Walter Hövel
Was nützen Songül und Leon eine Europaschule?

 

 Unsere Schule, die Grundschule Harmonie wird im Schuljahr 2013/14 zwanzig Jahre alt. Es ist die einzige Schule weit und breit, in der die Kinder lernen, die Strukturen ihrer eigenen Lernerpersönlichkeit eigen gesteuert und verantwortet selbst aufzubauen.

 

Sie sitzen jeden Tag im Kreis und tragen vor, was sie denn heute zu tun gedenken. Die einen lernen sehr schnell in eigener Verantwortung zu benennen und zu bestimmen, was sie mit wem in welcher Zeit arbeiten wollen. Die anderen nehmen sich viel Zeit, um zu lernen, wie Menschen sich lernend selbst bestimmen.

 

Sie bekommen keine Lehrer gemachten Wochenpläne vorgesetzt, keine mündlichen Aufträge der Lehrerinnen und Lehrer, keine Pensen- oder Logbücher oder digitalen Programme, durch die sie sich „selbstständig“ durcharbeiten müssen. Sie müssen jeden Tag selbst und mit den anderen formulieren, was sie interessiert, welche Fragen sie haben, was sie Sinnvolles erforschen wollen, welche Gegenstände, Probleme oder Aufgaben sie lösen wollen.

 

Das ist oft nicht leicht. Nicht leicht für die Eltern, die Schule nicht als eine erfolgreich zu absolvierende soziale Einrichtung verstehen dürfen, sondern ihren Kindern trauen müssen in der Chance der Weiterentwicklung ihres Kindes zu sich selbst. Eltern, die an ihre Kinder die Selbstverständlichkeit von gutem Verhalten und eigenem Lernen weitergeben konnten, haben es leichter als solche, die selbst benachteiligt wurden oder nicht wissen, wie sie in ihrem Alltags-, Berufs-, Beziehungs- und Zeitstress das verwirklichen sollen, was ihnen als Lebenswelt für ihre Kinder vorschwebt.

 

Viele können auch an einer Schule wie unserer oft nicht loslassen, nicht vertrauen, nicht selbstsicher und gelassen sein. Es geht nicht darum, alles der Schule und den Kindern zu überlassen oder immer wieder in das Lernen der Kinder einzugreifen. Es geht darum Kinder so zu begleiten, dass sie Freude am Miteinander und miteinander Lernen erfahren können. Wenn es schon Schule in der heutigen Form geben muss, sollte auch das „ganze Dorf“1 für das Kind das sich selbst entwickeln soll, sichtbar und erfahrbar sein.

 

Es ist nicht leicht für die Lehrerinnen und Lehrer und alle anderen in der Schule Arbeitenden Erwachsenen von den Schulbegleitern, den Praktikanten bis hin zu den Köchinnen der Schule. Sie sind die gleichen Erwachsenen wie die Eltern, mit den gleichen Unsicherheiten und gleichen Zielen. Auch ihnen wächst der Alltag mit tausenden von Problemen, der eigene Anspruch an Qualitäten und Erreichbarem, mit der eigenen Erschöpfung und Erholungsbedürfnis oft über den Kopf.

 

Falsche Sparpolitik, falsche Anforderungsprofile, falsche innere und äußere Schulstrukturen von Seiten der Bildungsverantwortlichen Politiker und Verwaltungsbeamten unterstützen die aufopfernde Arbeit der Lehrkräfte nicht nur an unserer Schul, nicht gerade!

 

Nicht leicht ist es für die Kinder, da sie in einer „Pflicht“veranstaltung Schule lernen sollen, ihre eigene Ziele und Inhalte zu finden, den eigenen Lernertypus zu erkennen und zu verwirklichen und Formen des demokratischen miteinander Lernens und Lebens zu finden. „Wir zwingen sie, frei zu sein“. 2

 

Das ist nicht leicht für Kinder, die in den Heiß-Kalt-Bedingungen der heutigen Erziehung aufwachsen, in denen einmal niemand da ist, dann wohl behütende Eltern jeden Schritt überwachen. Mal sind diese Kinder in der Begegnung mit einer digitalisierten Konsumwelt unterfordernd gelangweilt, mal sind sie überfordert durch die Ansprüche und Realitäten der Lebenswelt der Erwachsenen.

 

Und diese Kinder sollen sich selbst bestimmend, zusammenarbeiten, egal ob erzogen oder unerzogen, begabt oder einfach, mehr- oder beidseitig halb – oder voll sprachlich entwickelt , autistisch oder angepasst, unkonzentriert oder strukturiert, aggressiv oder zurückhaltend, hyperaktiv oder kontrolliert, altklug oder Alters gemäß entwickelt, hoch begabt oder geistig beeinträchtigt, intellektuell überfordert oder bildungshungrig, bindungsgestört oder eingebettet in eine immer noch funktionierende Familie, geschlagen oder respektiert, geächtet oder geachtet, einzelgängerisch oder sozial verankert, intrinsisch angetrieben, übermotiviert oder lernverweigernd, cool oder streberhaft, arm oder reich oder Therapie erfahren oder in sich selbst ruhend... Diese Liste könnte solange fortgeführt werden, bis jedes Kind seine eigene individuelle Beschreibung jenseits aller Kategorien und Schubladen bekäme.

