Falko Peschel

 

Offener Unterricht in Theorie und Praxis

 

 

 

Montagmorgen, kurz nach 8 Uhr. Pia ruft laut „Kreis“ in die Klasse. Die seit rund einer halben Stunde eingetrudelten Kinder des dritten Schuljahrs finden sich daraufhin im Sitzkreis ein, der fest in einer Ecke des Klassenraums installiert ist. Da Pia schon zwei Tage als „Kreisleiter“ dran war, bestimmt sie den sich meldenden Bodo als neuen Kreisleiter. Bodo fragt zuerst, ob jemand etwas Wichtiges zu sagen hat. Mehrere Kinder und der Lehrer melden sich. Bodo nimmt zuerst Harald dran, der sagt: „Ich will was abstimmen. Wer ist dafür, dass wir heute beim Turnen Völkerball spielen?“ Die Mehrzahl der Kinder ist dagegen. Ines zeigt auf und sagt, dass sie lieber freies Turnen macht, weil dann diejenigen, die etwas zusammen machen wollen, das machen können, aber nicht alle Völkerball spielen müssen. Lutz wirft ungefragt ein, dass man für Völkerball aber die ganze Turnhalle braucht und man dann kein Völkerball spielen kann.

 

 

 

Eine Diskussion entbrennt, die Bodo nach einem vergeblichen „Ruhe!“ in den Griff bekommt, indem er Kinder, die sich nicht gemeldet haben, einzeln anspricht. Sabine schlägt vor, verschiedene Möglichkeiten für das Turnen an der Wandtafel im Kreis zu sammeln. Nachdem das geschehen ist, einigt man sich durch Abstimmung darauf, dass heute freies Turnen stattfindet und dafür nächste Woche die Hälfte der Sportdoppel-stunde Völkerball gespielt wird. Nachdem noch andere Kinder für sie wichtige Sachen berichtet oder zur Abstimmung gebracht haben, kommt schließlich auch der Lehrer dran. Er spricht den Kreisleiter an: „Bodo, wir müssen mal überlegen, wann wir die Vorträge von Carlo und Fedor machen. Jetzt ist relativ wenig Zeit – nur noch bis zur Pause. Wäre die Frage, ob man jetzt nicht lieber ein bis zwei Vorträge macht, dass man danach dann die Stunde zum Arbeiten zur Verfügung hat.“

 

 

 

Die Resonanz der Kinder ist ablehnend, sie hätten auch so noch genug zu tun. Also macht Bodo eine „Runde“, in der jedes Kind vor dem Verlassen des Sitzkreises kurz sagt, was es heute arbeiten will: Michael möchte schwierige Rechenaufgaben angehen, Sabine möchte in ihrem selbst verfassten „Bibi-Bloxberg-Buch“ weiter schreiben, Lars möchte mit Mehmet einen Vortrag über das Kriegsgeschehen im Nahen Osten vorbe-reiten und Kai und Meike wollen an ihrer Wetterstation weiterbauen ... Und im Nu sind alle in der Klasse und auf dem Schulgelände verteilt und mit ihren Vorhaben beschäftigt. Nach der „Rausgehpause“ bitten Caterina und Steven den Kreisleiter Bodo, einen „Vorstellkreis“ einzuberufen. Caterina möchte ihre neuste Mathematikerfindung präsentieren und Steven über seine Beobachtungen der mitgebrachten Frösche berichten.

 

 

 

Bodo ruft die Kinder zusammen, aber lässt auch Ausnahmen zu. Wer lieber an seinen Sachen weiter arbeiten möchte, kann das mit ihm absprechen. Zuerst möchte Carlo seinen Vortrag über „Wale und Haie“ halten.

 

 

 

Während des Vortrags nimmt Carlo Kinder dran, die Fragen haben. Einige Kinder ergänzen seine Ausführungen auch selbst. Als darüber spekuliert wird, wie viel ein Blauwal in der Woche etwa trinkt – vielleicht 2000 Liter? – spricht Ines den Lehrer an, der sich mit Hospitanten außerhalb des Kreises befindet: „So viel Wasser??“ Der Lehrer muss zugeben: „Ich hab nicht zugehört gerade ...“ Ines kommentiert: „Oh, du hörst ja nie zu!“ Der Lehrer versucht sich rauszureden: „Ja, ich bin ja auch abgelenkt. Die hängen da irgendwas auf und du redest da ...“ Ines macht einen neuen Versuch: „Also, ich habe gefragt, wie viel Wasser der Blauwal ungefähr in einem Tag oder in der Woche trinkt.“

 

 

 

Danach versucht der Lehrer seine Idee zum Thema auszuführen, sagt aber auch, dass er das selbst nicht so genau weiß ... Nachdem die Kinder, die wollten, ihre Produkte vorgestellt haben, fragt Bodo kurz nach, ob jemand nichts zu tun habe, worauf alle Kinder den Kreis verlassen. Neben dem Weiterführen der morgens begonnenen Arbeiten sind durch die neuen Anregungen weitere Kleingruppen entstanden, die sich direkt im Anschluss an das Treffen intensiver mit einer Sache auseinandersetzen wollen.

