, Texte zu "vergegenständlichen". (2)

 

Willi Fahrmann war es, vielfach ausgezeichneter Autor von Kinder- und Jugendbüchern

 

und selbst Pädagoge, der die Praxis "multimedialer" Aufbereitung literarischer Texte vielfältig

 

angeregt und gefordert hat.

 

 

 

"Multimedial" bedeutet, dass die individuelle und kollektive Reaktion von Schülerinnen und Schülern auf Literatur einmündet in die Präsentation der Ergebnisse ganz bunter, be-greifbarer

 

Antworten darauf: Bilder, Collagen, Text-Bild-Kombinationen, Plakate, Fotos und Dias, Szenen und Puppentheaterstücke, Illustrationen und ganz freie Assoziationen, Texte, Lieder, Pantomimen, Schattenspiele ... (3)

 

 

 

Diese vielfältigen Arbeits- und Aktionsformen mit denen Lektüre verbunden ist, mündet in eine Gesamtschau dieser bunten "Interpretationen".

 

 

 

Klar, dass ein solches Bearbeiten, Verändern und Übersetzen von Texten nicht in den 45-Minuten-Takt gepresst werden kann. Hetze ist der Tod solcher Vorhaben, die Muse brauchen. Wie Literatur überhaupt! Denn Genuss und Erlebnis gehen nicht im Fließbandtakt.

 

 

 

Denken wir daran:

 

"Schüler brauchen beim Lesen, Studieren, Nachschlagen nicht wie Verbrecher beaufsichtigt zu werden, 'damit sie etwas tun'.

 

 

 

Zur Eingewöhnung sind … stundenplanmäßig garantierte Lesestunden günstig, so dass die, die lesen wollen, dies ungestört tun konnen." (4)

 

 

 

Schülerinnen und Schüler wollen das, wenn sie Lesen in der Schule als interessant, abwechs-lungsreich und alle Sinne einbeziehend erfahren haben.

 

 

 

Ein unverzichtbares Werkzeug für einen solchen Literaturunterricht liegt jetztvor, erarbeitet von einer Gruppe von Freinet-Padagogen:

 

 

 

Walter Hovel/Otto Vierkotter/Ute Geus:

 

Warum nicht Literatur? Literatur handlungsorientiert,

 

Kartei DIN A 5, Verlag

 

Die Schulpraxis, Zehntweg 158, 4330

 

Mulheim/R., Tel. 0208/756405, DM 26.

 

 

 

8 Im Karton ( immer mit Zeichnungen)

Schneide ihn an den Seiten von hinten oben diagonal nach unten auf, Schneide das Vordere auch weg, so dass unten ein Sichtrand stehen bleibt.

Nimm Bilder aus Zeitungen und Zeitschriften, kaputtes Spielzeug, Verpackungsreste, Sand

- alles was euch einfällt-, und baue damit in den Karton eine Landschaft, eine Bühne, ein Phantasiegebilde, baue etwas, was für die gelesenen Gedicht oder den Text darstellt.

 

 

 

Die Autoren zu ihrem Vorhaben:

 

"Aus der Erfahrung, das traditionelle Interpretation von Literatur den Schülern eher die Lust daran verdorben hat, als ihnen Texte nahezubringen, heißt unser Motto: Lasst die Schülerinnen und Schüler auf ihre Art ihre Interpretation vornehmen. Diese Kartei ist deshalb auch keine neue Form von Lesebuch, sondern Hilfsmittel, Anstoß und Angebot."

 

Die vielfältigen und originellen Vorschlage werden also nicht über ausgeführte "Schritt-für-Schritt-Modelle" vermittelt, sondern durch die praktische nach-machbare Präsentation von

 

Arbeitsmöglichkeiten. Alle vorgestellten Verfahren und Methoden sind unterrichtlich erprobt - typisch für Materialangebote von Freinet-Pädagogen.

 

 

 

19 STREICHHOLZ (immer mit Zeichnungen)

Wenn du Texte ganz klein schreibst, kannst du sie

auf Streichholzschachteln, Feuerzeuge, kleine

Dosen, kleine Flaschen, etc. kleben. Mit selbstklebender

Folie kannst du die Dinge zwecks längerer

Haltbarkeit bekleben. So hast du kleine,

aber feine Geschenke. Auf einem Schulbasar lassen

sich diese Sachen auch gut verkaufen.

 

 

 

 

 

 

 

Die Kartei besteht aus 53 Karten mit handlungsorientierten Techniken zum Umgang mit Literatur sowie etwa 120 (größtenteils lyrischen) Textbeispielen.

 

 

 

Die Kartei ist offen für die eigene Weiterarbeit und für die Aufnahme weiterer Techniken.

 

 

 

Mit diesem Hilfsmittel wird Schüler/innen und Lehrer(inne)n ein Literaturunterricht

 

möglich, der Novalis' "Vermischte Bemerkung" einlöst:

 

 

 

"Nur dann zeig ich, dass ich einen

 

Schriftsteller verstanden habe, wenn

 

ich in seinem Geist handeln kann,

 

wenn ich ihn, ohne seine Individualität

 

zu schmälern, übersetzen und

 

mannigfach verändern kann."

 

 

 

Anmerkungen :

 

(1) Hans Magnus Enzensberger, Ein bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie. Den Deutschlehrern der Republik zugedacht,

 

in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 25.9.1976

 

 

 

(2) Zu diesem didaktischen Ansatz ist grundlegend der sehr empfehlenswerte Band:

 

Gerhard Haas, Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht in der Sekundarstufe I, Schroedel

 

Schulbuchverlag, Hannover 1984, 144 S.

 

 

 

(3) Der Arena-Verlag in Würzburg versendet gegen eine Schutzgebühr von jeweils 2 DM die ungemein anregenden

 

Taschenbücher "Zum Lesen verlocken: Kinderbücher für die Klassen 1 – 4 und "Zum Lesen verlocken: Jugendbücher für die Klassen 5 - 10".

 

In Willi Fahrmanns Buch "Schule ist mehr als Unterricht. Ratschläge für Lehrer und Eltern" (Echter Verlag,

 

Würzburg 1978, 170 S.) sind ebenfalls eine Fülle von Tipps und Anregungen zum "literarischen Leben in der Schule" enthalten.

 

 

 

(4) Bernard Eliade, Offener Unterricht,Weinheim und Basel 1975, S. 49.