Ingrid Dietrich zum 60sten:

„Weit davon entfernt eine Modeströmung zu sein“1

von Walter Hövel

 

Als ich 1982 auf die Freinetbewegung stieß, begegneten mir viele imponierende

Persönlichkeiten. In über 20 Jahren begegneten mir viele Menschen mehr, die mein Denken,

Fühlen und mein pädagogisches Handeln stark beeinflussten. Um mich aber wirklich „zu den

Freinis zu bekommen“, musste es in diesen allerersten Tagen nicht nur beeindruckende,

sondern auch überzeugende Begegnungen geben.

So gab mir Ute Geuß die Vertrautheit und Freundschaft, Paul le Bohec die Inspiration und

Intuition, Wolfgang Mützelfeld die Herausforderung und das Beispiel den eigenen Willen

machbar zu machen, und - last but not least war es die Begegnung mit Ingrid Dietrich.

Persönlich lernte ich sie erst später kennen, ich begegnete ihr zunächst in Form eines Buches,

das mich ultimativ in den Bann zog und überzeugte.

Sie hatte als Herausgeberin gerade die „Politischen Ziele der Freinet-Pädagogik“2

 aus dem Französischen übersetzt und kommentiert und ich las dieses Buch.

Und vielleicht war es der Einfluss dieses Buches, das dafür sorgte, dass ich nie ein

ausgesprochener Anhänger von Herrn oder Frau Freinet oder deren Tochter wurde. Es waren

für mich von Anfang an die Ziele einer internationalen pädagogischen und politischen

Bewegung. Es waren und sind die Ziele all jener Menschen, die sich einer wirklichen

Demokratie der Menschenrechte, einem real lebbaren Traum freier Menschen in

Menschlichkeit und dem konkreten Ziel einer freien Gesellschaft in freier Kooperation freier

Individuen, ob Erwachsene oder Kinder, verpflichtet fühlen.

Diese „Politischen Ziele der Freinetpädagogik“ machten mir klar, dass Menschen nicht nur

Rechte hatten, die unerträglich zwischen Anspruch und Wirklichkeit wanken, sondern, dass

gerade Kinder Rechte haben, eigene und überall verschiedene, besondere und die gleichen

wie Erwachsene, und dass diese zu propagieren und sofort zu verwirklichen sind, - auch und

gerade in der Schule.

Ich begann Wörter und Handeln mit „selbst“ zu schätzen und zu entdecken, wie

Selbstorganisation, Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, Selbststeuerung,

Selbst-Verständnis, Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung.

Mit diesem Buch begann ich zu begreifen und zu formulieren, dass ein Begriff von Leistung

nicht jener kaputte Leistungsbegriff der herrschenden selektierenden Schule, einer Erziehung

zu Gehorsam, Anpassung, Angst und Unterordnung, und das Verdikt unterdrückender

gesellschaftlicher Mächte und Mächtiger zu bleiben hatte. Ich begann zu erkennen, dass es

möglich war, einen eigenen Lust-immanenten demokratischen Begriff von Lern- und

Erkenntnis-Leistung und eigenem Erfolg für „Lehrende“ und „Lernende“ zu bilden und zu

leben.

Ich begriff, dass ich die Abschaffung der ausbeutenden Arbeit nicht in eine ferne himmlische,

sozialistische oder ökotopische Zukunft zu verschieben hatte, sondern eine nicht entfremdete

Arbeit eines eigenen Lebenlernens und Lernenlebens hier und jetzt verwirklichen konnte. Ich

verstand, dass es in Schule nicht darum gehen darf, Arbeiten schreiben zu müssen, sondern

am eigenem Schreiben befreit und befreiend arbeiten zu können.

Ich lernte, dass freier Ausdruck nicht das Privileg einiger berufener Künstlerinnen oder

Künstler ist, sondern das Privileg eines jeden Menschen, meiner selbst und jedes Kindes, das

sich diese Welt erobern will und der freie Ausdruck selbst ein entscheidendes Mittel zum

eigenen Konstruieren von Wirklichkeit ist.

