Walter Hövel

Im zweiten Jahr arbeite ich als stellvertretender Schulleiter an einer Grundschule mit ca. 220 Kindern und zur Zeit 12 Kollegen. Meine Aufgabe ist die pädagogische Leitung der

Schule, wobei der Schulleiter mich fast immer unterstützt

 

EINE SCHULE NACH FREINET ORGANISIEREN?

Gedanken und Berichte

 

Know - How

Ich käme nicht auf die Idee, eine Schule komplett mit Druckereien, Karteien, Ateliers, Arbeitsmaterialien auszustatten, den Lehrern nur noch das Knowhow beizubringen. Ich denke, ein Kollegium würde dies nicht benutzen.

 

FREINETKONZEPT

Ich käme nicht auf die Idee, Freinet in mehreren Grundthesen zu formulieren, um danach eine Schule einheitlich zu organisieren, das Kollegium also in ein bestehendes Konzept zu drängen. Schon der Gedanke an diesen Anspruch des Perfektionismus erschreckt mich.

 

VIELE FREINIS

Ich käme nicht auf die Idee Freinetlehrer an meiner Schule zu konzentrieren. Dies wurde vielleicht schneller Veränderungen möglich machen, aber die Alltagssorgen wurden uns in die Normalität zwingen, so ein großes Enttäuschungsprojekt könnte die gesamte Arbeit hemmen. Ich mochte mit "normalen" Lehrerinnen arbeiten.

 

FREINETSCHULPROGRAMM

Ich käme nicht auf die Idee, ein pädagogisches Schul-Programm a la Freinet, lange und ausführlich diskutieren zu lassen, um es dann zu beschließen. Dies bliebe ein totes Stück Papier. Nicht die Selbstverantwortlichkeit und Fähigkeiten der Menschen ergeben ein lebendes Programm, sondern die Menschen müssten Verantwortung für formulierte Ansprüche übernehmen, die sie mit ihren Fähigkeiten nicht erfüllen könnten.

 

BÜCHER ÜBER FREINET

Ich käme nicht auf die Idee, die Kolleginnen Artikel und Bücher über Freinetpädagogik lesen zu lassen, damit sie das Gelesene umsetzen. Ich weiß, dass Freinetpädagogik immer mehr ist als zu Worten geronnene Erfahrung.

 

KLEINGRUPPENMODELL

Ich käme nie auf die Idee, nur die Organisationsstruktur der Schule zu dezentralisieren, z.B. Kleinteams zu formieren, die die Keimzelle der Kooperation sein sollen. Diese Kooperationsform wird an den Kommunikations- und Machtstrukturen einer Schule scheitern.

 

NACH FREINET ARBEITEN 

Ich käme nicht auf die Idee, dass alle Kolleginnen irgendwann bereit sind, nach “Freinet" zu arbeiten. Weil, diesen "Freinet" gibt es für mich nicht, unsere Pädagogik ist mehr als eine Theorie der Erziehung". Eher käme mir schon die Idee, eine Kollegin nach der anderen zu FreinetfortbiIdungen und Freinettreffen zu "schicken", um sie dieses Lernen selbst erleben, um sie von diesem "Virus Freinet" infizieren zu lassen.

 

Aber dies allein wurde keine Schule verändern, weil bei vielen die Umsetzung an der ideologischen Struktur der Schule oder an der Nichtbearbeitung der eigenen Lerngeschichte scheitern kann.

 

PROZESS STATT PRODUKT

Meine Idee ist es eher den Prozess der "Freinetisierung" eines Kollegiums in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen. Das Produkt "Freinet" wird nicht zur höchsten Sprosse einer zu erklimmenden Leiter erklärt. Dies bedeutet nicht zielloses oder ungeplantes Arbeiten, dies ist nicht der alte Widerspruch zwischen Weg und Ziel. Das Ziel bleibt die obere Sprosse des selbstbestimmten Lernens der Lernenden an und in der Wirklichkeit. Der Weg ist die Leiter, die erklommen werden muss. Aber entscheidend wird, welche Menschen wann, in welcher Reihenfolge, wo, welche Leiter, wie oft zu verschiedenen Zwecken einsetzen. Weg und Ziel werden nicht aus ihren Beziehungen zur Welt und Realität herausgelöst. Sie sind immer in einem realen Prozess. Ein so komplexer Prozess ist nicht linear steuerbar.

