Schreiben und Lesen in der Schule leben!

 

Lesen ist cool!

 

Die Grundschule Harmonie ist eine Bibliothek

 

 

 

In unserer komplett altersgemischten Grundschule Harmonie lesen die

 

Kinder gerne, viel, ständig und ausdauernd.

 

Den über 200 Menschen unserer Schule

 

stehen über 5000 Bücher zur Verfügung.

 

Wir geben unser Geld höchstens einmal für

 

Mathebücher oder Mathetrainer aus.

 

Ansonsten kaufen wir Bücher! Keine

 

Klassensätze Schulbücher, sondern immer

 

einzelne Exemplare „echter“ Bücher.

 

Unsere Schule ist voll damit.

 

Im Forum der Schule stehen Themenkisten zu verschiedensten

 

Gebieten. Da sind ein langes Regal und ein Bücherhaus mit englischen

 

Büchern und ein kleines Regal mit türkischen in einem der beiden Flure.

 

Da bieten in der Lounge an zwei Wänden

 

große Regale Kinder- und Jugendbuchliteratur

 

an. Da gibt es im Kunstraum die

 

Sammlung von Kunstbüchern an einer

 

Wand gut sichtbar präsentiert. Im Matheraum

 

ist ein Ständer mit Mathebüchern für

 

Kinder und Erwachsene. Im Experimenteschrank

 

sind einige Bücher mit Versuchen,

 

daneben ist ein alter Architektenzeichentisch

 

mit Atlanten und Landkarten.

 

Zusätzlich hat jede Klasse Regale und Boxen voller eigener Bücher. 1

 

Es gibt kein begleitetes Ausleihsystem. Kinder nehmen sich Bücher, die

 

sie brauchen oder interessieren. Sie müssen mit anderen Kindern und

 

Erwachsenen darüber kommunizieren, wo sie ein Buch zu ihrem Thema,

 

das sie immer selbst wählen, finden. So

 

treffen sie auf Mitlernerinnen und Mitlerner,

 

die sich mit gleichen oder ähnlichen

 

Themen beschäftigt haben, sie finden

 

Mitdenkende und neue Mitarbeiterinnen

 

und Mitarbeiter.

 

Wenn sie zu einem Thema kein Buch

 

finden, wird es sofort in der örtlichen

 

Buchhandlung bestellt und es ist am

 

nächsten Tag da. Oder sie gehen ins Netz. Sie haben gut 50 Adressen

 

von kind- und erwachsenengerechten Internetadressen auf der Startseite

 

unserer Computer zur Verfügung, die sie auch hoch professionell nutzen.

 

1 Fotos dieses Artikels sind auf unserer Homepage (www.grundschule-harmonie.de)

 

in der Powerpointpräsentation „Unsere Schule ist eine Bibliothek“ zu finden.

 

Wir gehen auch – ganz „altmodisch“ - zur örtlichen Bücherei und bekommen

 

hin und wieder zu bestimmten Projekten von der Bibliothekarin

 

zusammengestellte Bücherkisten. Unsere wöchentliche Vorlesung

 

unserer schuleigenen Kinder-Universität findet auch schon einmal,

 

wörtlich, als Vor-Lesung statt.

 

Unsere Kinder lesen immer und überall, an

 

ihrem Platz, auf dem Sofa, auf einem

 

Tisch, dem Teppich oder auf der Wiese

 

liegend, auf der Schaukel, in der Kletterröhre,

 

im Theaterraum, auf dem Gang, im

 

Baumhaus, im Hochsitz oder an einem

 

Tisch im Forum der Schule, in der Lounge,

 

im Lehrerinnenzimmer oder in der freien

 

Besprechungsecke im Schulleiterzimmer.

 

Einige stehen oder gehen im Gang oder lesen im Bus, weil sie das Buch

 

wirklich versehentlich mitgenommen haben.

 

Lesen ist bei uns cool und in! Alle lesen.

 

Alle können lesen. Alle wollen lesen. Lesen

 

ist Alltag, Lesen gehört zum Lernen und

 

Leben.

