Walter Hövel

 

„Mein Kind braucht mehr Futter“

 

 

 

Ich hörte ähnliche Geschichten wie die, die mir ein guter Bekannter erzählte, nicht zum ersten Mal: „Die Affen solle man nicht füttern, hatten die afrikanischen Führer gesagt. Und man merkte einen Unterschied sofort. Die Affen mieden die Einheimischen. Die weißen Touristen bettelten sie um Nahrung an, belästigten sie, ‚bestahlen’ sie. Die Affen hatten jede Distanz verloren.“ Die Affen lebten davon, dass die ahnungslosen Gäste, die sich in ihren Ländern Tiere in Zoos halten, auch hier glaubten, Füttern wäre angesagt. Sie glauben, es wäre amüsant oder niedlich, die „süßen“, „armen“ oder “wilden“ Affen“ zu füttern. Mein Bekannter erzählte weiter, wie ein Mandrill in sein Zelt eindrang, sich seiner Frau näherte und ihr etwas Essbares stahl. Der Affe flüchtete nicht, sondern drohte meinem Bekannten, als er im Weg stand. Dieser, ein durchtrainierter Securitymann, schlug kurzerhand zu und traf den Affen zu seiner eigenen Überraschung ausgesprochen wirksam. In den nächsten Tagen glaubte er beobachten zu können, dass nun alle Mandrille respektvoll Abstand zu ihm hielten.

 

 

 

Ich wiederhole die Geschichte nicht, weil ich glaube, dass Menschen wie Affen reagieren, behandelt werden sollten, ihre Verhaltensweisen gleich wären oder die Geschichte sich genau so abgespielt hätte. Es mag Parallelen und Ähnlichkeiten, genauso wie kleine oder erhebliche Unterschiede geben. Entscheidend für mich ist, dass Menschen so denken, wie sie ihre Geschichten erzählen oder hören und wir, –ich tat es schließlich auch –, solche Gedankengänge für glaubhaft halten.

 

 

 

Mir fiel die Geschichte wieder ein, als ich zum xten Male ein überfordertes menschliches Kind-Vater-Mutter-Trio erlebte. Ich sah, was oft zu sehen ist, Eltern, die nicht wissen, was sie tun sollen, wenn ihre Kinder sich anders verhalten, als sie es erwarten. Kinder können scheinbar absichtlich immer wieder ein Verhalten wiederholen, wie etwa beim Einkaufen: „Kann ich ein Eis, kann ich das, kann ich jenes“, obwohl sie wissen sollten, dass etwas anders von ihnen erwartet wird.

 

 

 

Das gleiche Mutter-Vater-Kind-Verhalten kenne ich aus dem Alltag der Schule. Da saßen mir Eltern gegenüber, deren Kind trotz Ermahnungen, Beschwörungen , zigfacher Gespräche  und diverser anderer „erzieherischer“ Maßnahmen, einfach nicht den „Leistungs-“ oder Verhaltenserwartungen der Eltern „nachkam“.

 

Zugegeben, diese Eltern werden bei uns immer weniger. Das Landesschulgesetz in NRW lässt die freie Wahl der Schulen zu. In der Regel entscheiden sich nun Eltern für unsere Schule, die unsere Art des Lernens suchen und finden[1].

 

Einige andere Eltern entscheiden sich auch gegen unsere Schule. Sie entschieden sich für andere Erziehungs- und Lernstile. In der Vergangenheit waren wir immer wieder mit dem Versuch solcher Eltern konfrontiert, die uns „von bewährten“ schulischen Lern- und Erziehungsmethoden überzeugen wollten.

 

Oft saßen uns weinende, wütende, verzweifelte Mütter gegenüber. Oft waren sie von „mehr Autorität, Strenge und Grenzenzeigen gegen die tägliche Laschheit der Mutter“ fordernden, getrennt oder nicht getrennt lebenden, Vätern begleitet.

 

„Dabei lerne ich doch mit meinem Kind!“ „Wir machen doch Hausaufgaben“ (,die wir als Schule gar nicht aufgeben). “Mein Kind bekommt schon Ergo“, „Die Logopädin sagt, er wäre schon besser geworden“, „Die Kinderpsychologin hat Schwächen in der Rechtschreibung entdeckt, sein IQ ist aber überdurchschnittlich“.

 

Die „Enttäuschungen“ der Eltern richteten sich oft gegen die Schule und das Lehrpersonal: „Sie müssen mein Kind mehr fördern“, „Mein Kind braucht mehr Futter“, „Mein Kind braucht mehr Struktur“, „mehr Betreuung“, „mehr Anleitung“, „mehr Führung“, bis hin zur Forderung nach „mehr Druck“.