 

1 Ein Zitat von Ingrid Dietrich über die Freinetpädagogik, in: Pädagogik, „Freinet – praktisch über die

Grundschule hinaus, Heft 2/1993, S.6

2  Dietrich, Ingrid, Politische Ziele der Freinet-Pädagogik, Weinheim, Basel 1982

 

Ich begriff, dass Individualität und Kooperation keine Gegensätze sind, sondern integrative

Bedingung jedes menschlichen Lernens und Lebens. Der Klassenrat wurde so zu einem

zentralen immer wiederkehrenden Ereignis in meinem Schulleben. Und mein eigenes Konzept

zur permanenten Entwicklung einer ganzen Schule prägte sich von hier aus.

Ich begriff, dass eine demokratische Einstellung zu Kindern Techniken und „Werkzeuge“

braucht, die in sich selbst demokratisch sind und die Demokratie beim Lernen mit diesen

freinetischen „Praktiken“ von den Lernern für ihr Lernen und Leben entwickelt wird3.

Ich lernte, dass Lernen ohne Zwang(, auch ohne gut gemeinten,) viel nachhaltiger und

effizienter funktioniert. Ich lernte, dass das Lernen nicht so stattfindet wie es geplant wurde,

sondern Lernen ein vom Menschen bewusst oder unbewusst beliebig (nach eigenem Belieben)

gesteuerter Prozess ist, und dass der Zwang im Allgemeinen, und im Besonderen der

Zwang der Schulbücher, der vergleichenden Tests und der stoffzentrierten Pädagogik beliebig

und willkürlich ist.

Das Recht auf Vergnügen blieb bis heute mein liebstes Zitat aus Ingrid Dietrichs Buch:

„Wir erkennen ihr Recht“ (das Recht der Kinder) „auf Vergnügen an, welches immer schon von der Schule

verdrängt und als etwas Ungeheuerliches angesehen wurde durch diejenigen, welche von Kindheit an die

Menschen vorbereiten auf die Entfremdung einer ‚von oben’ auferlegten Arbeit. Dafür sollen sie sich dann in

einer Freizeit ausleben können, in der nur konsumiert wird. Wir verknüpfen die dynamische Willensanstrengung

nicht mit willkürlichem Zwang, sondern mit dem Wunsch, ein frei gewähltes Ziel zu erreichen, was bestimmte

momentane Frustrationen mit sich bringt im Hinblick auf den angestrebten Erfolg, aber damit auf ein späteres

Vergnügen. Für uns“ (die Freinetpädagogik) „gibt es keine andere Formung des Willens als die Erziehung zu

freien Menschen durch die Übernahme von Verantwortung.“4

 

Ich begriff neu und anders, dass Pädagogik und Politik nicht zu trennen sind. Als Pädagoge

politisch denken, heißt eben nicht zu wissen, was für andere gut und richtig ist, eben nicht das

aufzuklärende( - erst recht nicht Kinder-) Volk vom „Richtigen“ überzeugen zu müssen,

sondern immer zu wissen, was man selbst in welchen Zusammenhängen und mit welchen

Wirkungen tut. Zu wissen, dass man auch „Falsches“ tun kann, aber zu allererst den

Menschen einzeln und gemeinsam ihre eigene Konstruktion ihrer Welt lässt.

.

Ich lernte einen Verantwortungsbegriff, bei dem ich nicht die Verantwortung für andere oder

gar für das Lernen von Kindern zu übernehmen hatte, sondern ich lernte für mich selbst, mein

Denken und (eben nicht nur) pädagogisches Handeln verantwortlich zu werden.

Ich begann frei zu werden, als Lehrer und Lerner in einem vergnüglichen Schulalltag in der

staatlichen Schule.

„Dafür, Ingrid, danke ich dir!“

Ebenfalls danke ich ihr für ihre mir Weg weisenden Gedanken über das Lernen von

„Fremd“sprachen.