 

Unsere Kinder wachsen durch das eigene

 

mündliche und schriftliche Verfassen und

 

dem meist erst später folgendem Verlesen

 

der eigenen Texte in eine Gemeinschaft

 

von Schreibern und Lesern hinein.

 

Niemand wird gezwungen die eignen ersten Wörter oder Geschichten

 

vorzulesen. In der Regel können sie das auch gar nicht, da fast immer

 

das Schreiben der eigenen Wörter vor dem

 

Lesen kommt und die Allermeisten das

 

Lesen durch das Schreiben lernen. In der

 

Regel wissen die Kinder in der Anfangsphase

 

ihres Erstlese- und Schreibprozesses

 

auch gleich nach dem Schreiben

 

nicht mehr, was sie geschrieben haben!

 

Auch wenn sie bereits lesen können,

 

werden sie nicht als Vorleser vorgeführt.

 

Wenn sie beginnen die eigenen Texte in der wöchentlichen

 

Dichterlesung“ zu verlesen, ist es ihr eigenes Präsentieren vor

 

Menschen, die ihre Leistung als Autoren achten und ihr Respekt zollen.

 

Niemals zwingen wir Kinder zum Vorlesen

 

unbekannter oder von anderen verfasster

 

Texte. Schon unser erstes „Vorlesen“ ist

 

Produkt des freien kooperativen Schreibens

 

in der Klassengemeinschaft als

 

Veröffentlichung und Würdigung durch die

 

Dichterlesung.

 

Entscheidend ist, dass die Kinder sich das

 

Schreiben und Lesen der eigenen gesprochenen Sprache selbst erobern.

 

Und dadurch – also alleine durch die schriftliche Übertragung der von

 

ihnen beherrschten Laute in die Zeichen, die wir Buchstaben nennen –

 

können sie nach individuell verschieden

 

langer Zeit eines Tages von einer Sekunde

 

zur anderen jedes Wort der Welt, das in

 

ihren“ Buchstaben geschrieben ist, lesen.

 

Gleichzeitig und sofort erfassen und begreifen

 

sie vollständig den Sinn jedes

 

selbst gelesenen Wortes, das ihnen

 

bekannt ist.

 

Das anfängliche „Verschriftlichen“ der eigenen Sprache ist also, wie

 

Jürgen Reichen und andere Schweizer Kollegen bereits in den 70iger

 

Jahren herausfanden, nicht zu allererst der

 

Beginn des Schreibens, sondern führt zur

 

sofortigen Beherrschung des Lesens als

 

aktiver Prozess des Sinn-Erfassens von

 

Geschriebenem. Erst wenn die Kinder ihr

 

selbst Geschriebenes lesen können,

 

beginnen sie mit der Entwicklung von

 

Rechtschreibung und Weiterentwicklung

 

von Satz- und Textaufbau.

 

Aber sie sind sofort und ganz in die Welt der Leser eingestiegen, ohne

 

künstliches Training, ohne „Vorbellen“, wie Erika Altenburg das

 

schulische Vorlesenlassen einmal nannte, ohne fremdbestimmtes Üben

 

oder erzwungene extrinsische Motivation.

 

Nach der Eroberung des Lesens durch das

 

eigene Schreiben beginnt für die Kinder die

 

Phase der Eroberung der Textseiten der

 

Bücher. Die einen kennen schon

 

Bilderbücher und das Vorlesen von Geschichten

 

oder Märchen von Zuhause,

 

andere aus dem Kindergarten, einige

 

lernen beides erst bei uns kennen. Wir

 

pflegen das Lesen auch durch unser

 

lesendes und vorlesendes Vorbild.

 

Jetzt begreifen sie die Seiten der Bücher und digitalen Netze, um

 

Informationen über die Welt, die Menschen

 

und die Natur zu suchen, zu finden und zu

 

verarbeiten. Dabei sind sie von Anfang an

 

Experten, die selbst Texte, Geschichten

 

und Gedichte schreiben. Sie sammeln

 

selbst Informationen, die sie festhalten, auf

 

Plakaten oder Wandzeitungen, in den

 

Ordnern ihrer Computer, im eigenen Heft

 

oder Buch oder auf andere vielfältige Arten

 

ihrer eigenen Lernarbeit.