 

SELBST ORGANISIEREN

Ich schicke Menschen also nicht in verschiedene Phasen eines Lehrganges, wo ein vorher bekannter Lehrprozess dem anderen folgt, den sie nur Schritt für Schritt begleiten müssen, um am Ende das Zielband "Freinet-Schule" zu durchlaufen. Meine Zielsetzung ist vergleichbar mit der sich entwickelnden Demokratie einer Freinetklasse. Die Lehrerinnen sollen lernen, ihre Arbeit selbst zu organisieren und zu bestimmen, so das ihre individuellen Bedürfnisse mit den Gesamtbedürfnissen kooperieren können.

 

KOOPERATIVE ORGANISATION

Nie im Klassenrat, bei Arbeitsverträgen und -planen sich Schüler und Lehrer zu einer Kooperative organisieren tun dies Lehrer und Schulleitung mit ihrer Arbeit in der Lehrerkonferenz, bei eigenen Arbeitsplänen und neuen "Arbeitsverträgen". Diese Entwicklung ist ein Prozess der kooperativen Organisation der Lehrer, der zu einer kooperativen Organisation der Schule weiterwachsen soll, also wird zunächst nicht das Verhältnis zu den Schülerinnen verändert, sondern die Lehrerinnen erlernen neues Handwerkszeug durch eine eigene neue Form der Arbeit und können ihrer natürlichen, selbst bestimmten Veränderung ihrer Lehrerinnenpersönlichkeit finden.

 

GRUNDLAGEN

Meine Erfahrungen basieren auf meiner freinetischen Praxis mit Schulklassen. Ein weiterer Erfahrungshintergrund sind die Ateliers oder Langzeitgruppen bei Freinettreffen und Fortbildungen, wie die Struktur der Treffen selbst. Diese Prinzipien und Prozesse sind auf die Arbeit einer Schule übertragbar. Weitere Mittel der Arbeit mit den Kolleginnen an unserer Schule sind für mich jene Erfahrungen, die den ganzheitlich orientierten Managerschulungen oder "Systemberatungen"

 

der Industrie entstammen, so wie ähnliche Mittel, die in Deutschland auf Schule übertragen werden und ich "Organisationsentwicklung" nenne. ( Vergleiche hierzu Literaturliste)

 

Wenn ich nun versuche, meine Arbeit der letzten Jahre mit meinem Kollegium zu schildern, so ist dies die unvollständige Beschreibung unseres Prozesses. Dieser Prozess kann nicht imitiert werden, nur Ideen und Mittel sind wiederverwendbar.

 

DIE EIGENE KLASSE

Der erste Teil der Arbeit ist meine eigene Arbeit. Ich übernahm eine Klasse mit Beginn des 2. Schuljahres. Sie war moralisch und emotional und intellektuell von meinem Vorgänger übel zugerichtet.

 

Trotz dieser Hypothek, arbeitete ich so "lupenrein nach Freinet", wie ich nur konnte und musste dabei vom ersten Tag an die Klassentüre öffnen, damit jede Kollegin sehen und hören konnte, was ich tat. So ertrug ich üble Nachreden, dumme Kommentare und böse Missdeutungen. Heute ist diese Klasse und ihre Entwicklung eine tragende Säule meiner Arbeit. Hier ist zu sehen, zu hören und zu fühlen, wozu Freinetpädagogik unter den Bedingungen unserer Schule, fähig ist (und auch wozu nicht). Dies macht meine Arbeit im Kollegium glaubwürdig.