 

 

 

Rechtzeitig vor Ende des Schultages ruft Bodo alle noch einmal für den sogenanntenSchlusskreis“ zusammen, in welchem einige Kinder noch einmal Ergebnisse oder Fragen präsentieren, dann aber alle der Reihe nach kurz berichten, mit was sie sich am Tag beschäftigt haben. Dabei bewerten sie ihre eigene Leistung mit einem selbst erdachten System, das von „Super“ und „OK“ über „ich hätte heute mehr schaffen können“ bis hin zuwar heute nichts los mit mir“ geht. Man hat dabei den Eindruck, dass die Kinder sich dabei fast schon zu ehrlich bewerten – und zwar ohne Druck von außen, denn ob jemand arbeitet oder nicht, bleibt letztendlich ihm selbst überlassen.

 

 

 

Offener Unterricht in der Evaluation

 

Bei dem gerade vorgestellten Unterricht handelt es sich nicht etwa um eine die Zeit bis zu den Ferien überbrückende Projektwoche und auch nicht um einen radikalen Schulversuch irgendwelcher pädagogischer Utopisten. Nein, es handelt sich um ein vom ersten Schultag in einer Regelschule praktiziertes Unterrichtskonzept, das die in den gängigen Richtlinien und Lehrplänen von NRW formulierten Prinzipien in einer Weise ernst nimmt, wie sich das im Schulalltag kaum jemand traut.

 

 

 

Ob es sich dabei um ein „Unterrichts-“Konzept handelt, ist lediglich deshalb strittig, weil bei dieser Art von Schule nicht mehr „unterrichtet“ wird. Die Unterrichtszeit zeichnet sich dadurch aus, dass die Schüler sich ihr Lernen bzw. ihren Schultag nicht nur selber einteilen können, sondern dass auch keine Lernwege oder Lerninhalte vorgegeben werden – und in der Folge auch keine Lehrgänge oder Arbeitsmittel.

 

Das „weiße (leere) Blatt“ ist Hauptarbeitsmedium im Unterricht und wird ergänzt durch „Werkzeuge“: eine Buchstabentabelle zum Schreibenlernen, ein Wörterbuch zum Nachschlagen, ein Punktefeld als Strukturierungshilfe zum Rechnen, Sach- und Geschichtenbücher zum Lesen und Forschen usw.

 

Diese Art von Unterricht provoziert – und zwar nicht nur, weil hier dem gängigen Bild von Schule widersprochen wird, sondern vor allem deshalb, weil hier die in der Theorie so oft genannten, aber in der Praxis selten ernst genommenen Prinzipien guten Unterrichts konsequent umgesetzt werden. Deshalb stellt sich die Frage, welche Wirkungen ein solcher von den Kindern getragener Unterricht ohne Lehrgänge und Schulbücher hat.

 

 

 

Es ist zwar mit der Evaluation einer Schulklasse nicht möglich zu beweisen, dass die praktizierte Unterrichtsform generell besser ist als andere Lehr-/ Lernformen, aber zumindest das Potential des Ansatzes kann nachgewiesen werden – und damit lassen sich Allgemeinurteile (z. B. dass offener Unterricht zu Nachteilen im fachlichen Wissen und Können führt) widerlegen.

 

 

 

Dazu wurde der gerade kurz umrissene Unterricht über alle vier Grundschuljahre hinweg ausführlich dokumentiert und evaluiert – wobei u. a. gezeigt werden konnte, dass die Stichprobenauswahl in der Verteilung wesentlicher Merkmale nicht vom „Durchschnitt“ abweicht, so dass die Erfahrungen auf Regelklassen übertragbar erscheinen. Vor allem wenn man die Kinder betrachtet, die ihre ganze Schulzeit in der Klasse verbracht haben, also nie auf herkömmliche Weise „unterrichtet“ worden sind, ergeben sich beein-druckende Resultate, die im Folgenden kurz für die Bereiche Schreiben/ Rechtschreiben, Lesen und Rechnen wiedergegeben werden: Rechtschreiben.

