Kritzeln mit Mühe

von Walter Hövel


Es gibt in meinen Klassen seit vielen Jahren kein „Fach Kunst“ als Unterricht. Die Kunst ist immer da, beim
Layouten oder Verzieren von Texten, beim Besuch am Fluss, beim Einmaleins-Begreifen in der Mathematik, als
reiner Zeitvertreib zwecks freiem freien Ausdrucks, im sachunterrichtlichen, englischsprachigen oder sonstwie
gearteten Projekten. Manchmal gibt es „echte“ Kunstprojekte, wo etwa verschiedene Ateliers mit den
verschiedensten Materialien oder nur Drucke berühmter Maler zwecks Kopieren angeboten werden.
In diesem künstlerischen Nicht-Unterricht sehe ich es als meine Aufgaben an.
♦alles zu unterstützen, was sich, im freien Ausdrücken der Kinder entwickelt, hier nicht einzugreifen, bevor eine
Entwicklung oder E.xpressionsphase ihr eigenes Ende gefunden hat.
♦Kindern immer wieder Tips zu geben, wie sie eigene Werke verbessern oder weiter entwickeln können, wenn sie diese Hilfe wollen können.
♦ihnen immer wieder Techniken und Materialien zu zeigen, die sie für ihren Ausdruckswillen nutzen können,
♦immer wieder Hilfsmittel anzubieten, die so einfach sind, dass jeder Mensch merkt, dass .jeder Mensch ein
Künstler“ ist.
♦immer wieder die Begegnung mit anderen Künstlern und Kunstwerken zu organisieren, denn jede
Überforderung im Anspruch wird die Kinder, wenn sie ohne Zwang arbeiten, wachsen lassen.
♦inmier wieder iur die Dokumentation, Ausstellung und Veröffentlichung von Kinderkunstwerken zu sorgen.
Eine Sache dabei ärgerte mich seit Jahren, nämlich jene Bilder „nüt Häuschen und Bäumchen und Wölkchen“ und natürlich der alles bestrahlenden Sonne am oberen Bildrand, oder noch schlimmer, jene Blümchen und Sternchen
und Prinzessinnen, die vor allem Mädchen aus Kasachstan und Kirgisien so schön malen können. Nie wagte iches.
ihnen hier „die Entwicklung des eigenen Freien Ausdrucks“ oder die Freude an „ihrer eigenen Kunst“ zu
nehmen, bis jemand anderes etw as tat und bei nur einen Knoten löste.
An unserer Schule finden viele Hospitationen statt und viele unserer Gäste lassen etwas Nettes.

Lehrreiches oder Brauchbares an unserer Schule zurück. Wir lernen von unseren Gästen

( weshalb ich wohl nie Schulleiter
verstehen werde, die Hospitieren als „Eigentlich-ist-es-doch-eine-Störung“ kanalisieren).
Als Paul le Bohec unsere Schule besuchte, ließ er ein kleines Geschenk zurück, dass zu einem für viele vielleicht
unbedeutendem, aber festen Bestandteil meiner täglichen Arbeit geworden ist.
Vor ihm sitzt ein Mädchen meiner dritten Klasse, cjie versunken ist beim Malen eines jener „kitschigen“
Blümchenbilder. Paul schaut ihr über die Schulter, hebt die Arme und empört sich laut auf französisch. Ich
verstehe nun selbst so gut wie kein französisch, aber ich meine verstanden zu haben: „Kind, wie kannst du nur so
malen! Das ist doch gar nicht dein eigener Ausdruck. Das übernimmst du doch nur als Klischee. Du musst
krickeln, einfach nur krickeln, das befreit!“, nahm ein Stück Papier und kritzelte einfach darauf herum und zeigte
es dem Kind. Dann muss er wohl etwas gesagt haben wie: „So, dass kannst du auch, mid viel besser als ich. Und
das kannst du jetzt selbst machen!“ Alle hatten ihre Blicke zu Paul und Margarete gewandt, alle hatten etwas
mitbekommen. Im später stattfmdenden Klassenrat wurde der Vorgang besprochen und beschlossen, dass nicht nur Margarete so etwas kann, sondern das alle „krickeln können, aber mit Mühe, danüt es etwas wird“.
Seither wird gekrickelt, ob im ersten oder vierten Schuljahr und zwar, so wie Paul’s Matheerfindungen (1) und die „Fragen zur Welt“ (2), auf jene kleinen Zettelchen der Telefon-Notizblocks (Hier in der Kopie verkleinert).
Es gibt ein kleines Holzkästchen, in die die fertigen Krickeleien von den Kindern abgelegt und gesarmnelt werden.
Von Zeit zu Zeit klebe ich diese auf Karton oder Tonpapier auf, mal geordnet in lO-mal-lO-Blocks, mal anders,
mal auf eine große Pappröhre, mal lege ich sie unter Glas, um sie als Bild aufzuhängen, mal dienen sie zur
Illustration von Texten.
Es entstehen immer ansehnliche Kunstwerke und, die Häuschen und Herzchen und Blümchen sind nicht nur
weniger geworden, sie werden mm eber „gekrickelt“ gemalt.
Wie so oft in der Freinetpädagogik: es ist eine kleine „Technik“ die befreiend wirkt, den Freien Ausdruck möglich
macht, in der Arbeit der Klassenkooperative.


( 1 ) Paul le Bohec, Verstehen heißt Wiedererfinden, Bremen 1994, zu beziehen bei: mopäd, Goebenstr.8, D-28209 Bremen
(2) Uschi Resch.Walter Hövel, Fragen zur W'elt, In: Tastendes Versuch. W'issenschaftliche Erkenntnis. Hrsg FLEK, W'ien 1996