 

Solche Eltern haben oft das Gefühl ihre Kinder nicht mehr zu verstehen. Hier greift dass, was Johannes Beck einmal die „überorganisierten Lernprozesse“ als „staatliche und wissen-schaftlich verklärte Misstrauenserklärung gegenüber der nachfolgenden Generation“[2] nannte. Diese Erwachsenen verstehen nicht, warum ihre Nachfahren nicht wie sie lernen.

 

 

 

Lernen ist nicht Füttern,

 

Erziehung keine Pflicht zur Aufzucht von Kindern

 

 

 

Hier benutze ich das Bild der Mandrillgeschichte. Sie haben nicht zu Zeiten mit dem Füttern aufgehört und ihren Kindern beigebracht, wie sie sich ihr Essen besorgen, wie sie sich selbst ernähren, wie sie an gemeinsamen Essen teilnehmen, also wie sie selbst lernen können, sondern sie haben sie füttern wollen. Sie haben sie zur Fütterung erzogen. Und jedes zur Fütterung erzogene Lebewesen lässt sich füttern!

 

Auch wenn sie gar nicht wollten, - wenn sie satt waren, - sie fütterten sie zu allem Überdruss mit Zuckerzeugs, Geschmacksverstärkern, Fastfood, bunten Verpackungen, Süßem zur Belohnung oder aus Gewohnheit, um dem Forderungsdruck des Kindes zu entgehen. Sie ließen sie nicht los, packten sie in Watte, bevormundeten sie, anstatt sie krabbeln, erproben, versuchen, forschen, erobern, fragen und wahrnehmen, die eigene Verantwortung lernen zu lassen.

 

Sie lehrten ihren Kindern und sich selbst nicht, wie Kinder und Erwachsene lernen mit einander zu kommunizieren, zu kooperieren und zu lernen. Sie fütterten stattdessen, weil es einfacher, weniger zeitaufwendig und hergebrachter erscheint. Sie taten dies nicht aus schlechter Absicht, sondern weil sie bereits von ihren Eltern und Großeltern nicht gelernt hatten und oft nicht lernen konnten, wie demokratisch, selbst bestimmt und frei gelernt und gelebt werden kann.

 

So meldete eine Mutter ihr Kind von unserer Schule ab, mit Zorn und Trauer in den Augen und Worten: „Wissen Sie, wir haben versucht unser Kind anders zu erziehen, als unsere Eltern uns erzogen haben. Aber wir können es nicht.“ Also wechselten sie zu einer Schule, an der mit allen Konsequenzen gefüttert wird.

 

 

 

Medien wie der Bild-Zeitung empfehlen den Überforderten und Geduldverlorenen mit der Hilfe selbst ernannter Kinderpsychologen wie Michael Winterhoff[3] mit populistischen Mitteln und Anknüpfen an vordemokratisches Gedankengut ein Zurück zur autoritären Erziehung: „Da oben steht der Erwachsene, da unten das Kind“, sagt Winterhoff, während er den Abstand mit den Händen zeigt.[4]

 

Wenn er das sagt, erlebt man applaudierende ErzieherInnen, LehrerInnen, Therapeuten, Ärzte und Mitarbeiter von Jugendämtern. Und sie geben es an Eltern weiter: „Erziehen Sie mit Druck!“, „Beherrschen Sie ihr Kind wieder“, „Bestimmen sie wieder, was und wie ihr Kind lernt, sie sind oben das Kind ist unten.“ Ein Aufruf zur kollektiven Fütterung.

 

 

 

Wir setzen an unserer Schule, der Grundschule Harmonie, seit 1995 die Selbstständigkeit der Lerner, die Autonomie des Lernens, die Entwicklung der eigenen Lernverantwortung, eine demokratische und freie Lernumgebung dagegen. Und wir sind damit erfolgreicher als die Versuche der Brechung und Unterdrückung von Kinderwillen zur Erzwingung von Lernerfolg[5].

 

 

 

Lernen ist die Kunst der eigenen Beschaffung von Lebens-Mitteln,

 

Erziehung kooperierendes, wechselseitiges Vertrauen lernen

 

 

 

Wenn die Kinder unserer Schule jeden Tag aufs Neue entscheiden, was und wie sie lernen, so müssen wir Erwachsene, Lehrerinnen und Eltern, jeden Tag lernen wie das geht!