 

 

 

Im Gegensatz zu üblichen Formen des Rechtschreibunterrichts mit hohen Anteilen des Einübens von Wörtern, Regeln etc. ist das Rechtschreiblernen im oben beschriebenen Unterrichtskonzept ganz in das freie Schreiben und Lesen integriert. Es geht also um die Überprüfung der These, dass Rechtschreiben nicht explizit gelehrt werden muss, sondern als ein vornehmlich beiläufig erfolgender Prozess impliziter Musterbildung des Einzelnen erfolgt, der in einer entsprechenden Lernumgebung auch ohne Unterrichten ablaufen kann: Während die Kinder nach einem Monat im Durchschnitt gerade den Anlaut eines Wortes verschriften können, sind sie nach knapp einem halben Jahr Schule in der Lage, weitgehend lautgetreu zu schreiben.

 

 

 

Im normierten Rechtschreibtest (Hamburger Schreib-Probe) ergeben sich vom Ende des ersten Schuljahrs bis in die weiterführende Schule Prozentränge, die mit Durchschnitts-werten zwischen 56 und 73 hochsignifikant über dem Mittelwert der Eichstichprobe liegen.

 

 

 

Lediglich ein Asylant aus Bosnien und ein anderer Junge mit sehr unterdurchschnitt-lichem Intelligenzquotienten bewegen sich länger unterhalb des mittleren Prozentrangs 50, liegen aber immer noch im Mittelfeld und schließen die Grundschulzeit mit Prozentrang 34 ab.

 

 

 

Lesen

 

Die Kinder lernen ohne expliziten Leseunterricht im ersten Schulhalbjahr lesen und können alle zum Ende des Schuljahrs fremde Texte zumindest ohne zu stocken vorlesen. Zum Ende des zweiten Schuljahrs lesen nur zwei Kinder noch nicht ganz flüssig, wobei eines auch Probleme mit einem sinnbetonten Vorlesen hat (der Asylant aus Bosnien).

 

 

 

Zum Ende der vierten Klasse können alle Kinder flüssig und sinnbetont vorlesen und erreichen im „Wort-Test O40“ die höchste Stufe der Lesegeschwindigkeit bzw. Lesesicherheit, womit sie sich hochsignifikant von der Eichstichprobe unterscheiden. Das viel wichtigere Leseverständnis wird im vierten Schuljahr mit dem „Hamburger Lesetest“ erhoben. Dabei müssen Fragen zu Texten unterschiedlicher Schwierigkeit und Art, von Geschichten bis hin zu Sachtexten, Tabellen, Anleitungen und anderen Gebrauchstexten richtig beantwortet werden.

 

 

 

Ende des vierten Schuljahrs befinden sich die Kinder im Durchschnitt vor dem Übergang zur – auch für Erwachsene geltenden – höchsten Lesestufe, d. h. sie können mehrere Informationen bzw. Handlungs- oder Hintergrundmotive zum Beantworten der Fragen kombinieren und rekonstruieren. Insgesamt liegt die Klasse sogar im Durchschnitt mit Prozentrang 77 im oberen Bereich und unterscheidet sich hochsignifikant von der Eichstichprobe. Nur der Asylant aus Bosnien und der schon oben genannte andere Junge liegen unter dem Durchschnitt, befinden sich aber mit Prozentrangwerten von 27 und 39 noch im Mittelfeld.

 

 

 

Rechnen

 

Gerade beim „Rechnenlernen“ werden vielfach Unterrichtsmerkmale, die eher lehrerzentriert bzw. lehrergesteuert erscheinen, als effektiv betrachtet (SCHOLASTIK-Studie). Als durchgängiges Messinstrument wird in der hier untersuchten Klasse ein eigens entwickelter Überforderungstest eingesetzt, der inhaltlich nicht nur auf den im jeweiligen Schuljahr beschränkten Zahlenraum bzw. die dann üblichen Operationen begrenzt ist, sondern immer schon Aufgaben aus den nachfolgenden Schuljahren enthält.

 

 

 

Dabei zeigt sich, dass die Kinder zu allen Testzeitpunkten schon Stoff beherrschen, den sie im Bezug auf den Zahlraum bzw. die Operationen und Verfahren eigentlich noch nicht können müssten. Bis auf ein Mädchen ohne mathematische Vorkenntnisse und mit einem Intelligenzquotienten, der (eigentlich) auf eine Lernbehinderung hinweist, liegen alle Kinder immer über den Lehrplananforderungen.

