Ein Brief an eine Schulleiterin zum Umgang mit einer Freinetklasse

„Mein Kind lernt nichts“

 

 

Freinet-Pädagogik gibt es seit 76 Jahren.

Sie ist seit 76 Jahren erfolgreich, seit 76 Jahren wird sie angegriffen.

Warum geschieht dies?

Es sind in der Regel politische Gründe, denn die Freinet-Pädagogik ist durch und durch  dehierarchisch, also ein Dorn im Auge aller autoritär   -und auch anti-autoritär -  denkender Menschen.

Die Freinet-Pädagogik gibt den lernenden Menschen ihre Macht über sich selbst zurück. Sie gibt den Menschen ihre eigene  Verantwortung zurück.  Sie organisiert die Selbstorganisation  der lernenden Menschen .

Sie ist immer als eine linke Pädagogik anerkennt worden. Die Diffamierungen kamen oder kommen aus dem Lager des Extremismus, von Faschisten, aus klerikal-

fundamentalistischen Kreisen,von Funktionären kommunistischer Parteien, oder von „Wissenschaftlern“, die in descart ‘schen Denkgebäuden gefangen sind.                                                                       

 

Warum ist Freinet-Pädagogik so erfolgreich?  Ein entscheidender Grund ist der, dass sie zwei Dinge gleichzeitig tut, die sonst als Gegensätze angesehen werden: Sie organisiert für jeden einzelnen Lerner einen eigenen Lernweg, der einerseits  uneingeschränkt die individuellen Interessen und Kompetenzen als  Ausgangspunkt und Ziel hat,  andererseits  jedes Lernen  in die Kooperation der eigenen Lerngruppe, als auch in die Kooperation mit  der realen Umwelt  einbettet.  Demokratische Lern- und Arbeitstechniken ermöglichen die  gegenseitige Befruchtung von individuellem und gemeinsamen  Lernen.

Sie ist so erfolgreich, weil  sie dem Lerner nicht defizitäre Bedürfnisse unterstellt, sondern alle seine  Kompetenzen  als Mittel des eigenen Lernens und Erkennens  in  verschiedenen Formen freisetzt und  ihm seine  Fähigkeiten  als Arbeitsmittel  bewußtmacht.  Mittel dieser Lernstrategien sind u.a.: der freie Ausdruck, handlungsorientiertes ganzheitliches Lernen mit allen Sinnen, tastende Versuche, experimentelles Lernen, die Methode Naturelle, Techniken der verbalen und nonverbalen Kommunikation, selbstorganisiertes, geplantes, verbindliches Lernen in freier Kooperation.

Sie ist so erfolgreich, weil ihr Lernen ein systemischer Vorgang ist.  Sie folgt nie einem starren System eigener Methodik und Didaktik. Jede Lerngruppe  baut ihr eigenes, typisches Lernsystem auf.  Dieses wird ständig durch die eigene Arbeit und die eigene  systeminterne Evaluation  korrigiert, sie wächst ständig durch die Übernahme  neuer Lern- und Arbeitstechniken, die Freinetlehrerinnen  und Freinetlehrer durch ihre professionelle  selbstorganisierte Weiterbildung einbringen.

Das System „Freinet“ korrigiert sich ständig  selbst, im Klassenrat,  als Gespräch, im  Kreis, in der Arbeisplanung, der Präsentation , in der Freinetgruppe , auf Treffen, in Ateliers,, durch die Kooperation mit Eltern.

Die Korrektur, die selbstkritische Veränderung  der Lernprozesse ist für Freinetpädagogen nicht die Ausnahme, sondern  Prinzip  der Arbeit.

Wo können nun Probleme auftauchen?

Das häufigste  Problem  für Freinetpädagogen ist seit  Anbeginn  dieser Pädagogik

die Diffamierung durch politische kommunale Kreise oder schulische Behörden , Vorgesetzte wie Schulleiter oder Inspektoren,  die dann meist politisch  motiviert sind oder  der  Unkenntnis  dieser Menschen bezüglich der Funktionsweise  dieser Pädagogik entspringen.  Diese Ursache  verschwindet mit zunehmender Reform des Schulwesens  in den letzten Jahren mehr und mehr.

 

Ein zweiter Grund  kann in Ängsten und Ressentiments von Eltern begründet sein. Der vorhandene gesellschaftliche Druck, den die Eltern bezüglich  der Schulkarriere ihrer Kinder  unter dem Aspekt schlechter  Zukunftsperspektiven spüren, die eigene negative Schulerfahrung, die nicht verarbeitet wurde, können  das Vertrauen in die Lernfähigkeit ihrer eigenen Kinder beeinträchtigen und dies kann auf die Schule übertragen werden.