 

ALLE KÖNNEN ETWAS

Ich erklärte von vornherein, dass es mir nicht darum gehe, das alle so arbeiten sollen wie ich. Ich habe also keine Schule als Ziel, “die nach Freinet arbeitet"! Es wäre erstens unsinnig zu fordern, das eine Lehrerin wie die andere oder gar wie ein Herr Freinet arbeitet, andererseits wurde es einfach niemand tun, weil niemand seine Lehrerpersönlichkeit wie einen Mantel an der Garderobe abgeben kann, um in eine andere Haut zu schlüpfen. Metamorphosen sind eigene Entwicklungen. Wie bei den Kindern in der Klasse können nur die Kompetenzen, Erfahrungen und Erkenntnisse also hier die der Lehrerinnen, Grundlage der individuellen und kooperativen Arbeit sein. Also heißt die immer wiederholte Grundformel der Arbeit: "ALLE LEHRERINNEN KÖNNEN ETWAS"! Alle können Verschiedenes, ich muss nicht das können, was andere zeigen. Was andere machen, ist mir nicht egal ! Ich muss es kennen. Denn ein Ziel unserer Kooperation ist, dass ich nach außen das, was die anderen machen, gerade in der Andersartigkeit vertreten kann, weil nur die Summe unserer Fähigkeiten Grundlage unseres Gesamtkonzepts sein kann.

 

KEINE UNTERORDNUNG UNTER EINE STRUKTUR

Das Verschiedensein bleibt nicht scheinbar liberal nebeneinander stehen, sondern muss zu einem Gesamtkonzept der Schule geformt werden, in dem sich die Lehrenden nicht einer bestehenden Struktur unterordnen, sondern einen lebendigen Organismus schaffen, der sich ständig entsprechend der Bedürfnisse der Kinder, der Lehrer und der demokratischen Gesellschaft verändert, und in dem sich die Lehrer selbst verändern dürfen. Der erste Schritt in diese Richtung ist die Bereitschaft, die eigene Arbeit transparent zu machen, (was übrigens auch erst gelernt, werden will). Fortbildungen und Konferenzen sind keine Belehrungen für Lehrer, so wie sie bisher oft von den Teilnehmern erfahren werden mussten, sondern, eben wie Lernprozesse in der Freinetklasse, zunehmend selbstbestimmtem und selbstorganisierte praktische Erfahrungen.

 

EIGENE UNGEDULD

In dieser frühen Phase der Umorientierung der Arbeit des Kollegiums, litt ich persönlich unter dem Wissen, dass sich in vielen Klassen der Unterricht keinen Deut verändert hatte. Hier wurde und wird auch noch heute von einigen Kollegen ungehindert Macht gegen die Kinder ausgeübt und Kinder werden mit Schule gequält. Oft mochte ich schreien, sie sollen ihre pädagogischen Brutalitäten des Buchunterrichts oder die Gleichgültigkeit des lernzielorientierten Lehrens gegenüber den Kindern einstellen, aber es wurde nichts verändern, außer das unsere begonnene Arbeit zerstört wurde. Viele Lehrer sind selbst Opfer schwerster schulischer Verletzungen, die sie nur weitergeben. Viele Lehrerinnen brauchen viel länger als Kinder, demokratische Prinzipien zu übernehmen.

 

In Gesprächen versuche ich konkrete Missstände nur dann aufzugreifen, wenn ich selbst auch konkrete Lösungen präsentieren kann, die Kolleginnen übernehmen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren! Eine Schulleitung, die gegenüber Kollegen recht hat, muss ihnen dieses Recht vorher genommen haben.