Ein Aufsatz aus dem Jahre 1995, als auch weitere Aufsätze zum Thema6, machten es mir

möglich, mich in meinem eigenen Englischunterricht zunächst vom Schulbuch zu lösen,

 

3 Jochen Hering/Walter Hövel, Miteinander reden – miteinander arbeiten, in: Eichelberger, Harald,

Freinetpädagogik und die moderne Schule, Innsbruck 2003, S. 107-129

4 Dietrich, Ingrid, Politische Ziele der Freinet-Pädagogik, S.90

5 Dietrich, Ingrid: Freinet-Pädagogik und Fremdsprachenunterricht, aus: Englisch-Amerikanische Studien

(EAST). Zeitschrift für Unterricht, Wissenschaft und Politik, Nr. 4, 1979, S. 524-563.

6  z.B.: Dietrich, Ingrid: Fremdsprachenunterricht ohne Lehrbuch – eine Utopie? Aus der Praxis eines FreinetLehrers

in der Sekundarstufe I, in: Beck/Boehncke, Jahrbuch f. Lehrer 5 (1980), S.423-434

 

und aktuell nachzulesen: Dietrich, Ingrid: Handbuch Freinet-Pädagogik, hier: „Die Gesamtkonzeption des

Fremdsprachenunterrichts“, Weinheim, Basel 1995, S.224-228

sukzessive freinetische Arbeitstechniken und Formen des freien Ausdrucks einzuführen, den

Englischunterricht direkt mit den Kindern und Jugendlichen für den Einzelnen und die

Lerngruppe zu planen und zu evaluieren, um dann mit dem Begriff der „Natürlichen

Methode“ und Paul le Bohecs Gedanken zum Sprachlernen bei einem eigenen Verständnis

von freinetischem Sprachenlernen auch in der Schule praktizierbar anzukommen.

Diese Aufsätze haben nichts von ihrer Aktualität verloren. Noch heute ist leider die gängige

Praxis an unseren Schulen weit von dem entfernt, was du bereits vor über 20 Jahren

anzubieten hattest. Dies gilt auch für die aktuelle Einführung des Englischunterrichts an den

deutschen Grundschulen. Wieder glaubt man Schulbücher und Stoffvermittler einsetzen zu

müssen, anstatt mit kompetenten Kindern an und in der Wirklichkeit zu lernen.

„Das grundsätzliche Ziel besteht darin, die Lernenden an ihrem Lernprozess zu beteiligen, darüber zu wachen,

dass sie nach eigenem Rhythmus voranschreiten, dass sie ihre Arbeit selbst wählen und organisieren, dass sie

alle Arten von Informationsträgern benutzen, dass sie Erfahrungen machen, ohne ständig von den Lehrenden

kontrolliert zu werden.“

aus: Ingrid Dietrich, Die Gesamtkonzeption des Fremdsprachenunterrichts

Bald traf ich Ingrid Dietrich und erlebte sie als die „Ausnahmeprofessorin“. Im Gegensatz

zu anderen über Freinet publizierenden Uni-Menschen wie Hans Jörg, Johannes Beck,

Dagmar Hänsel, Marianne Krüger-Potratz, Rita Süßmuth, Oskar Negt, Horst Rumpf , Herbert

Gudjons, Jürgen Wichmann, Wolf Dieter Kohlberg, Harald Eichelberger, Ulf Preuss-Lausitz,

Helmut Schreier, Inge Hansen-Schaberg oder Konrad Wünsche, die ich nie auf Treffen oder

Seminaren traf, besuchte Ingrid Dietrich die selbst organisierten Veranstaltungen der

Pädagogik-Kooperative als Teilnehmerin. Sie kam zu unseren Freinetreffen, besuchte

Ateliers, die Druckerei, Diskussionen, suchte Gespräche, sie stritt und hörte zu.

