Eine „Schule für alle“ in Europa

Walter Hövel, Rektor der Gesamtgrundschule Harmonie, Eitorf

 

In unserer Gemeinde gibt es mehr und mehr Eltern, die ihre Kinder zur einer Gesamtschule schicken wollen. Die Begründungen sind sehr verschieden. Die einen wünschen sich mehr Förderarbeit, die anderen das Mehr an pädagogischem Engagement eines sehr sozial ausgerichteten Gesamtschulkonzepts, die nächsten einfach mehr Zeit für die Entwicklung ihrer Kinder. Da gibt es jene, die vom pädagogischen Konzept der Gesamtschule überzeugt sind, jene, die diese Form der Ganztagsschule favorisieren. Jene, die glauben, das Abitur sei in der Oberstufe der Gesamtschule „leichter zu machen“. Die einen wollen dem (zu Unrecht!) schlechten Ruf der Hauptschule ausweichen, die anderen der „Lernfleißmentalität“ der Realschule, oder dem „konsequenten Aussortieren des Gymnasiums als „Lernen für die Note oder geh’ zur Haupt- oder Realschule’“. Es gibt jene, die ihr Kind einfach mit Freunden, die sich für die Gesamtschule entschieden haben, gemeinsam zur weiter-führenden Schule schicken wollen.

 

Es mag noch viele weitere Gründe geben. Aber im Gesamten spiegelt das Schulauswahlverhalten vieler Eltern eine große Unsicherheit wieder. Die Bildungsverantwortlichen unserer Gesellschaft streiten und feilschen um PISA-Bundeslandgefälle und PISA-Interpretationen zur Verhinderung von Konsequenzen, „Einheitsschule“,

 

„Verbundschule“, Gesamtschule, Realschule, Gymnasium und Hauptschule, Waldorfschule oder Privat- oder Hochbegabtenschule anstatt den Eltern Orientierung und Sicherheit zu geben. Deutschland präsentiert sich in der Bildungzerstritten, ohne ein gemeinsames einheitliches Konzept oder gesellschaftlichen Konsens.

 

Außer Deutschland, Österreich und die Schweiz kennt kein anderes Land Europas, weder die USA, Kanada, Australien noch andere entwickelte Länder dieser Welt, diesen Streit. Was ist bei unseren Nachbarn und Freunden anders? Was ist bei uns geschehen?

 

1973 wurden in der Bundesrepublik gegen den entschiedenen Widerstand der CDU und CSU innerhalb eines Jahres die ersten 100 Gesamtschulen in Westberlin und in Hessen gegründet, bis heute gibt es gerade mal 800 in ganz Deutschland. Diese „Gesamt“schulen wurden und werden als Schulen der Klassen 5 bis 10 - mit oder

 ohne anschließende (eigenständige) Oberstufe - neben den bestehenden Schulen der Sekundarstufe I, den Real- und Hauptschulen und Gymnasien angeboten. 1

 

Dies ist einmalig in der Bildungspolitik der gesamten Welt. Nur Deutschland und einige Kantone der Schweiz glauben nach nur 4 Jahren Grundschule ein gegliedertes Schulsystem anbieten und dahinein und daneben unverbindlich eine integrierte Schulform wie die „Gesamt“schule setzen zu müssen.

 

Europa und die uns bedeutenden Ländern der Welt haben erstens eine möglichstm lange gemeinsame Bildung für alle. Zweitens haben sie klar, dass ihre Grundschule der wichtigste, weil grundlegende Teil ihres Schulwesen ist. Drittens dauert die Grundschule überall länger als 4 Jahre ist. Und viertens folgt, außer noch in Liechten-stein und Hongkong, immer eine einzige „Schule für alle“.

 

Niemand käme auf die Idee, dass eine „Gesamt“schule mit dem 5. Schuljahr beginnen könnte. Sie beginnt am Anfang, und das ist die erste Klasse der Grundschule. Die Aufteilung in verschiedene Bildungswege kennen die anderen Länder erst nach der gemeinsamen Grundbildung oder Grundschule ab Klasse 9 bis 12.

 

Die überwiegende Zahl der europäischen Länder lassen ihre Kinder 6 bis 9 Jahre in die Grundschule gehen1

 

. Erst dann trennen sich die Bildungswege der Kinder und Jugendlichen. In diesen Ländern denkt niemand, nicht die konservativste, sozialistischste, grünste oder liberalste aller Parteien -selbst bei Problemen in der Bildung-

 über die Einführung oder Wiedereinführung eines gegliederten Schulsystems nach.