 

KRÄFTE EINSCHÄTZEN

Eine zweite Grundformel war für unsere Bedingungen wichtig: "Wir können die Schule nicht verändern, indem wir die alte Arbeit wie gewohnt fortsetzen und Neues zusätzlich tun. Dies geht weit über unsere Kräfte". Wir können die alte Arbeit nicht wie gewohnt fortsetzen, da sie nicht mehr funktioniert, wenn man sie auf die Erfordernisse der heutigen Gesellschaft und die Zukunft reflektiert. Soziologische, physio-neurotische und psychologische,Veränderungen der Kinder, kulturelle und ökonomisch-politische Gesellschaftsveränderungen und last not least eine lebensbedrohende weltweite ökologische Krise zeugen zweifelsfrei hiervon. Zudem wird Schule in ihrer herkömmlichen Form ohne die geringste Chance des Erfolgs mit allen Problemen zugeschüttet, die die Gesellschaft zur Zeit nicht lösen kann. Sie werden nur mit dem Begriff "Erziehung"

 

kombiniert, etwa wie "Verkehrserziehung“, "Umwelterziehung" oder "Friedenserziehung". Mit der "alten Arbeit" ist hier nichts, aber auch gar nichts mehr zu lösen. Selbst wenn alle Lehrerinnen bereit waren, diese "alte Arbeit" nicht mehr weiterzuführen, - ich wette, das 98% aller Lehrerinnen die obige Einschätzung. teilen oder nachvollziehen können - ,ginge dies nicht' Eine "neue Arbeit" hat einen vollkommen anderen Charakter als die "alte", sie hat vollkommen andere Strukturen, sie ist mit der "alten" nicht vergleichbar.

 

GRENZEN DER VERÄNDERUNG

Oder um es am Beispiel der Freinetpädagogik zu sagen: Freinetpädagogik ist nicht mit den Mitteln einer lernzielorientierten herkömmlichen Pädagogik erklärbar. Sie hat ein vollkommen anderes Muster, so wie ein lebender Organismus anders funktioniert als eine Computersimulation.

 

Und selbst, wenn Lehrerinnen dies kapieren, werden sie sich hüten, die “alte Arbeit" aufzuhören, weil sie mit ihrer gesamten Persönlichkeit Bestandteil dieses Systems geworden sind. Ihre Identifikation funktioniert nur unter den Bedingungen der alten Arbeitsweise. Wer begibt sich schon in die Situation zu erklären: "Alles was ich bisher tat, war schlecht".

 

TRAUERARBEIT

Daher versuchen viele Kolleginnen, die intellektuell und emotional zu einer Veränderung von Schule bereit sind, unter Umgehung der Gefahr schwerster persönlicher Identifikationskrisen, die

 

"neue Arbeit" zusätzlich zu leisten. Sie lassen das "Alte" nicht sein und wollen das “Neue" erproben.

 

Die Beantwortung der Frage, ob dies geht, ist müßig. Wichtig scheint mir die Beobachtung, dass viele dies aufgeben, da sie dieser Arbeitsbelastung nicht standhalten und/oder die "neue Arbeit" nur wieder mit "Altem" auffüllen. Viele haben ihre Versuche übrigens auch viele von uns, obwohl es Kooperativen, Treffen, Erfahrungsaustausch und Freundschaften gibt. Die Gefahr des "Burn-outs" ist bekannt. Die tägliche Unterwanderung von Veränderungen, das heimliche Aufgeben, Wiederverschließen der Klassentür, ist nicht so spektakulär, aber häufiger.

 

Politische Bedingungenin Deutschland, wie etwa die Nichteinstellung 10.000er Lehrerinnen bei gleichzeitigem Bedarf in den Schulen, wie die geringe politische Unterstützung der Schulen allgemein, verschlimmern das subjektive Gefühl einer objektiven Überbeanspruchung.