Häufig wird das Kind gezwungen, zu Hause  nach anderen Methoden als in derb Freinetklasse zu lernen, zu pauken,. Das Kind erfährt genau den falschen Druck, den die  Freinetpädagogik ablehnt.  Das Kind verliert die Freude am Lernen, seine Leistungsbereitschaft, es beginnt  schlechter zu lernen.

Der Kreislauf einer self-fulfilling prophecy beginnt zu wirken. Trotz  Freinet in der Schule beginnt das Kind  „schlechter“ zu  werden. Zuhause hört das Kind das Schimpfen über die Schule, Beschwerden und  Unterstellungen.

Meist reagieren die Kinder so, daß sie zunächst spürbar traurig werden.  Sie ziehen sich zurück,  distanzieren sich vom selbständigen Lernen und beginnen,  vorgegebene  Aufgabenstellungen einzufordern.. Sie beginnen, „sich vor der Arbeit zu drücken“.

Da sie am Nachmittag oder am Abend zu Hause  unter Druck lernen müssen, beginnen sie am Vormittag in der Schule zu „faulenzen“, zu  „spielen“, „Unfug zu machen“. Sie versuchen einen Freiraum fernab vom Lernen zu erobern.   Dies kann bis zur totalen Arbeitsverweigerung und zu  aggressiven Handlungen führen.

Eltern sagen dann, „mein  Kind lernt nichts in der Schule“, eine nachweisbare Behauptung.  Sie wollen oder können nicht sehen, dass  sie selbst die Initiatoren dieses Prozesses sind.  Freinetlehrer reagieren darauf nicht „mit dem Anziehen der Zügel“ oder der  Devise „Daumen drauf“. Vielmehr suchen sie einerseits das  offene,

erklärende Gespräch mit den Eltern, andererseits  mit dem Kind, einzeln oder in der Klassengemeinschaft. Sie versuchen, ihm Angebote zu machen, ihre traumatische Situation zu verarbeiten.  Sie empfehlen das freie Malen und Zeichnen, das freie Schreiben, kinderinterne „Sorgengesprächskreise“, das Führen geheimer „Sorgenbücher“, freien Ausdruck in Tanz, Musik- und Theaterspiel.  Behutsam wird das Kind immer wieder  zur systematischen, selbstverantwortlichen  Arbeit aufgefordert, immer wieder wird es an kooperierende Arbeitsgruppen herangeführt.  Es wird aber weder gezwungen, noch überredet, noch übertölpelt, im gleichen Maße, wie die allgemeinen Regeln in der Klasse auch von diesen Kindern eingehalten werden müssen.  Das Kind und sein Problem werden ernst genommen, die Bewältigung des Problems ist  nun seine wichtigste Lernaufgabe. Fatal sind hier Schulleitungen oder auch Kollegen, die die (hilflose, nicht professionelle) Forderung von Eltern auch mehr Druck auf die Kinder unterstützen. In solchen Situationen müssen Freinetlehrer  oft die Unterstützung anderer schulischer oder außerschulischer Beratungspersonen suchen.

Zuerst muss immer dem Kind geholfen werden, nicht den Eltern.  Sollten diese  auch nach Gesprächen  kein Vertrauen in die Lernweise der Freinetklasse gewinnen,  können sie in den  Unterricht der Klasse eingeladen werden, um ihnen zu zeigen wie wir  (und die anderen Kinder) arbeiten, um sie  selbst in ein Lernen einzubinden, wo sie selbst durch eigene Erfahrung lernen können.  Sollten   Eltern dies ablehnen oder bei ihrer Haltung bleiben, empfehlen Freinetpädagogen NICHT, dass die Eltern  das Kind in eine andere Lerngruppe geben sollen.

Ihre Aufgabe ist es,  - wie in vielen anderen Problemfällen, wie Hyperaktivität,Trennungsproblemen, Missbrauch oder Lern- und Wahrnehmungsproblemen -  das Kind zu begleiten , ihm alle Chancen zu geben, am eigenen Problem in einer demokratischen Lernumgebung zu arbeiten.

Es kann keine Lösung sein, auf die Forderung der Eltern nach mehr Druck einzugehen.  Die Aufgabe der Lehrerin kann es nur sein,  bei nachlassender Arbeitseinstellung und Lernmotivation, das Kind dahingehend zu beraten, dass es neue Formen der Selbstdisziplin findet, sich selbst, trotz der Aktivitäten der Eltern,  neu als Person und in der Arbeit selbst zu organisieren.

Sollten die Eltern entscheiden, das Kind aus der Freinetklasse zu nehmen, so muss dies alleine in ihrer  Verantwortung bleiben. Die FreinetlehrerIn kann auch hier nur auf die Nachteile für das Kind aufmerksam machen.


 

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