2017 fand ich einen Artikel wieder, den ich 1991 über meine Arbeit als Konrektor an einer Grundschule auf dem Land schrieb. Er blieb bis heute, 2017, unveröffentlicht.

Walter Hövel
… und Elternarbeit

„Gestatten“, sagte mein neuer Schulleiter, gleichzeitig Bürgermeister einer dörflichen Gemeinde im Bergischen Land zum Kollegium, „dass ich vorstelle, Herr Hövel, Freinetpädagoge, wird hier was in Richtung Grundschulrichtlinien verändern“.

Solche „Bekanntmachungen“ ließen es natürlich zu, dass ich meine Arbeit in aller Ruhe beginnen konnte, dass ich sehr schnell begann, über die 4-Dimensionalität meines neuen „Jobs“ zu sinnen: „Willst du hier Freinet machen, verändere dich selbst, den Unterricht, das Kollegium und die Eltern, und zwar alles gleichzeitig, aber ohne die verschiedenen Ebenen zu verwechseln, und doch als Ganzes“.
Und, wenn du hier überleben willst, darfst du dich auf nichts einlassen, was du nicht bist. Du darfst keine falschen Kompromisse schließen. Wenn du dir hier Rechthaberei, Konfrontationslust oder Besserwisserei erlaubst, wirst du wegisoliert, auch, wenn du, oder gerade weil du erfolgreich mit der Arbeit in der Klasse und in der Schule bist. Also, trau dir selbst, denn du bist nur du.


Dann lernte ich „meine Klasse“ kennen, 30 Kinder, schön zu zweit in Bänken hintereinander sortiert, zwei Tafeln anguckend, zwei leere Schränke, ein leeres Wandregal, … ein einziges Hauen und Stechen, laut und echt witzig.

Nichts von den lieben Grundschulkinderaugen, die gierig die Lern-situationen und das Zutrauen der Lehrperson suchten.

Nichts von dem. Eher erinnerte mich das Ganze an eine 10A einer großstädtischen Hauptschule mit sozialem Brennpunkt und hohem Ausländeranteil.

Mein Kollege Vorgänger hatte im Ersten Schuljahr, ich durfte das Zweite beginnen, volle Arbeit geleistet. Schreiben war verhasst, weil es zum Abschreiben degeneriert worden war. Lesen war Ab- und Vorlesen sinn-entleerter Zeichen. Mathe war abgehalftert zu Ab-Rechnungen. Geduckte Haltung, Magenschmerzen, Zusammenzucken, Aggression und lautes Grölen.

Ich hatte frontal anfangen wollen, also vorsichtig „zum anderen Lernen rüber kommen“, aber dies wäre mir nur mit der da üblichen Bestrafungen in Form von Hausaufgaben gelungen.

Viele Kinder kannten bereits Angst Schule, Schuld und Versagen.

Sie reagierten kaum auf normale Ansprache. Viele schrien. Über zwanzig von ihnen hatten offensichtliche Probleme: 4 waren Wiederholer, 8 kamen aus der UdSSR und Polen und hatten große Sprachprobleme, zumindest im Deutschen. 3 waren Kinder von Asylbewerbern aus Afghanistan, dem Iran und Jugoslawien. 3 von ihnen waren im ersten Schuljahr (nachweislich) nicht schul“reif“, weitere "fraglich". Ein Kind war in psychiatrischer Behandlung.

Ich trat die Flucht nach vorne an. Ich ließ die Kinder so arbeiten wie sie es konnten. Sie malten viel, rechneten gerne ihre Rechenpäckchen, sie schrieben kaum. Ich machte viel Kreisarbeit mit ihnen und ließ sie viel erzählen.

„Normale“ Frontalstunden waren unmöglich, Hausaufgaben musste ich abschaffen. Ich hatte weder die Zeit sie nachzugucken, noch war ich bereit, das Machtspiel meines Vorgängers fortzusetzen: „Da ihr so viele Fehler macht und so ungezogen seid, muss ich euch so viele Hausaufgaben aufgeben. Wenn ihr keine Hausaufgaben macht, muss ich euren Eltern mitteilen, dass ihr schlechte Schüler seid…“

Einige Eltern liefen Amok!

 


 

 


Böse Gespräche beim Frisör, beim Metzger und an der Werkbank, Anrufe bei der Schulleitung und dem Schulrat: „Mein Kind soll doch zum Gymnasium“.