 

NEUES IM ALTEN

Aber eben im "alten Arbeiten" haben alle Lehrerinnen Fähigkeiten entwickelt. Sie alle können etwas! Wir sind eben keine perfekt funktionierenden Einzelteile einer großen Maschine. Wir haben pädagogische Sternstunden, Aha – Erlebnisse, Erfolge und Freue# am Lernen kennen-gelernt, sie haben immer wieder die Dinge so gemacht wie sie (!) es am besten (!) konnten und wenn diese Dinge durch "Fehler", ( hier folge ich Piagets Vorstellung, das Lernen nur durch Fehler stattfindet), entstanden sind. Hier sind im Alten 1OOOe Keimzellen für eine neue Pädagogik, die aber nicht in zusätzlicher Arbeit transplantierbar sind. Wir können nur im alten Platz schaffen, indem wir tote Teile, Überflüssiges abstoßen.

 

Das Verständnis für eine Definition des "Überflüssigen“ war relativ leicht. Alle wissen, dass es diejenigen verschulten Formen des Lesen, Schreibens und Rechnens sind, unsinniger Drill und Üben, die lernzielorientierte Vorbereitung auf weiterführende Schulen, aber auch Unterricht, weniger "unter Beobachtung“ steht wie wie Kunst, Sachunterricht oder Musik.

 

NICHT MEHR AUF KONFERENZEN

Unsere Konferenzarbeit haben wir wie folgt verändert: Organisatorische Fragen werden bis auf wenige Ausnahmen außerhalb von Konferenzen gelöst. Die Behandlung aktueller Fragen der täglichen Pädagogik blocke ich ab ( ! ), wenn es sich um zusammenhanglose Einzelaktionen handelt. Aus meiner Erfahrung werden Dinge beschlossen, die nicht erfolgreich sein können oder gar gegen die Schüler gerichtet sind, etwa wie der Erlass einer Schulordnung unter Beteiligung der Schüler, Pausenregelung, Wände anmalen oder sonstiges aus dem Verzweiflungsrepertoir von Schulen.

 

Ich meine jene Maßnahmen, die an Symptomen herum kurieren, oder mir beweisen sollen, das die Ursachen nicht veränderbar sind. Langfristig möchte ich die Behandlung pädagogischer Alltagsunternehmungen im Mittelpunkt des Konferenzen sehen.

 

TEILBARE WERTE

Gewöhnliches Unterrichten stabilisiert Aggressivität und Hierarchie, Ein Unterricht, der die Kinder als kompetente Lerner im Besitz der vollen Menschenrechte sieht, fordert eine demokratische Kommunikation und Kooperation. Aber dies wird erst in dem Maße möglich, wie die Kollegen zu sich und ihren Fähigkeiten, zu einer transparenten Arbeitsweise zu einer kooperativen Identität als sich selbstorganisierendes Kollegium finden. Stattdessen war der Start für uns die Frage:"Weiche Werte und Ziele hat jeder Einzelne von uns bei unserer unterrichtlichen Tätigkeit?" Wir haben diese "Werte" aufgeschrieben, an die Wand gehängt, uns angeguckt und festgestellt, dass wir alle alle Werte der anderen, nicht nur respektieren, sondern teilen (!) können. Die Überraschung war groß, da die weltanschauliche Konstellation des Kollegiums, als auch die Verschiedenheit der Lehrpersönlichkeiten, dies niemals erwarten lassen konnten. Für einige war es ein regelrechter Lähmungsschock, da sie aus Erfahrung heraus auf ein wildes ideologisches,Diskussionsgemetzel eingestellt waren. So aber blieben diese “gemeinsamen Werte" wochenlang im Lehrerzimmer hängen, wahrend wir als Hausaufgabe das Buch "Denken, Lernen, Vergessen" von Frederic Vester lasen.

 

FORTBILDUNGSARBEIT - ARBEITSFORTBILDUNG

Parallel gab es eine Arbeitsgruppe seit Beginn des Schuljahres, an der sich die Hälfte der Kolleg-innen beteiligte. Hier geschahen vor allem drei Dinge: Obwohl ich nicht verteidigen wollte, musste

 

ich ständig meinen Freinetunterricht, der im Dorfe nun wirklich etwas Neues war, verteidigen. Mit der Zeit habe ich gelernt, dies nicht mehr zu tun, da allmählich auch die Kooperationsregel griff: "Das ist meine Art des Unterrichts, es muss nicht die Ihre werden, aber sie können alles über meinen Unterricht von mir erfahren“.