 

Und dies ist so, weil die “Schule für alle“ eine Frage des historischen demokratischen Grundverständnisses in Europa und in der demokratischen Welt ist!

 

Diese Gedanke der „Schule für alle“ begann mit den ersten demokratischen bürgerlichen Forderungen nach Rechten und Gerechtigkeit für alle Menschen! 1632 fordert ein Comenius eine „Schule für alle“ mit den Klassen 1 bis 7 von 6 bis 12 Jahren.

 

Wilhelm von Humboldt schrieb 1819 für die preußische Regierung(!) einen Schulgesetzentwurf und forderte die „Verwirklichung der Menschenbildung“ durch eine einheitliche Schule mit 9 Klassen von 6 bis 14 Jahren.

 

In Deutschland ist die erste Demokratie erst nach dem ersten Weltkrieg entstanden. Und diese Demokratie war leider eine sehr schwache. So schaffte man es damals nicht, den deutschen Bildungs- und Demokratieidealen Goethes, Schillers oder der Gebrüder Humboldt zu folgen. 1919 wurde von den Demokraten dem preußischen

 Adel, dem Militär und stockkonservativem Bürgertum in der Verfassung der Weimarer Republik ein Kompromiss abgerungen: Die „Schule für alle“ wurde auf die ersten4 Jahre der Schulzeit beschränkt. Das ist das, was wir heute die 4jährige Grundschule nennen. Wir haben 4 Jahre „Schule für alle“ und dann „weiterführende“ geglie-derte Schulen seit 1919. In den USA wurde die einheitliche Erziehung aller Menschen bis Klasse 10 im Jahre 1900 eingeführt, die Grundschule dauert 6 Jahre, dann folgt eine einheitliche weiterführende Schule von heute weiteren 6 Jahren.

 

Dänemark beginnt in Europa im Jahre 1958 mit einer zunächst 7jährigen Grundschule, die anderen Länder folgen in den nächsten Jahren zu einem Standard von 6 bis 10 Jahren Grundschule. Bei „kürzerer“ Grundschule folgt immer eine „Schule für alle“ bis zum 10. oder 12. Schuljahr. Deutschland, Österreich, Liechtenstein und

Hongkong, verpassen die Mitfahrt, sie ließen ein gegliedertes Schulsystem bestehen.

 

1Frankreich hat eine sehr eigene Situation mit dem Schuleintrittsalter von 3 Jahren. Hier wird die Grundschule in 2 Teile geteilt mit einmal 3 und einmal 5 Jahren. Italien hat noch 5 Jahre Grundschule,

die englischsprachigen Länder alle 6 Jahre , die PISA-Spitzenreiter Finnland und Korea 9 Jahre. Selbst Liechtenstein und Hongkong haben 5 bzw. 6 Jahre. 2

 

In Deutschland blockieren die Einen, sie wollen am Hergebrachten festhalten. Die Anderen, nicht in der Lage einen Konsens herzustellen, begehen den Irrweg einer Bildungspolitik mit der aufgesetzten und daneben gesetzten „Gesamtschule“. Diese neue 4. Schulform wird in den Folgejahren einige bemerkenswerte päda-gogische Akzente setzen. Sie musste in ihrer Konkurrenzsituation und mit ihrem Demokratieanspruch als eine Alternative in der „Bildungslandschaft, oder besser im Bildungsdschungel der so genannten Sekundarstufe I (Klassen 5 bis 10) schaffen. Es gelang ihr ein eigenes von vielen Eltern gewünschtes pädagogisches Profil zu entwickeln.

 

Aber ihrem Anspruch eine „Schule für alle“ zu sein, konnte sie nicht gerecht werden, da bei weitem nicht alle in diese Schule gehen und, weil sie in ihren Klassen durch ein Kurs- und Leistungssystem weiterhin Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten unterscheidet, auch, wenn sie für einige Stunden und Fächer in einer Klasse

sitzen. Bei der Einschulung werden auch Gesamtschüler durch staatlich vorgegebene Quoten und durch staatlich vorgeschriebene Abschlüsse, die sich wiederum am gegliederten Schulwesen orientieren, unterschieden.