Auch wenn Schulrat und Schulleiter mir den Rücken stärkten, erfuhr ich Eltern als bösen, bösen Druck. Väter, Mütter, Kolleginnen, sogar Kinder, sahen als Sinn von Grundschule nur das „Gymnasialbelmachen“.

Mir begegnete viel Hilflosigkeit und Dummheit. Die Argumentationen waren einfach: „Wer nicht die Kinder zum Arbeiten zwingt, der ist gegen Leistung. Das ist Laissez-faire. Das ist ein Experiment. Der ist schuld, wenn die Kinder nicht den geforderten Stoff des Schuljahres lernen. Der erkennt nicht, dass mein Kind Druck braucht, sonst lernt es doch nichts, … so nie zum Gymnasium“.

Wie oft ertappte ich mich in den Anfangswochen, auch jetzt noch, bei dem Gedanken, „Lernen die Kinder wirklich genug im Kreis, in den Ateliers und Arbeitsecken? Musst du nicht zumindest diesen oder jene nicht doch zum Rechnen oder Schreiben zwingen? … Ist das alles so richtig, was du hier machst?“

Oft war ich deprimiert, wenn die Kinder wieder einmal viel zu laut waren, wenn sie eine Fachlehrerin fertig gemacht hatten, wenn der Schulleiter im freundlichen Gespräch vorsichtig die Möglichkeit größerer Kompromiss-bereitschaft in der Unterrichtsgestaltung, zumindest in Fragen der Rechtschreibdiktate und Hausaufgaben erörterte. Wenn der Schülervater, der mich immer unterstützte, vorschlug, einen Test von den Kindern schreiben zu lassen, um den Eltern zu zeigen, was sie doch schon alles konnten, während die Kollegin der Klasse nebenan in der Gemeinde zünftig über das Chaos in der Freien Arbeit herzog. Wenn Marco mit dem Hammer auf die neuen Bleilettern schlug, und Markus in der Vertretungsstunde unsere Kaulquappen sezierte. Dann hatte ich jedes Mal das Gefühl, doch das Leben eines Buchunterrichters führen zu wollen.

In Augenblicken, in denen ich etwas gesonnener schien, kam mir zumindest der Wunsch, einmal etwas mit allen Kindern gemeinsam zur gleichen Zeit lernen zu können, so wie andere in ihre Klassen gehen und heute einfach die Dehnung oder die Groß-Kleinschreibung behandeln.

Aber diese Kinder gingen ihren Weg! Ich lernte immer mehr, diese Wege mit Ideen, Anregungen, Knowhow und freier Pädagogik im Sinne Freinets zu begleiten.

Und ich musste diesen Weg bei den Eltern vertreten, als Anwalt ihrer eigenen Kinder und als Lehrer, der seinen eigenen Weg weiter gehen wollte.

In den ersten beiden Monaten musste ich zu zwei Elternabenden einladen. Ich ließ die Eltern viel erzählen. Ich fand „Freunde“, „Gegner“ und „Zweifelnde“.

Ich erzählte nicht viel von Freinet oder offenem Lernen, sondern mehr von den Grundschulrichtlinien, von neuen Anforderungen der Gesellschaft, und sehr viel darüber, was ich bei den Kindern beobachtet hatte. Ich erzählte viel über das erste Lernen in Ateliers, in der Druckerei oder die beginnende Kooperation, und natürlich den eingeführten Klassenrat.

Ich hütete mich davor zu verteidigen, was ich tat. Ich habe ihnen klar gesagt, dass die Freinetpädagogik, aus der ich käme, eine erprobte und erfolgreiche Pädagogik ist, die nicht herumexperimentiert, sondern weiß, was sie will und tut. Immer wieder habe ich Text und Geist der Grundschulrichtlinien zitiert. Ich habe deutlich gesagt, dass ich selbst ein erfahrender Lehrer bin, der weiß, was er tut. Ich habe gesagt, dass ich keine Rezepte für die Klasse habe, sondern gemeinsam mit den Kindern ihren Weg des Lernens und Lebens suche, und dass ich dabei eine Unmenge von Fragen (noch) nicht beantworten könne und selber viele Fragen hätte.

Ich bin nicht auf Diffamierungen und falsche Interpretationen oder Unter-stellungen eingegangen. Ich stellte nicht „richtig“ oder erklärte „ideolo-gische Hintergründe“ von Gesagtem. Ich habe nur sehr offen und klar gesagt, was ich tue und warum ich es tue.