 

Wenn ein Kind in der Anfangsphase des

 

Erwerbs der Schriftsprache Schwierigkeiten

 

hat, helfen wir Erwachsenen sofort! Oft

 

reichen Organisations- oder Motivationsgespräche,

 

manchmal bedarf es der

 

Begleitung eines Erwachsenen, manchmal

 

muss erst die Mal- und Zeichenphase

 

nachgeholt werden.

 

Ein anderes Mal hilft z.B. unser schulinternes Training mit dem Blick-

 

Mobil-Programm, selten müssen außerschulische Experten zu Rate

 

gezogen werden.

 

Andere Kinder brauchen wiederum ihre absolut eigenen und anderen

 

Programme“. Perla lernte Lesen und Schreiben über das Abschreiben,

 

Kevin über die Mathematik, Siyabend über das Üben mit der Schwester,

 

Christian mit einem Schreiblehrgang und Yvonna lernte das Lesen über

 

das Beobachten anderer beim Schreiben.

 

Sobald unsere Kinder lesen können, lesen

 

sie aus Selbst-Verständlichkeit! Sie werden

 

passionierte Leserinnen und Leser, weil sie

 

ihre Literatur, ihre Themen und ihre Fragen

 

und Antworten in den vielen Büchern

 

unserer Schule finden.

 

Dann gibt es einzelne Kinder, die nicht zu

 

Büchern greifen, obwohl sie lesen können. Solche Kinder beraten wir in

 

einzelnen Gesprächen bis wir ein immer nur individuell geltendes und

 

funktionierendes, nur für das einzelne Kind mit dem Kind selbst

 

erarbeitetes Förderprogramm entwickeln

 

konnten. Wir arbeiten mit dem Kind bis es

 

erfolgreich ist, bis es seine Bücher und

 

damit sich selbst in der Literatur gefunden

 

hat.

 

So kommt es, dass bei uns nur neue

 

Bücher neu aussehen, die älteren sehen

 

benutzt und gelesen aus. Sehr selten geht

 

ein Buch kaputt, weil allzu sorglos mit ihm

 

umgegangen wurde. Sie gehen im

 

betagten Alter aus dem Leim, weil sie oft in den Händen von lesenden

 

Kindern waren.

 

Bücher werden respektiert. Sie sind eine ernste Konkurrenz zu den

 

Seiten der Suchmaschinen,

 

Kinderlinkadressen oder gar Anfällen von

 

Langeweile. Unsere Schülerinnen und

 

Schüler genießen ihre Bücher vom

 

einfachen Bilderbuch, über Sachbücher,

 

Foto- und Kunstbänden, Lexika, Märchenbücher

 

und Gedichtsammlungen bis hin zu

 

den Harry-Potter-Bänden oder klassischer

 

Jugendbuchliteratur wie Robinson Crusoe

 

oder den Geschichten von Wilhelm Busch.

 

In der Grundschule Harmonie lernen die Kinder seit der Gründung im

 

Jahr 1996 das Lesen und Schreiben ohne Fibel, Schreib- oder

 

Lesekurse, ohne Buchstabentage, Stationen, ohne „Deutschstunden“,

 

Arbeitsblätter oder sonstige Lehrgänge. Wir Erwachsenen bringen den

 

Kindern das Lesen und Schreiben nicht bei, sie lernen es selbst.

 

Den Grundstein für unsere Lesekultur

 

legen wir vom ersten Schultag an. Einige

 

Kinder haben schon vor der Einschulung

 

mit dem Lesen und Schreiben begonnen,

 

einige wenige können lesen ohne zu

 

schreiben, sehr viele kennen schon

 

Buchstaben, fast alle können ihren Namen

 

zeichnen“. Die einen greifen zu Stift und

 

Papier, einige zu Heften, ein paar zu

 

Buchstaben-stempeln, andere schmökern „nur“ in Büchern, andere tippen

 

ihre ersten Wörter auf dem Computer oder zeichnen und malen lieber

 

Bilder oder wollen noch mit dem Schreiben und Lesen warten.