 

Und jetzt stellen sie sich eine Schule vor, die nicht mehr jedes dieser einzelnen Menschen zwingen will, sich den Regeln und Wertungen der Schule anzupassen. Stellen Sie sich eine Schule vor, die nicht mehr zum Ziel hat diese Menschen (möglichst optimal) zu unter-richten, sondern die Menschen so akzeptiert wie sie sind.

 

Stellen sie sich vor, diese Schule unterrichtet nicht mehr, sondern organisiert mit den Kindern ihr eigenes Lernen und Leben. Stellen sie sich vor, dass die Schulzeit Raum und Zeit gibt, das eigene Lernen individuell und kooperativ so zu gestalten, dass eine Lernschule entsteht, in der die Kinder selbst die Regeln und Werte in einem demokratischen Lern- und Lebensraum bestimmen.

 

 Das ist für die Kinder nicht einfach! Jeden Tag musst du wissen, ob du arbeitest, spielst, redest oder pausierst! Du musst wissen, wann du dir das Dividieren mit Materialien und deine Lebensumgebung nahen Aufgaben verständlich machst, wann du die halbschriftlichen und schriftlichen Rechenverfahren dazu lernst. Du musst wissen, wann du Muster legst, wann du das Tauschen im Zehnersystem mit Perlen lernst, wann und wie du dich mit herausfordernden Aufgaben beschäftigst und wann du Umfragen in der Schulen machst, bei denen du dir die Prozentrechnung und die Darstellung in Diagrammen beibringst.

 

Du musst wissen wann und wo du deinen eigenen Freien Text schreibst, wie du ihn in der Dichterlesung präsentierst, wie du an eigenen Themen arbeitest, Versuche machst, eigene Fragen entwickelst, forschst und wieder in Vorträgen da so Gelernte den Anderen präsentierst.

 

Du musst wissen, ob du Schlagzeugspielen lernst, Theater spielst oder in den Kunstraum, die Druckerei oder ins Schattentheater gehst. Du musst wissen, wann du dich ins Schulgelände, in eine Ecke, ein Hochbett oder ein Zimmer zurückziehst, um in einem unserer über 5000 Bücher zu lesen. Du musst wissen, wann du Schach, Fußball, Hockey oder Mensch-Ärger-Dich-Nicht spielst.

 

Du musst wissen, wann du mit einer Freundin oder einem Erwachsenen redest. Du musst wissen, wann und wie du ins Internet gehst, recherchierst, forschst, kommunizierst oder gestaltest.

 

Du musst wissen, in welches Angebot der Kinderuni du gehst oder von welchem Erwachsenen du dir wobei helfen lässt. Du musst wissen, ob du zur Schulversammlung gehst, was du im Klassenrat sagst oder im Kinderparlament mitarbeitest. Du musst wissen, ob du dieses Jahr mitfährst zur englischen Partnerschule, ob du die Chorauftritte mitmachst oder dich der angebotenen Kinderwallfahrt anschließt.3

 

Um eine solche Schule machen zu können bedarf es zu aller erst einer veränderten Einstellung zu Schule, Menschen und Gesellschaft.

 

Schule darf nicht als der Ort gesehen werden, der wie ein Krankenhaus von Kranken, wie ein Rathaus für Antragsteller, wie ein Gericht für Rechtsbrecher, …. Schule kann zum Ort der Diagnostizierung von Defiziten und dem oft vergeblichen Versuch der Reparatur Schule, und auch schon Kindertagesstätten und später Hochschulen, dürfen nicht die Orte sein, in dem du zu irgendetwas „ausgebildet“ wirst.

 

Auch wenn das System so angelegt ist, dass du Kapitel für Kapitel, Einheit für Einheit, Lehrplan für Lehrplan, Schulwoche für Schulwoche, Lehrbuch für Lehrbuch, Schuljahr für Schuljahr, Test für Test, Klassenarbeit für Klassenarbeit, Prüfung für Prüfung etwas abzulernen hast, hast du als Lehrerin oder Lehrer die Wahl, welche Rolle du dabei einnimmst:

 

Du kannst zur Anpassung, zur Absolvierung der Ansprüche auffordern (also „Vollzugsbeamter“) und Wächter von oder als Begleiter durch Vorschriften sein und deine Klienten möglichst erfolgreich durch ein vorhandenes System führen. Die, die in einem solchen System hervorragend gelernt haben, sich auf den Umgang mit der Welt vorzubereiten, werden in der Zukunft vielleicht noch nicht einmal merken, dass diese Welt sich so verändert hat, dass sie nicht mehr existiert.

 

Oder du siehst Schule ist eine Chance für die, die lernen, die Welt zu verändern. Wenn du das Lernen und die Schule so sehen willst, brauchst du eine andere Haltung, die auch dich nicht zum Vollzugsbeamten einer zu funktionierenden Schule macht, sondern zum Kreateur von Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, also als aktiver Gestalter einer Normalität, die es leider noch nicht gibt.

 

Ein solches Modell von Schule als Ort der Demokratie, der Selbstbestimmung, der Rechte der Lernenden auf Achtung und das eigenen Lernen, bedarf einer Grundhaltung, die nicht neu erfunden, nur gestaltet werden muss.

 

1 - Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „It takes a village to raise a child“, „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“.

2 Zitat José Pacheco von der Escola da Ponte in Portugal, einer ähnlichen Schule, bei einer Tagung der Uni Siegen 2010

3 Literatur zur Grundschule Harmonie ist zu finden auf der Website der Grundschule Harmonie www.grundschule-harmonie.de