 

Wir haben gelernt, dass es keine fertigen Konzepte des offenen, demokratischen oder autonomen Lernens gibt oder irgendwann geben wird.

 

Vielmehr ist die im Augenblick des Handelns existierende konzeptionelle Wirklichkeit begründet in einem Vor-Konzept der Einstellung von Autonomie und Freiheit des lernenden Menschen. Schulen sind weder Erziehungs-Zoos noch Lern–Reservate. Auch wir könnten und dürften keine Selbstständigkeit, Verantwortungsübernahme oder Demokratie füttern.

 

Wir haben dafür zu sorgen, dass unsere Zugänge zu den Lebens-Mitteln aller Art erhalten und offen bleiben und von jedem auf seine Art alleine und gemeinsam gefunden werden kann.

 

Konzeptionell mitnehmbar und vermittelbar ist die Erfahrung der Mittel und Wege der Selbstversorgung. Die Freinetpädagogik spricht hier von „demokratischen Arbeitstechniken und –werkzeugen“. Heute versucht man mit Begriffen der Qualifikation oder Kompetenzen[6] der Sache näher zu kommen.

 

 

 

Unsere Schule vermittelt den Kindern, was alles essbar ist, wie man Futter findet, wie es wirkt, wie es angepflanzt, geerntet, wo es wie wächst, wie es verarbeitet, zubereitet und ästhetisch serviert und konsumiert wird… Das ist für uns das Offene Lernen, nicht Eintrichtern, Häppchen schmackhaft machendes Motivieren, nicht Füttern. Nicht Hilflosigkeit, Unselbstständigkeit, Funktionieren, nicht Obrigkeitshörigkeit, noch Ellenbogendenken, Stehlen, Schlagen, Armut oder Verhungern heißen die Alternativen, sondern eine Kultur der eigenständigen und kooperativen Versorgung.

 

 

 

Wir geben Raum und Zeit Erfahrungen zu sammeln, zu klären, zu extrahieren, zu verallgemeinern, sie sich anzueignen, - das Lernenlernen zu lernen. Wir Erwachsene bereichern durch das Anbieten von Wissen, Wissenszugängen, Methoden und Werkzeugen.

 

Erwachsene und Kinder lernen in einem solchen Kontext eigene Fehler im Sinne das Lob des kleinen Fehlers und des eigenen Erfolgs zu erkennen. Es folgt der Dialog von Lernenden, mit Kindern, und als Erwachsene untereinander, um den eigenen Lern-Alltag zu erhalten und weiter zu entwickeln. Wer sich der Entwicklung des Lernens und der eigenen Schule verschrieben hat, muss jeden Tag sein „Paradies“ des heutigen Tages „verlassen“, um in der Welt der Menschen leben zu können. Sonst verschulen wir uns selbst, müssen irgendwann wieder füttern und den Baum der Erkenntnis meiden.

 

 

 

Also helfen wir beim Finden der eigenen Lern- und Lebenswege durch eigenes Handeln, Tasten, Versuchen, Forschen, eigenem freien Ausdruck, Fragen an sich und zur Welt, eigenen Erkenntnissen und Zugängen zu bereicherndem Wissen, Selbstbewusstheit und demokratischer kooperativer Haltung.

 

Hören wir auf zu füttern und zu unterrichten. Lassen wir die alte Schule weg, wo immer es geht, damit Platz für das Lernen entsteht!

 

Dann klappen auch Manfred Spitzers Erkenntnisse über das Gehirn: "Die Frage danach, wie man Menschen zum Lernen motiviert, ist etwa so sinnvoll wie die Frage, wie man Hunger erzeugt…Hunger produziert sich jeder selbst, und Lernen produziert sich auch jeder selbst.“

 

 

 



[1] Unsere Homepage bietet viele Artikel, um sich in das Konzept unserer Schule hinein zu lesen: www.grundschule-harmonie.de

[2] Johannes Beck zitiert nach J.Hering/W.Hövel, Immer noch der Zeit voraus, Bremen 1999

[3] M. Winterhoff, Warum unsere Kinder Tyrannen werden, Gütersloher Verlagshaus 2009

[4] zitiert nach Winterhoff, Vortrag am 9.9.2009 in Siegburg, Veranstaltung des Gesundheitsamts des Rhein-Siegkreises mit dem Titel „Seelisch krank“

[5] Falko Peschel, Dem Lernen Raum geben, ILS Mail, Insbruck 2009

[6] Was aber scheitert, wenn man den neuen Wein des Eigenlernes in die alten schuldidaktischen und unterrichtstechnischen Schläuche füllen will.