 

Es ist nicht einfach die Frage der formalen Einführung einer „Schule für alle“. Die Entscheidung der anderen Länder und ihrer Menschen für eine „Schule für alle“ als einer Entscheidung für eine demokratische Grundeinstellung, führt dann in vielen Ländern auch zu einer anderen Haltung der Regierungen, der Bildungspolitikerinnen und –politikern und der Menschen bei allen schulischen Entscheidungen. Hier wird mehr

Geld für Bildung ausgegeben, auch bei knappen Kassen Prioritäten für die Kinder und die Bildung gesetzt. Hier wird mehr investiert in eine bessere Ausbildung von mehr Erziehern und Lehrern. Hier ist Schule wichtiger und hier entsteht dann auch die Einstellung, dass jedes Kind wichtig ist, kein Kind aussortiert werden oder ins

schulische Abseits geraten darf. Hier wird jedes Kind gefördert, ob „ausländisch“, ob „arm“ oder „reich“, ob „minderbegabt“, „gehandikapt“ oder anders als die Anderen.

 

Demokratie ist und bleibt, wenn alle für alle etwas tun und die Kinder der Anderen genauso wichtig sind wie die Eigenen.

 

Wir sollten von unseren Nachbarn lernen, es gibt für uns immer noch keine andere Zukunft als die Zukunft unserer Kinder. Und eine solche Bildung muss heraus aus dem Parteiengezänk. Es geht um alle Kinder. Was andere Politiker anderer Länder können, sollten wir auch können, ob konservativ oder rot oder grün, hier ist der

 

Konsens von Demokraten verlangt, für die Kinder. Wenn nun in unserer Gemeinde überlegt wird, eine Realschule zu gründen, die mit der Hauptschule in ein Haus ziehen wird, kann dies möglicherweise den Ruf der Hauptschule verbessern. Wenn dies dann noch „Gesamtschule“ oder so ähnlich genannt würde, könnte dies zu

 einem weiteren bisher in der Gemeinde nicht vorhandenem pädagogischen Profil im Sinne eines weiteren Angebots führen. Wenn diese Haupt-Real-Verbundschule das Gymnasium als Eliteschule stärken und die bestehenden „Gesamtschulen“ in „HauptReal-Verbundschulen“verwandeln soll, wäre dies der Versuch zu einem zwei gegliederten Schulsystem zu kommen. In Hamburg zum Beispiel, wurde dies schon vor vielen Jahren erfolglos erprobt. Aber auch kosmetische Operationen können zu mehr Selbstbewusstsein oder mehr Attraktivität führen.

 

Die Frage wäre also, ob wir kleinste Brötchen backen und die Realschulen und Gesamtschulen loswerden wollen, um die dann umbenannte Haupt-Real-Verbundschule wieder in Richtung einer „Volksschule“ mit „volkstümlicher“ Bildung stärken wollen. Oder ob die Gemeinde den gesetzlich beschriebenen Weg der Befragung der Eltern zur Errichtung einer Gesamtschule geht. Die Befürchtungen sollten sich in Grenzen halten. Erfahrungsgemäß geht es Gymnasien bei benachbarten Gesamtschulen nicht schlechter!

 

Oder die Frage wäre, ob wir uns nach dem Vorbild unserer Nachbarn und Freunde auf einen Weg zu einer „europäischen Schule für alle“ machen und aus der bestehenden, ausgesprochen erfolgreichen eigenen Grundschule heraus eine europäische „Schule für alle“ entwickeln.

 

Eine europäische demokratische „Schule für alle“, beginnt mit der ersten Klasse. Es müsste die Grundschule verlängert werden. Vielleicht erst auf 6 Jahre 2, vielleicht eine Verlängerung auf 8 oder 9 oder gar 10 Jahre, wie alle anderen Europäer. Die Gebäude stehen in meiner Gemeinde schon alle ganz dicht bei einander, aber noch

nicht die Ansichten.

 

Aber daran sollten wir gemeinsam arbeiten, uns die Beispiele der anderen anschauen. Die Zeit, vor allem in Zeiten einer rasend schnellen Globalisierung, lässt manchen Streit überflüssig werden. Das gegliedert Schulwesen ist es in Europa schon lange überwunden und wir liegen bekanntlich mitten drin.