Ich habe den Eltern gesagt, dass es in meine Entscheidungskompetenz fällt, ob ich Hausaufgaben aufgebe, in Ateliers und im Klassenrat arbeite, oder ob ich einmal in der Woche in den Wald lernen gehe. Und wieder habe ich alles wieder und wieder erklärt.

Auch habe ich den Eltern angeboten, jederzeit, ohne Anmeldung, in meinen „Unterricht“ kommen zu können. Das taten übrigens viele – sie wurden meine ehrlichsten und besten Multiplikatoren in der Elternschaft.

Nach fast vier Monaten gab es immer noch elterliche Propheten im Dorf, die mich der Verderbung und Verdummung ihrer Kinder beschuldigten.

Diese Menschen, waren sie auch als noch so „dumm“ oder „gehässig“ bekannt, waren dennoch aus mindestens zwei Gründen gefährlich: Zum einen unterrichteten im Umkreis von vielen, vielen Kilometern noch immer fast alle Kolleginnen und Kollegen nach „Richtlinien“, die nicht das Ministerium, sondern die Realität unseres gesellschaftlichen Alltags geschrieben hatte: „Grundschule bereitet zu allererst auf Höheres vor, was wir für unsere Kinder als ‚Höhere Schule‘ kennen. Das oberste Ziel unserer Arbeit heißt: ‚Wir müssen den Stoff durchbekommen‘. Das ist ‚normal‘ und nicht das, was ‚Grundschulrichtlinien‘ sagen oder der Lehrer Hövel, mag er auch noch so sympathisch oder klug sein.“

Daher reichten keine Alleingänge. Ich musste mit (!) meinem Kollegium arbeiten, wie mit einer eigenen Klasse. Ich musste Mehrheiten bei Eltern und Lehrerinnen haben. Bei den Kindern hast du sie eh, wenn du ohne trostlose Langeweile oder deren eigene Interessen agierst.

Andererseits verstärkst du die Gegner deiner Arbeit mit jedem überzeugen-den Argument oder jedem noch so kleinen Erfolg deiner Arbeit. Sie müssen immer wieder zweifeln, weil sie nicht (wiederer)kennen, was sie hören oder sehen. Nur was Menschen selber erlebt haben, verinnerlichen sie zu einer eigenen Anschauung. Vorher lernen sie nur entlang deiner Argumente das „Aber“ zu finden. Überzeugend ist nur das eigene Handeln, Erleben und eigene Begreifen.

 

Hier endet der ursprüngliche Text. Folgende Worte fügte ich 2017 hinzu:

Ein Jahr später machten wir, die Kinder, Eltern und Lehrer, einen großen Gedichteabend, in der die Kinder mit ihren Darstellungstechniken von ihnen ausgesuchte Gedichte präsentierten[1]. Spätestens jetzt wurde überdeutlich wie viel mehr Menschen lernen, wenn sie ihr eigenes Lernen in die Hand nehmen.

Kurze Zeit darauf arbeitete die ganze Schule in einem riesengroßen Projekt mit anschließendem Schulfest an der „Wahrnehmung mit allen Sinnen“.

Ende des vierten Schuljahres verließ ich die Schule, um wieder ein Jahr später Leiter der Grundschule Harmonie zu werden.

In den folgenden zwanzig Jahren entwickelte sich die Grundschule Harmonie zu einer weit über die Grenzen anerkannten Lern- und Lebensschule für Kinder.

Die vorherige Schule, an der ich fast drei Jahre war, entwickelte sich wieder zu einer „normalen Schule“.

 

Leider verstehen

·         die kommunalen Schulämter

·         die Schulleitungen,

·         die unteren und mittleren Dienstaufsichtsbehörden

·         als Vollzugsorgane der obersten Schulträger, also der Länder,

·         im Auftrag des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland als allein Verantwortliche für die schulische Bildung der Menschen,

·         in Kooperation mit den für Lehrerinnenbildung zuständigen Hochschulen und Universitäten,

·         die Lehrerausbildungsseminare

·         die Lehrer*innen Weiter- und Fortbildung

·         die Kooperationsprojekte von Industrie, Kommunen und Schulämter

·         die unterstützende Presse,

·         die Arbeit der Stiftungen der Banken und Unternehmen,

·         die Bezuschussung und Förderung durch die Europäische Union und

·         die heftige Kritik von Seiten der UNO und UNESCO

es nicht,
an Schulen Erreichtes ausreichend zu halten und fortzusetzen.


 

 

 



 

 

 



[1] Walter Hövel, Otto Vierkötter, Ute Geuß, Warum nicht, Literatur handlungsorientiert, Mülheim/Ruhr 1987