Von den Menschen, die an der Uni arbeiteten war in meinen frühen Freinetjahren außer

Herbert Hagstedt und Sepp Kasper nur Ingrid Dietrich anzutreffen. Aber sie verkörperte für

einige Freinis leibhaftig den damals so gefürchteten Widerspruch zwischen Theorie und

Praxis. Ingrid Dietrich war nämlich nie die vor Spontaneität, charismatischer Eloquenz und

Selbst- und Freinet-Darstellung übersprühende Kollegin. Sie war nicht der auf Freinettreffen

so beliebte und weit verbreitete Typ des Freinet-Praxis-Gurus, des alternativen MethodenHexenrs

oder des Freinet-Lern-Lust-Animateurs. Sie war eher trocken, theoretischer,

politischer und ausgesprochen kritisch und –anspruchsvoll. Und da gab es bei uns Leute, die

sich mit ihr anlegten, ihr unterstellten „ja nur von Freinet zu reden und zu schreiben, ihn aber

selbst nicht zu praktizieren“. Immer wieder verstrickten sie Ingrid Dietrich in heiße

Diskussionen. Sie ging, wenn auch hart und manchmal unfair, oder besser leichtsinnig

angegriffen, mit Freuden und Leidenschaft, aber auch Können und Stehvermögen in diese

Dispute.

Damals hat Ingrid Dietrich so zum zweiten Mal, nach dem Lesen ihrer Veröffentlichungen,

meine Sympathie gewonnen. Ich bin froh, dass es ihre Art freinetischer Praxis gibt, in der sie

für sich und auch viele andere keinen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis kennt.

Ingrid Dietrich ist seit mehr als 20 Jahren eine Mentorin der in Schule und Hochschule

praktizieren deutschsprachigen Freinetpädagoginnen und Freinetpädagogen.

Unermüdlich beobachtet sie die Praxis der Freinetpädagogik in Deutschland, Frankreich,

Österreich, der Schweiz oder anderen Ländern.7.  Sie spricht sie viele von uns an, wenn sie

glaubt etwas „Brauchbares“ in unserer Praxis und unserer Reflektion oder gar in der eigenen

Forschung entdeckt zu haben. Sie sieht, dass dort Freinetpädagogen an der Übertragbarkeit

der Praxis in der Freinetklasse auf die Arbeit der Schulentwicklung arbeiten, dort andere

konstruktivistisches und freinetisches Gedankengut zusammenbringen, dort um neue

Positionen ringen, und schickt ihre Studentinnen und Studenten nach Vence, Wien, ins

7 Gleiches könnte ich nur noch von Herbert Hagstadt berichten.

 

Aargau, nach Darmstadt, Bremen oder Eitorf. Immer wieder fordert sie auf zu schreiben,

empfiehlt uns als SchreiberInnen an Zeitschriftenredaktionen und Buchprojekte und lädt zum

Mitschreiben in den eigenen Publikationen ein. So machte sie nicht nur mir Mut über die

„Fragen und Versuche“ hinaus unsere Gedanken und Erfahrungen in die öffentliche

Diskussion zu bringen.

Immer wieder initiiert sie Begegnungen mit Freinet an der Hochschule. So organisiert sie –

leider etwas im Schatten des Symposions in Kassel – zum 100sten Geburtstag Freinets ein

eigenes Symposion an der PH Heidelberg. Hier begegneten sich eine große Zahl Studentinnen

und Studenten, Hochschuldozenten, Schulaufsichtsbeamte, Freinetlehrerinnen und –lehrer

und – was mir besonders imponierte – etwa 60 Pädagoginnen und Pädagogen aus dem Elsaß.

Dieses Fest der Begegnung von Praxis, Ausbildung, Lehre und Forschung in einem

europäischen Rahmen konnte kaum gehaltvoller und liebevoller organisiert werden. Und

Ingrid Dietrich setzt diese Arbeit unermüdlich fort. In diesem Jahr realisiert sie an ihrer

Hochschule Schnupperkurse zum Kennenlernen der Freinetpädagogik.

