Walter Hövel
Probleme mit Eltern

 

 

 

Freinet-Pädagogik gibt es seit 76 Jahren. Sie ist seit 76 Jahren erfolgreich, seit 76 Jahren wird sie angegriffen.

 

 

 

Warum geschieht dies? Es sind in der Regel politische Gründe, denn die Freinet-Pädagogik ist durch und durch de-hierarchisch, also ein Dorn im Auge aller autoritär denkender Menschen. Die Freinet-Pädagogik gibt den lernenden Menschen ihre Macht über sich selbst zurück. Sie gibt den Menschen ihre eigene Verantwortung zurück. Sie organisiert die Selbstorganisation der lernenden Menschen. Sie ist immer als eine linke Pädagogik anerkannt worden. Diffamierungen kamen oder kommen aus dem Lager des Extremismus, von Faschisten, aus klerikal fundamentalistischen Kreisen, von Funktionären kommunistischer Parteien, oder sie kommen von "Wissenschaftlern", die in Descartes´schen Denkgebäuden gefangen sind.

 

 

 

Warum ist Freinet-Pädagogik so erfolgreich?

 

 

 

Ein entscheidender Grund ist der, das sie zwei Dinge gleichzeitig tut, die sonst als Gegensätze angesehen werden: Sie organisiert für jeden einzelnen Lernenden seinen eigenen Lernweg, der einerseits uneinge-schränkt die individuellen Interessen und Kompetenzen als Ausgangspunkt und Ziel hat. Andererseits bettet sie jedes Lernen in die Kooperation der eigenen Lerngruppe, als auch in die Kooperation mit der realen Umwelt ein. Demokratische Lern- und Arbeitstechniken ermöglichen die gegenseitige Befruchtung von individuellem und gemeinsamen Lernen.

 

 

 

Sie ist so erfolgreich, weil sie dem Lernenden nicht defizitäre Bedürfnisse unterstellt, sondern alle seine Kompetenzen als Mittel des eigenen Lernens und Erkennens in verschiedenen, oft kreativen Formen freisetzt und ihm seine Fähigkeiten als Arbeitsmittel bewusstmacht. Mittel dieser Lernstrategien sind u.a.; der freie Ausdruck, handlungsorientiertes ganzheitliches Lernen mit allen Sinnen, tastende Versuche, experimentelles Lernen, die Methode Naturelle, Techniken der verbalen und nonverbalen Kommunikation, selbstorganisiertes, geplantes, verbindliches Lernen in freier Kooperation. Sie ist so erfolgreich, weil ihr Lernen ein systemischer Vorgang ist. Sie folgt nie einem starren System eigener Methodik und Didaktik.

 

 

 

Jede Lerngruppe baut ihr eigenes, typisches Lernsystem auf. Dieses wird ständig durch die eigene Arbeit und die eigene systeminterne Evaluation korrigiert, sie wächst ständig durch die Übernahme neuer Lern- und Arbeitstechniken, die Freinet-Lehrerinnen und Freinet-Lehrer durch ihre professionelle, selbstorganisierte Weiterbildung einbringen. Das System "Freinet" korrigiert sich ständig selbst, im Klassenrat, als Gespräch, im Kreis, in der Arbeitsplanung, der Präsentation, in der Freinet-Gruppe, auf Treffen, in Ateliers, durch die Kooperation mit Eltern. Die Korrektur, die selbstkritische Veränderung der Lernprozesse ist für Freinet-Pädagogen nicht die Ausnahme, sondern Prinzip der Arbeit.

 

 

 

Wie können nun Probleme auftauchen?

 

Das häufigste Problem fur Freinet-Pädagogen ist seit Anbeginn dieser Pädagogik die Diffamierung durch politisch kommunale Kreise oder schulische Behörden (Vorgesetzte wie Schulleiter oder Inspektoren) die dann meist politisch motiviert ist oder die der Unkenntnis dieser Menschen bezüglich der Funktionsweise dieser Pädagogik entspringen. Diese Ursache verschwindet in den letzten Jahren mit zunehmender Reform des Schulwesens mehr und mehr.

 

 

 

Ein zweiter Grund kann in Ängsten und Ressentiments von Eltern begründet sein. Der vorhandene gesellschaftliche Druck, den die Eltern bezüglich der Schulkarriere ihrer Kinder unter dem Aspekt schlechter Zukunftsperspektiven spüren, die eigene negative Schulerfahrung, die nicht verarbeitet wurde, können das Vertrauen in die Lernfähigkeit der eigenen Kinder beeinträchtigen und dies kann auf die Schule übertragen werden.

 

 

 

Häufig wird das Kind gezwungen, zu Hause nach anderen Methoden als in der Freinet-Klasse zu lernen, zu pauken. Das Kind erfahrt genau den Druck, den die Freinet-Pädagogik ablehnt. Das Kind verliert die Freude am Lernen, seine Leistungsbereitschaft – es beginnt schlechter zu lernen.

 

 

 

Der Kreislauf einer "self-fulfilling prophecy" beginnt zu wirken. Trotz Freinet in der Schule beginnt das Kind "schlechter" zu werden. Zuhause hört das Kind das Schimpfen über die Schule, Beschwerden und Unterstellungen.