 

Zum zweiten schlachteten wir heilige Kühe, wie etwa die "Freiarbeit" in Dosen- und Regalform, den,"Wochenplan" als Lehrer*innenerlasse und "die Reformpädagogik" als Allheilmittel für die Schule. Stattdessen arbeiteten wir uns durch Formen des handlungsorientierten Lehren und Lernens, natürlich freinetisch. Die verschiedenen Strategien der schüleraktiven Unterrichtsmöglichkeiten erprobten wir in kurzen Lehrgängen, um dann zu überprüfen, wo unsere bisherigen Ansätze im Unterrichts bereits waren, und wo wir was übernehmen konnten.

 

Lernen mit ALLEN SINNEN

Als Vester gelesen war, fassten wir gemeinsam schriftlich an der Wand zusammen, was wir aus dem Buch behalten, oder gelernt hatten. Nun ergab sich zum ersten Male die Bereitschaft gemeinsam einen Lernschritt zu tun, weil die Analyse Vesters Mut zur Veränderung macht und die Kolleginnen selbst eine Frage entwickelt hatten: "Wie funktioniert dieses Lernen mit allen Sinnen?". Wir organisierten eine ganze Woche, die wir "Fortbildung für Schüler, Lehrer und Eltern" nannten und die an der Arbeitsweise eines Freinettreffens orientiert war. In verschiedenen Ateliers arbeiteten Lehrer, Schüler und Eltern praktisch und theoretisch an den einzelnen Sinnen des Menschen, der auditiven, visuellen, kinästhetischen, vestibu1aren,der taktilen, der Geschmacks- und Geruchs, der suggestiven, aber auch der sekundären Medienwahrnehmung.

 

Gearbeitet wurde mit den Mitteln des freien Ausdrucks in Theater, Tanz, Schattenspiel, Schreiben, Malen, Musizieren, etc., als auch in tastenden und experimentellen Versuchen. Mit einem öffentlichen Ausstellungstag wurde das Projekt abgeschlossen.

 

BEWEGUNGEN

Hier funktionierte (zum ersten Mal) , das alle Menschen, Schüler, Eltern und Lehrer ihre Fähigkeiten einbringen konnten, dass alle wirklich lernten, weil Lehrer keine Scheinfragen stellen konnten,sondern eigenen Fragen, als auch Fragen der Schüler nachgehen mussten. Die wissenden Spezialisten waren mehr die Eltern. Entscheidend war allerdings, das die Kollegen, zumindest eine Ahnung von einem anderen Lernen bekommen hatten. Sie erlebten, dass sie sie selbst zu einer anderen Art der Schule fähig sind. In der Folge dieses Projekts begannen 2 Kolleginnen ihren Unterricht ganz konkret zu verändern, andere arbeiteten scheinbar um so verbissener auf ihre alte Art.

 

UNRUHE DURCH NEUE

Das erste Jahr meiner Arbeit ging zu Ende. Im neuen Schuljahr kamen zwei neue Kolleginnen, „Berufsanfänger”. Sie wirbelten alles durcheinander. Mein Schulleiter hing der Theorie an, dass die Neuen sich an die Alten anpassen mussten und, dass wir solange abwarten sollten, also, die begonnene Arbeit mit dem gesamten Kollegium ruhte. Er ließ sich hiervon nicht abhalten, so kam es zu erheblichen Spannungen, Konfrontationen und Gruppenbildungen.

 

So musste ich für fast ein halbes Jahr die Strategie meiner Arbeit verändern, ich konzentrierte mich einerseits auf die Arbeit in meiner Klasse, die ich noch öffentlichkeitswirksamer gestaltete, andererseits auf jene Kolleginnen, die anders arbeiten wollten, die beiden aus dem alten Team und die beiden Neuen. Wir veränderten den Stundenplan, so dass ich in meiner und in ihren Klassen arbeitete.