 

Alles was wir Erwachsenen tun, ist ihnen

 

Starthilfe beim Lautieren anbieten, dazu

 

das Buchstabentor oder Anlauttabellen. Wir

 

reden mit ihnen über das Schreiben im

 

Kreis des Klassenrates, in einzelnen Gesprächen

 

und Situationen. Wir schließen

 

Arbeitsverträge“ mit ihnen: „Ich schreibe,

 

tippe oder setze jeden Tag drei (oder eine

 

andere Anzahl) täglich neuer (!) Wörter,

 

alleine, mit Mitschülern, zuhause, mit einer Assistentin oder einer

 

Lehrerin“.

 

Oder wir setzen uns mit ihnen nach alter Manier der Freinetpädagogik

 

hin, um ihre ersten Geschichten festzuhalten:

 

Erwachsenen, oder Kinder

 

(Sekretäre), schreiben die Geschichte auf,

 

die uns das Kind - mit oder ohne fremde

 

Hilfe - erzählt. Es gibt manchmal Kinder,

 

die die eigenen Texte abschreiben wollen,

 

andere wollen sie schon – oder wenigstens

 

eine Zeile - in der Druckerei setzen oder sie

 

in den Computer eingeben und in ihrem

 

Ordner abspeichern. Einige schreiben

 

selbst ein paar Wörter aus ihrem Text, andere genügen sich damit, dass

 

Erwachsene oder Freunde sie vorlesen.

 

Einige führen Portfolio ähnliche Hefte oder

 

Bücher, in die sie ihre Texte einkleben,

 

oder sie werden in Büchern der Klasse

 

gesammelt, oder nur zuhause gezeigt oder

 

zur Seite gelegt.

 

Wieder andere Kinder suchen sich im

 

Computer Bilder, z. B. von Tieren, und

 

schreiben mit jeder für sie erreichbaren

 

Hilfe erste Wörter darunter. So wurden

 

schon Powerpoint-Präsentationen von

 

Erstklässlern vorgeführt, bevor sie Lesen

 

und Schreiben konnten. Sie benutzten

 

dieses Medium als ihr Lernmittel.

 

Andere lernen nie aufgeschriebene - nur in

 

ihrem Kopf gespeicherte - Geschichten und

 

Texte auswendig. An der wöchentlichen Dichterlesung aller 5 bis

 

11jährigen Kinder der Klasse nehmen sie so mit einem eigenen Text teil.

 

Andere suchen die Partnerschaft älterer oder gleichaltriger

 

Mitschülerinnen und Mitschüler, um einen Text mit ihnen zu produzieren.

 

Wieder andere bringen Zeichnungen oder Bilder mit, um zu ihnen etwas

 

im Kreis zu erzählen. Andere hören auf der

 

Dichterlesung wochenlang zu, um später

 

mit dem Schreiben und dem darauf

 

folgenden Vorlesen des eigenen Texts

 

einzusteigen. So wachsen unsere Kinder

 

durch das eigene mündliche und

 

schriftliche Verfassen und dem meist erst

 

später folgendem Verlesen der eigenen

 

Texte in eine Gemeinschaft von Schreibern

 

und vor allem Lesern hinein.

 

So werden unsere Schülerinnen und

 

Schüler zu Leserinnen und Lesern in einer

 

Gemeinschaft von Menschen, die ihr

 

Lernen und Schulleben selbst organisiert

 

und bestimmt. So wuchsen die

 

Bücherregale in die Gänge und

 

Klassenräume. Dort wurden sie für junge

 

Menschen, für die Lesen zum Alltag gehört

 

wie Essen und Trinken, erreichbar und

 

benutzbar. So wurde aus unserer Schule eine Bibliothek, in der

 

Schreiben und Lesen lebendige Gegenwart sind! In dieser Bibliothek ist

 

jedes Buch ist ein Schatz des Lernens. Bei uns erleben die jungen

 

Schatzsucherinnen und Schatzsucher unsere Schule als eine Insel, auf

 

der noch täglich Schätze gefunden werden können.

 

 

 

Walter Hövel, Januar 2010