 

 

 

Meist reagieren die Kinder so, dass sie zunächst spürbar traurig werden. Sie ziehen sich zurück, distanzieren sich vom selbständigen Lernen und beginnen, vorgegebene Aufgabenstellungen einzufordern. Sie beginnen, "sich vor der Arbeit zu drücken". Da sie am Nachmittag oder am Abend zu Hause unter Druck lernen müssen, beginnen sie am Vormittag in der Schule zu "faulenzen", zu "spielen", "Unfug zu machen". Sie versuchen einen Freiraum fernab vom Lernen zu erobern. Dies kann bis zur totalen Arbeitsverweigerung und zu aggressiven Handlungen führen.

 

 

 

Ihre Eltern sagen dann: "Mein Kind lernt nichts in der Schule!" - eine nachweisbare Behauptung. Sie wollen oder können nicht sehen, das sie selbst die Initiatoren dieses Prozesses sind. Freinet-Lehrer reagieren darauf nicht "mit dem Anziehen der Zügel" oder der Devise "Daumen drauf. Vielmehr suchen sie einerseits das offene, klärende Gespräch mit den Eltern, andererseits mit dem Kind, einzeln oder in der Klassengemeinschaft. Sie versuchen, ihm Angebote zu machen, ihre traumatische Situation zu verarbeiten.

 

 

 

Sie empfehlen das freie Malen und Zeichnen, das freie Schreiben, kinderinterne "Sorgengesprächskreise", das Führen geheimer "Sorgenbücher", freien Ausdruck in Tanz, Musik- und Theaterspiel. Behutsam wird das

 

Kind immer wieder zur systematischen, selbstverantwortlichen Arbeit aufgefordert, immer wieder wird es an kooperierende Arbeitsgruppen herangeführt. Es wird aber weder gezwungen, noch überredet, noch übertölpelt, obwohl die allgemeinen Regeln der Klasse auch von diesen Kindern eingehalten werden müssen.

 

Das Kind und sein Problem werden ernst genommen, die Bewältigung des Problems ist nun seine wichtigste

 

Lernaufgabe.

 

 

 

Fatal sind hier Schulleitungen oder auch Kollegen, die die (hilflose, nicht professionelle) Forderung von Eltern nach mehr Druck auf die Kinder unterstützen. ln solchen Situationen müssen Freinet-Lehrer oft die Unterstützung anderer schulischer oder außerschulischer Beratungspersonen suchen.

 

 

 

Zuerst muss immer dem Kind geholfen werden, nicht dem Wunsch der Eltern nach Druck nachgegeben werden. Sollten die Eltern auch nach Gesprächen kein Vertrauen in die Lernweise der Freinet-Klasse gewinnen, können sie z.B. noch in den Unterricht der Klasse eingeladen werden, um ihnen zu zeigen, wie wir (und die anderen Kinder) arbeiten, um sie selbst in ein Lernen einzubinden, wo sie durch eigene Erfahrung lernen können. Sollten Eltern dies ablehnen oder bei ihrer Haltung bleiben, empfehlen Freinet-Pädagogen den Eltern nicht, die Kinder in eine andere Lerngruppe zu geben.

 

 

 

Ihre Aufgabe, wie bei vielen anderen, sehr verschiedenen Problemen - etwa Hyperaktivität, Trennungs-problematiken, Missbrauch, Lern- und Wahrnehmungsproblemen – kann es nur sein, das Kind zu begleiten, ihm alle Chancen zu geben, am eigenen Problem in einer demokratischen Lernumgebung zu arbeiten.

 

 

 

Eine Lösung kann es nicht sein, auf die Forderung der Eltern nach mehr Druck in irgendeiner Form einzugehen. Die Aufgabe der Lehrer kann es nur sein, bei nachlassender Arbeitseinstellung das Kind dahingehend zu beraten, dass es seine neue Form der Selbstdisziplin findet, sich selbst neu als Person und in der Arbeit organisiert.

 

 

 

Sollten die Eltern das Kind aus der Freinet-Klasse nehmen, so muss dies in ihrer eigenen Verantwortung bleiben. Die Freinet-Lehrer können nur weiterhin anbieten, innerhalb der Klasse auf die Probleme des Kindes einzugehen.

 

 

 

Warum brav sein

 

 

 

Wenn man schlimm ist, kriegt man im

 

Benehmen eine schlechte Note.

 

Wenn man brav ist, dann kriegt man gute Noten.

 

Wer raufen tut, der kann sich verletzen

 

und wer nicht rauft, der bleibt gesund.

 

Wenn man laut ist, kann man nicht lernen und

 

versteht die Lehrer nicht.

 

Wer die Lehrer segiert1, der kriegt Strafhausaufgaben.

 

Man kann sich so verletzen,

 

das man ins Spital muss.

 

Auch beim Turnen kann man sich verletzen.

 

Wenn man dann nicht in der Schule aufpasst

 

kann man sich schwer verletzen.

 

Auch zuhause kann man sich schwer verletzen.

 

 

 

von Irene, Kind aus Wien

 

 

 

 

 

1„sekieren“ oder „sekkieren“ ist wienerisch und heißt „plagen“ als Lehnwort (von ital. seccare, eigentlich: trocknen, dann auch belästigen, langweilen, beschwerlich fallen).

In Wien heißt „segir'n“ „jemand durch ungerechte Vorwürfe oder durch bloße Laune Verdruss bereiten“