 

UNTERRICHTSKOOPERATION

Hier plante und konkretisierte ich gemeinsam mit ihnen eine andere Arbeit. Ich macht einerseits meinen Unterricht vor, andererseits versuchte ich die Fähigkeiten der Kollegen in Richtung unserer Pädagogik zu verstärken. So wurden Kreisarbeit, Klassenrat, Planungsarbeit, Freie Texte und verschiedene Formen des freien Ausdrucks und des entdeckenden, als auch des ganzheitlich wahr nehmenden Lernens eingeführt. Zwei der Kolleginnen kommen bereits regelmäßig zu Treffen unserer Freinetgruppe und besuchen unsere Fortbildungen.

 

UND WIEDER WERTE

Nach heftigen Auseinandersetzungen in der Schulleitung, wurde die Arbeit nach Monaten wieder aufgenommen. Als erstes machten wir wieder eine Konferenz zur Bestimmung unserer Grund-werte, da die alten ja wohl durch neue Leute "an Wert verloren" hatten. Wir setzten uns also hin und schrieben auf Cardboards unsere Werte und Ziele des Unterrichtens auf. Diese wurden an die Wand gehängt und dann von allen gelesen. Nun konnten Fragen zum Verständnis gestellt werden. Die Schreiberinnen können, ihre Werte erklären oder möglicherweise umformulieren. Niemals (!) geht es darum zu diskutieren, ob ein Wert richtig oder falsch ist, es geht nur um das Verständnis. Wenn Jemand in der Runde den Wert einer anderen nicht teilen kann, wird dieser zur Seite gehängt. Es ist ein von allen geteilter Wert, er bleibt dort hängen. Bei uns gab es einen zur Seite gehängten Wert: Eine Kollegin sah die „Bestrafung von Schülern“ als Wert. Er hing einen Tag an der Seite, dann verschwand er. Die anderen Werte hängen heute noch:

  • Selbständiges, selbsttätiges Lernen

  • Selbständiges Arbeiten

  • Selbstorganisiertes Lernen

  • Eigeninitiative

  • Freude am Erfolg, am Unterricht,

  • am Lernen, am Leben

  • Spaß am Lernen

  • Fremde Motivation

  • "Hilf mir, es selbst zu tun"

  • Selbstbewusstsein

  • Transparenz für Eltern und Kollegium

  • Konzentrationsfähigkeit

  • ruhiges konzentriertes Arbeiten

  • Lernbereitschaft

  • Ruhe zur Vertiefung

  • Aufnahmefähigkeit

  • Kooperationsfähigkeit

  • Bereitschaft zur Zusammenarbeit

  • Austausch

  • Zusammenarbeit zwischen Kindern, Eltern und Schülern

  • Aufgaben verbindlich übernehmen

  • Klasse als Gemeinschaft

  • Zusammenarbeit unter Kollegen

  • Erfahrungs- und Materialaustausch

  • Rücksicht nehmen

  • Ordnung

  • Pflichten gegenüber anderen

  • klarmachen

  • Sich für andere einsetzen

  • Erziehung: Grenzen definieren

  • Würde

  • Gerechtigkeit

  • Sicherheit und Selbständigkeit in Kulturtechniken

  • Die (natürliche) Neugierde wecken, fordern und "befrieden"

  • Bildung vermitteln

  • Kulturtechniken vermitteln

  • Wissen um Konkurrenzsituationen,

  • Prüfungen in Schulen und Beruf zu bestehen.

  • Erkenntnisfähigkeit

  • Altes erhalten können. Neues schaffen können

  • Wissensvermittlung

  • unter moralischen Aspekt (z.B. unsere religiöse Wertung

  • demokratische Grundeinstellung einbeziehen.

