Gerhard Glück

 

Die Rechte der Kinder - Freinetpädagogik

 

Eine Rezension

 

 

 

Der Grundschullehrer Walter Hövel hat es gewagt, seine 3.Grundschulklasse aufgefordert, die Rechte der Kinder zu nennen und schrieb sie unzensiert an die Tafel, ließ dazu zeichnen und legt uns ein ganzes Buch darüber vor. Beim Durchblättern und Lesen staune ich immer wieder: So einfach von unten her aufbauend von Grundrechten und einfachen Begriffen, so klar und radikal kann ein Pädagoge heute sein? Und mein Widerspruch regt sich, wenn in diesem Buch die „lernzielorientierte Schule“ ganz pauschal abgewertet und letztendlich als wirkungslos eingeschätzt wird (S. 82) oder sogar lächerlich gemacht wird als „Fingerzeige-“ und „Wortpädagogik“. Gänzlich sinnlos sollte außerhalb der Benotung der Schulalltag im Gymnasium sein? (S. 148)

 

Solche Schwarz-Weiß-Malerei muss offensichtlich sein und macht als Typisierung wohl auch einen guten Sinn. Das ganz Eigene und Neue einer „Pädagogik vom Kinde aus“ (dieser Begriff aus der Geschichte der Reformpädagogik kommt allerdings im Buch selbst gar nicht vor) tritt dadurch prägnant hervor.

 

Doch zunächst eine Inhaltsanalyse des Buches, welches in sechs Zugängen das Thema der Rechte der Kinder einkreist: Im theoretischen Teil wird eine pädagogische Position bestimmt mit Bezügen zur Psychologie und einer Anthropologie des Kindes.

 

Im praxis-berichtenden Teil werden die Texte der Kinder zu ihren Rechten dargestellt und interpretiert. Zum Teil interpretieren auch die Kinder selber ihre Motive. Einige Beispiele: Kinder haben das Recht etwas Neues zu haben oder --- ihre eigene Frisur wählen zu können oder … zur Toilette zu gehen, wann sie selbst wollen oder … etwas zu schenken, zu singen oder … auch Bäume zu pflanzen. Ein Junge aus Walter Hövels Klasse hat es aufgrund des Rechte-Unterrichts zuhause durchsetzen können, sein kleines Schwesterchen pflegen und versorgen zu dürfen.

 

Das Buch enthält weiterhin einen Lehrer/-in-biographischen Teil: Wenn das von Schüler/-innen erwartet wird, praktizieren die Lehrer/-innen in der Freinetpädagogik das auch. Sie besinnen sich auf ihre Rechte und reflektieren ihre Schulerfahrungen. Sie besinnen sich auf ihre Rechte und reflektieren ihre Schulzeiterfahrungen, einmal im „freien Text“, das andere Mal im „Lehrer/ -innen-Schreibgespräch.“

 

Ein dokumentarischer Teil enthält zentrale Texte und Aussagen von Janusz Korczak, Alice Miller und die „Zehn Gebote für Lehrerinnen und Lehrer“ von Hartmut von Hentig (S.76) sowie auf der Rückseite dies Blattes ein Arbeitsblatt die „biblische Behandlung“ der Zehn Gebote zur Vorbereitung der Kommunion. Schließlich stehen am Ende des Buches die 54 Artikel der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes vom Dezember 1989. Doch die Politik ist in diesem Buch nicht nur abstrakt und weit weg, also bei den Delegierten in Paris oder New York, sondern sie wird auch konkret mit den „Politischen Zielen der Freinetpädagogik“ im Buch dargelegt (S. 88 durch eine Verbindung von Rechtspositionen und Aussagen zu den Bedürfnissen der Kinder).

 

Außerordentlich gut lesbar, ja sogar genießbar wird das Buch durch seinen ästhetisch-sinnlichen Teil , den Birgitt Brand gestaltet hat: Kinderbilder, Zeichnungen, Fotos und Gedichte, z.B. Erich Fried, Bettina Wegner und Bertold Brecht lassen den Leser diese großformatige Heft (Din-A4) gerne in die Hand nehmen und einfach blättern, lassen das Auge schweifen, bis es sich irgendwo durch ein Wort oder ein Bild fesseln läßt. Und schließlich enthält das Buch auch einen didaktisch – anleitenden Teil: Wie funktioniert diese Freinetpädagogik? Der Klassenrat mit den Aufgaben der Schüler/ - in – Präsidenten wird nachvollziehbar beschrieben. Ebenso andere Elemente der Freinetpädagogik.

 

Durch diese sich ergänzenden sechs Zugänge zum Thema wird dieses Buch zum Nachschlagewerk und einer Fundgrube auch für den, der dem Konzept eher ablehnend oder distanziert gegenübersteht. Als Ziel des Unternehmens sehe ich, den geneigten Leser und die breite Leserin in die Lage zu versetzen, „die Kinder und Jugendlichen durchgängig ernst zu nehmen, sie als kompetente Partner mit einer eigenen kindgemäßen Wahrnehmung und einem eigenen 'Rechtsverständnis' zu akzeptieren und ihnen ihre eigene Verantwortlichkeit zuzugestehen“. (S.83)

 

Und so geht es auch: Die sogenannten 'Fehler' des Lehrers werden zu Wegweisern, öffnen neue Räume – und sind eben keine Fehler mehr. Besonders beeindruckt haben mich die kreativen Lösungen von schwierigen Situationen in der Klasse. Wo Schüler z.B. eine Strafarbeit für den Störer im Klassenrat wünschten, schlägt Walter Hövel vor, daß der Betreffende einen Tag nicht arbeiten darf und auch kein Schüler mit ihm an diesem Tag arbeiten soll. Hier hat also jemand durch sein Fehlverhalten sein Recht auf Arbeit, sein Recht auf Einzel- und Kooperative, auf schulische Arbeit für eine Zeitlang verwirkt.

 

Wer sich auf dieses Buch einläßt und nicht gleich auf innere Distanz geht, wird leicht davon überwältigt, sieht seine ganze Schulpraxis in Frage gestellt und angeklagt. Und jeder, der sich davon einnehmen läßt, wird sich auch fragen müssen, ist das ein Konzept, das meiner Person entspricht?

 

Und für wie viele Freinetpädagog/ -innen stimmt es, daß sie durch dieses Konzept „ihr Lehrerdasein wieder genießen können“ (S.148)?

 

Das Buch gehört wegen seiner dokumentarischen Texte in jede Lehrerhandbibliothek – doch wegen seiner ästhetischen Qualitäten und seiner großzügigen Gestaltung und Argumentation eignet es sich noch besser als Geschenk für wirklich jeden Kollegen und jede Kollegin!