Wenn sie es war, die viele Jahre das „Archiv Examensarbeiten“8 pflegte und verwaltete, so animiert sie auch immer wieder ihre Kolleginnen und Kollegen aus Forschung und Lehre – mit wechselndem Erfolg – zur Kooperation. So gehörte sie zu unserem Team, das einige Jahre das Freinet-Hochschul-Treffen organisieren konnte.

Noch wichtiger als die Freinetbewegung und Freinetpädagogik ist und war Ingrid Dietrich

immer die Sorge um die ausländischen und zugewanderten Kinder in unserem Land.

„Zu den Überzeugungen der erfolgreichen (PISA-)Länder gehört, dass jeder Mensch – und erst recht

jedes Kind – anders ist. Das sind keine Defizite, das ist Reichtum“ (Reinhard Kahl)9

„Ausländische Kinder sind keine Problemkinder, auch dann nicht, wenn sie wenig Deutschkenntnisse mitbringen

und ‚noch nicht integriert sind’. In dieser Redeweise kommt das Assimilationskonzept der deutschen Schule zum

Ausdruck, das auf einem Machtgefälle zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den Angehörigen der

Minoritätengruppen basiert. Die Majorität erlegt dabei den Minoritäten die eigenen Normen, Verhaltensweisen

und Lerninhalte auf und beschneidet ihre Chancen zu Partizipation und Selbstdarstellung. Die unterrichtliche

Konsequenz aus dem Konzept der interkulturellen Erziehung müsste jedoch in allen Fächern und Lernbereichen

die Berücksichtigung der Verschiedenheit der Migranten-, Aussiedler- und Flüchtlingskinder sein“

Ingrid Dietrich10

Einige Titel ihrer Bücher und Aufsätze schreiben schon ihr Programm:

• Vom Recht der ausländischen Kinder auf Achtung11

• Voll integriert?, Zuwanderer-Eltern berichten über Erfahrungen ihrer Kinder mit

Schule in Deutschland12

• Erfahrungsbezogenes Lernen mit ausländischen Kindern in der deutschen

Grundschule13

• Schulische Sprachlernbedingungen und ihre Bedeutung für eine interkulturelle

Erziehung ausländischer und deutscher Kinder14

• Was und wie türkische Kinder schreiben15

• Das Recht auf Muttersprache16

 

8 Das Archiv ist nun bei Herbert Hagstedt in der Freinet-Forschungsstelle an der Uni Kassel

9 Kahl, Reinhard: „Auf euch haben wir gewartet“, Woran liegt die Nach-PISA-Stagnation?, in: forum

schule.nrw, Dez 2003, S.38

10 in : Ingrid Dietrich, Handbuch der Freinet-Pädagogik, S.106

11 in: „Grundschule“, Heft 4/1992, S.64-67

12 erschienen in der Reihe „Interkulturelle Erziehung in Theorie und Praxis, Band 20, Hohengehren 1997

13 in: Wittenbruch, Wilhelm, Das pädagogische Profil der Grundschule, Heinsberg 1984, S.227-242

14 in: „Zielsprache Deutsch“, Heft 3/1985, S. 2-11

15 in: Valtin/Nägele, „Schreiben ist wichtig“, Frankfurt a.M. 1986 (AK Grundschule, Bd. 67/68), S.232-257

 

Sie blieb nicht bei der Theorie. Ingrid Dietrich erfuhr und erfährt als Mutter ihrer Tochter

Ximena17 alle Aspekte des Kindergarten-, Schul-, Verwaltungs- und privaten Lebens. Ich

erinnere mich, wie verzweifelt und verärgert sie war, wenn sie vom Nichtverstehen der

Erzieherin, von der Engstirnigkeit der Lehrerin, von den Problemen des „Ein“lebens in die

„deutsche“ Gesellschaft, von ihren eigenen Problemen erzählte. Ich höre aber auch den Stolz

in ihrer Stimme, den Stolz auf ihre Tochter und sehe in ihren Augen den Willen und die Kraft

diesen eigenen Weg einer Mutter und ihrer Tochter zu gehen.