 

KOMMUNIKATION

In der folgenden Konferenz, einen Monat später, forderte ich alle Kolleginnen auf, in einer Zeichnung auf einem großen Bogen Papier darzustellen, was ihnen zur Zeit an der Schule, im Kollegium am wenigsten gefallt. Nach einer halben Stunde hängten wir die Zeichnungen an die Wand. Jede konnte ihre Zeichnung erklären, andere konnten Fragen stellen oder auch interpretieren, was sie sahen. Das Ergebnis war verblüffend: Alle beschrieben als Missstand, was sie sich wünschten, aber noch nicht zu Ihrer Zufriedenheit erreicht war. Alle wollten mehr Kommunikation und Kooperation.

 

Zwei Dinge wurden sofort konkretisiert: Unsere Lehrerzimmer wurden so umgebaut, dass wir mehr Platz hatten und der schulinterne Arbeitskreis, der im letzten Jahr alle 3 Wochen stattgefunden hatte, fand nun wieder statt und zwar wöchentlich in der Stundentafel. 7 von 12 Kolleginnen nehmen daran

 

SELBER LERNEN – VERÄNDERN

teil. Zum ersten widmeten wir uns dem Schreiben freier Texte und die Kolleginnen erprobten

sie wirklich in den Klassen. Im nächsten Schritt werden wir uns mit der Einrichtung von Ateliers beschäftigen. Auf der Konferenzebene befassen wir uns nun mit der Frage des größten Leidens der Lehrerinnen, nämlich dem Verhältnis zu den Schülern, zu Fragen der "Lernschwierigkeiten", "Wahrnehmungsstörungen" und der sozial bedingten "psychischen Verwahrlosung" von Schülerinnen laden wir kompetente Kolleginnen ein, die wissenschaftliche Erkenntnisse mit veränderten Unterrichtspraxis verbinden können. Ich versuchte so den Kolleginnen zu vermitteln, das sie keine Versager oder Schuldige sind, wenn sie mit einer zunehmenden Zahl von Schülerinnen nicht mehr klarkommen, dass nicht Schülerinnen Versager oder Schuldige sind, die "gestört" oder "schwierig" sind. Sie sollen vielmehr einerseits befähigt werden, die gesellschaftlichen Ursachen (Medien, Zerfall der Familien, umweltbedingte „Krank“heiten, etc.) zu kennen, andererseits zu erkennen, das nicht zunächst die Verhältnisse verändert werden müssen, sondern ihr Unterricht ein anderer werden kann, wo vor allem freinetische Werkzeuge ("outils") genutzt werden können. Sie können also erkennen, das es eine zentrale Störung gibt und diese ist die Kommunikationsstörung zwischen Lehrern und Schülern. Nur wer den Kindern ihre Wahrnehmung lässt, ihnen das Wort gibt, sie auf ihre Art und Weise lernen lässt, hat die Chance sie zu verstehen. Die Kinder haben dann auch die Chance zu verstehen, was ein Lehrer kann, was sie zum Lernen anbieten können.

 

Dies ist mit unseren Wegen der Kooperation und unseren unterrichtlichen Werkzeugen möglich. Ich biete zur Zeit den Kolleginnen diese intellektuelle Erkenntnis an bei gleichzeitiger eigener kooperativer Praxis und Gebrauch unserer Werkzeuge und Techniken, auf dem Weg eines sich selbst organisierenden Kollegium.

 

Hier muss ich meinen Bericht abbrechen, weil dies der Stand der Dinge heute im zweiten Jahr der Arbeit ist.

 

Und in der Freinetklasse geht die Arbeit weiter.

 

Es ist nicht das Produkt der Arbeit, das vorher bekannt ist, es ist vielmehr der Prozess, der die Produkte hervorbringt, wenn ich Zeit habe, bekannte Wege zu gehen, vor Neuen scheue ich mich nicht.

 

Literatur:

 

fehlt hier!