 

 

 

Im Bereich der Addition haben die Kinder fast über die gesamte Grundschulzeit einen Vorsprung von rund anderthalb Schuljahren. Kein Kind liegt irgendwann unter den Anforderungen. Im Bereich der Subtraktion beträgt der durchschnittliche Vorsprung vor dem gängigen Lehrplan rund ein Schuljahr und nur das genannte Mädchen liegt zu zwei Messzeitpunkten ein halbes Schuljahr unter den Anforderungen.

 

 

 

Bei der Multiplikation schwankt der Vorsprung gegenüber den Lehrgangsinhalten zwischen einem dreiviertel und einem ganzem Jahr und auch hier liegt nur das Mädchen zu einzelnen Messezeitpunkten unter den Anforderungen.

 

 

 

Die Division ist für die Kinder wohl die schwierigste oder auch alltagsfernste Operation, sie spielt eine eher untergeordnete Rolle. Im Schnitt liegen die Schüler bei der Division trotzdem ungefähr ein halbes Schuljahr vor dem Lehrgangsstoff. Nur das mathematikschwache Mädchen befindet sich hier bis zum vierten Schuljahr kontinuierlich unter den Ansprüchen.

 

 

 

Diese positiven Ergebnisse im Bereich der Arithmetik werden durch zusätzlich durchgeführte Erhebungen und Normtests bestätigt, die auch andere mathematische Bereiche umfassen.

 

 

 

In allen Tests liegen die Ergebnisse der hier beschriebenen Kinder vergleichsweise hoch, oft sogar als Durchschnittswert schon im oberem Bereich der Eichstichproben (PR 75-100).

 

 

 

In einer Nachuntersuchung mit Aufgaben der TIMS-Studie schnitt die Klasse als beste Klasse aller getesteten Klassen ab. Dabei liegt sogar die mathematikschwache Schülerin auf Prozentrang 61, alle anderen Schüler erreichen mindestens Prozentrang 88.

 

 

 

Weiterführende Schule

 

Von den Kindern, die ihre ganze Grundschulzeit in der hier beschriebenen Klasse verbracht haben, wechseln trotz der durchschnittlichen Eingangsvoraussetzungen drei Viertel auf das Gymnasium, kein Kind geht auf die Hauptschule. Neben diesen positiven Ergebnissen, die das Konzept eines (radikal) offenen Unterrichts auch den „schwächeren“ Kindern ermöglicht, war vor allem die Entwicklung von Kindern verblüffend, die als eigentlich nicht an der Regelschule beschulbar diagnostiziert wurden.

 

 

 

Diese haben nach dem Wechsel in die hier beschriebene Klasse – durch den Verzicht auf Belehrung und „Unterrichten“ – Zeit und Möglichkeit bekommen, einen Zugang zu ihrem eigenen Lernen zu finden. Auch sie sind alle an der Regelschule verblieben und trotz diagnostizierter Lernbehinderung oder Erziehungsschwierigkeit nach der Grundschule auf Gymnasium, Gesamtschule oder Hauptschule gewechselt.

 

 

 

Diese Befunde könnten darauf hinweisen, dass viel mehr Wert auf eine konsequentere Umsetzung der „hehren“ pädagogisch-didaktischen Prinzipien gelegt werden muss – auch wenn die Schulwirklichkeit noch weit von dieser Art von Schule entfernt zu sein scheint. Von daher sollten solche an der Universität vermittelten Konzepte nicht als praxisferne Utopien angesehen werden, sondern als Herausforderung für jeden angehenden Lehrer, sich mit diesen Prinzipien und vor allem dem dahinter stehenden Menschenbild wirklich auseinander zu setzen.

 

 

 

Jeder Lehrer kann und sollte die angebotenen Theorien vor seinem eigenen Hintergrund prüfen und sein eigenes Konzept „guten“ Unterrichts entwickelnund sich nicht entmutigen lassen, wenn er dieses eben nicht schon als fertiges, einfach adaptierbares Modell in seiner Ausbildung bzw. in der Schulpraxis präsentiert bekommt.

 

 

 

Das vorgestellte Unterrichtskonzept wird ausführlich beschrieben in: Peschel, Falko: Offener Unterricht – Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion. Teil I: Allgemeindidaktische Überlegungen. Teil II: Fachdidaktische Überlegungen. Baltmannsweiler (Schneider Verlag Hohengehren) 2002

 

 

 

Zur empirischen Untersuchung siehe: Peschel, Falko: Offener Unterricht – Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept in der Evaluation. Baltmannsweiler (Schneider Verlag Hohengehren) 2003