„Wege zur Förderung jedes und jeder Einzelnen bereitzustellen, ist das Gebot der Stunde.“18

 Ingrid Dietrich

Zum Schluss möchte ich ihre wohl wirksamste Veröffentlichung würdigen. Es ist das

„Handbuch Freinet-Pädagogik“, das in der profilierten „Grünen Reihe“ des Beltz-Verlags

1995 herauskam. Das Besondere an diesem Buch ist, dass hier nicht, wie in anderen vorher

erschienenen Büchern, die Schriften Freinets durch das Anhängen der Beschreibung der

heutigen Arbeit der „Nachfahren“ Freinets erläutert wurden. Vielmehr geht sie den

umgekehrten Weg. Gemeinsam mit aktiven Mitgliedern der Freinetbewegung, mit

praktizierenden Freinetpädagoginnen und Freinetpädagogen sammelt sie in diversen

Aufsätzen die Beschreibung relevanter Erfahrungen der aktuellen Entwicklung der

Freinetpädagogik mit Lernen, Bildung und Schule der Gegenwart. Sie beschreibt was hier

und heute „Freinet“ kann und bedeutet. Im 30seitigen Anhang gibt sie einen Überblick über

die wissenschaftlich herstellbaren Bezüge.

Sie ist die erste, die Freinetpädagogik nicht mit den Worten Celestin Freinets beschreibt.

Freinet bleibt eine einzige Seite Text, nämlich die Geschichte von den Adlern, die keine

Treppen steigen. Ingrid Dietrich steigt nämlich auch keine Treppen, sondern setzt sofort zum

Flug über die freinetische Realität an. Sie gibt den Kindern Freinets das Wort!

Wenn es Hans Jörgs Verdienst ist, den alten originalen Freinet in die Regale der

Universitätsbüchereien und die Hände der Studierenden zu bringen und ihn in der und für die

Wissenschaft erhielt, wenn es Johannes Becks Verdienst ist, dass er u. a. mit seinen

Jahrbüchern eine politisch bewusste Freinetbewegung ins Leben stieß, wenn es Herbert

Hagstedts Verdienst ist, dass Freinet in allen Fachzeitschriften und Publikationen als immer

mit diskutierende und mit entwickelnde Pädagogik von Heute erscheint, so ist es Ingrid

Dietrichs Verdienst, dass die aktuelle existierende Freinetpädagogik als wissenschaftlich

und bildungspolitisch relevanter Teil der heutigen Erziehungswissenschaften seit mehr

als 20 Jahren in die Regale der Universitätsbüchereien, die Köpfe der Studierenden und

jungen Lehrerinnen und Lehrer kommt und in zahllosen Publikationen, Forschungen

und Diskussionen, die um die Verbesserung von Schule, Lernen und Ausbildung ringen,

gesehen und anerkannt wird.

„Liebe Ingrid, setze deine Arbeit gegen Schulverdrossenheit19, für die Rechte aller Kinder, für

konsequente und erfolgreiche Reformen fort!“

 

„...Du bist kein Glaubensartikel – und keine Philosophie – keine Vorschrift und kein Besitz –

an den man sich klammert – Du bist ein lebender Mensch...“

Erich Fried

 

16 in: „Demokratische Erziehung“, Heft 6/1987, S.5-9

17 Sie widmet das „Handbuch Freinet-Pädagogik“ ihrer Tochter mit Salvator Allendes Worten. „Los ninos seran

los unicos privilegiados“ („Die Kinder sind die einzig Bevorzugten“)

18 Dietrich, Ingrid, Voll integriert?, S.268

19 So der Titel ihres ersten Buches: Dietrich, Ingrid u.a.: Schulverdrossenheit, Königstein/Taunus 1978