Walter Hövel
Zum Klassenrat an der Hauptschule
von 1982, aufgeschrieben Anfang 1995

 

 

Warum mache ich eigentlich Klassenrat? Ich mache es nicht, weil es zur Freinetpädagogik gehört. Vielmehr gibt es da meine eigene Schulzeit und meine eigene Lehrergeschichte.

 

 

 

1982 bekam ich mitten im Schuljahr eine 9.Klasse an einer Kölner Hauptschule. Das ist heute 13 Jahre her. Die bisherige Klassenlehrerin hatte aus tiefsten Hauptschulfrust heraus ihre Versetzung zur Grundschule durch. Die Klasse 9b bestand aus 27 Menschen, einigen sehr freundlichen und willigen Mädchen und einer übergroßen Zahl Jungs. Das Auffälligste an der übergroßen Zahl Jungs war ihre außen olivgrüne und innen orangefarbene Bomberjacke und ihr dazu gehöriges Verhalten. Sie hatten Kontakt zur „R.A.F.“, der „Roten Armee Fraktion“, den Hooligens des 1. FC Köln, die sich so nannten. Diese wiederum waren von Neonazis unterwandert.

 

 

 

Für diese Jungs war Schule „Scheiße“. Sie saßen – wenn sie überhaupt kamen – in der Schule nur ihre Zeit ab. Schule bot ihnen nichts, weder Anerkennung, noch Raum für ihre psychischen und physischen Bewegungsansprüche, weder ihre Themen, noch etwas, was sie nicht unterfordert hätte.

 

 

 

Sie hatten wie viele dieser Klassen die Einstellung „Zwing mich doch“. Freiwillig taten sie nichts oder lässig, gezwungerner Maßen arbeiteten sie nur unter übelsten Protest und ständiger Kontrolle.

 

 

 

Als ich „Freies Arbeiten“ einführte, fragten sie mich „Was soll der Scheiß. Sie werden für Ihre Arbeit bezahlt, nicht wir, also bringen Sie uns gefälligst was bei.“

 

 

 

Ich hatte also die Wahl den Lehrer zu spielen, oder meine Ansichten von Menschrechten und selbstbestimmten Lernen durchzusetzen. Zu dieser Zeit war ich der Freinetbewegung frisch begegnet. Ich hatte von Ute Geuss, Rolf Wagner, Lilli Fehrrutter, Hannes Germann, Monika Bonheio, Wolfgang Mützelfeld und einigen anderen unter anderem etwas vom “Klassenrat“ gehört. Diese Form gefiel mir, aber noch mehr, was ich inhaltlich heraushörte:

 

 

 

'Hier müssen Menschen selbst lernen wie und was sie lernen. Sie übernehmen die Verantwortung für sich selbst. Sie organisieren die Gesamtheit ihrer Arbeit mit allem was dazu gehört selbst. Sie lernen zu erkennen, was möglich ist und was nicht. Sie lernen die Lautstärke, das Verlassen der Schule, das Thema, die Methode ihrer Arbeit, ihren eigenen Lerneifer, ihren gegenseitigen Respekt, die Art der Entscheidungsfindung, die Zeiteinteilung, die Sinngebung des eigenen Tuns, die Veröffentlichung, Umgang mit Misserfolgen, mit der Freundin, mit Anstrengungen, Lernerotik oder Blockaden.'

 

 

 

Meine Rolle ist diese Prozesse zu initiieren, zu helfen, selbst in diesen Prozeß, mit jeder Klasse immer wieder neu, einzusteigen, drin zu bleiben, nicht aufzugeben.

 

 

 

Es ist ein Kampf mit mir selbst. Immer wieder bin ich verführt, in die klassische Lehrerrolle, in die Spuren meiner eigenen Kindererziehung, in die Verhaltensweisen meiner eigenen Schüler-sozialisation oder das avantgardistische Klugscheißertum (Ich weiß, wo es lang geht) meiner politischen Gruppen- und Parteizeiten abzugleiten.

 

 

 

Dieses „ES KLAPPT NICHT“, also „MUSS ICH DOCH BESTIMMEN“ lauert in jeder Phase der Arbeit des Klassenrates. Umgekehrt gibt es auch die reformpädagogische Gefahr, 'die Kinder als die besseren Menschen' zu überschätzen. So kommt's zu selbstorganisierter Enttäuschung und zu Frust. Hier hat mir Janusz Korczak mit seinem sehr einfachen Gedanken, dass 'Kinder Menschen sind' sehr weiter geholfen. Es können eben diese Jungs in Bomberjacken genau so sein wie hoch opportunistische Mädchen, die bis zur Perfektion freinetisch arbeiten, die den pazifistischen Humansmus ihrers Lehrers schön an der richtigen Stelle nachbrabbeln.

 

 

 

Ich will's noch einmal an dieser 9b festmachen, die bereits 8½ Jahre des schulischen Lernens der pädagogischen Verkrümmung hinter sich hatte. Sie hatten verschiedene Strategien entwickelt mit diesem Schulalltag fertig zu werden – oder eben nicht. Esgab – im Groben- dieses schnelle Machen und Vorzeigen, dann Ruhe haben, was einige Mädchen praktizierten. Dann das Sich-Interessant-Machen als Schulgeschädigte, als die, die vom Leben so hart getroffen waren. Es gab die absolute Gleichgültigkeit, die z.B. zwei türkische Jungs demonstrierten, … bis hin zum Schläger-Fascho-Verhalten.

 

 

 

Ich wusste damals noch nicht, dass diese Verhaltensformen durch das Lernen selbst vom ersten Schultag an geformt werden. (Ich meine diese Verkackeierung, dass ich lerne, wie viel 1+1 ist, dass ich lerne „Oma“ zu schreiben, jetzt lernen wir den Buchstaben“l“, etc.) Ich wusste eben nicht, dass nicht nur die Form der Lernumgebung entwürdigend ist, sondern viel elementarer diese Didaktisierung der Inhalte.

 

 

 

Ich kannte nur, was ich schon in meiner eigenen Schulzeit erlebt hatte, Schule war durchgehend widerlich entwürdigend – und langweilig. Ich verstand diese Jugendlichen und ihren Bock auf nichts, weil Schule ihnen wirklich nichts bot.

 

 

 

Und nun saßen sie da, im Kreis, und hatten „Klassenrat“. Sie lauerten, glaubten nichts und niemanden.

 

 

 

Sie spielten (oder waren) empört. Dass sie nun selber arbeiten sollten. Sie erprobten mich, ihre MitschülerInnen und sich selbst. Sie strapazierten den Begriff „FREI“. Sie nutzten ihre neuen Rechte und stellten den Antrag, dass die „freie Arbeit“ wieder abgeschafft werden sollte und ich wieder „ordentlichen Unterricht“ zu geben hätte. Sie bekamen eine Mehrheit im Klassenrat für diesen Antrag.

 

 

 

Und wie ich unterrichtete! Wie ICH GELEHRT habe, mit aus der Bank treten, zum Lehrer „Sie“ sagen, mit vielen Hausaufgaben, Kontrollen, Nachhaken, Elterninformationen, Tests schreiben lassen, benoten, … Ich tat alles, was Lehrern so einfällt, wenn sie 'Stoff erfolgreich und fair im Unterricht vermitteln'.

 

 

 

Im nächsten Klassenrat kam natürlich der Antrag, das freie Lernen wieder als Arbeitsprinzip einzuführen. Aber die Befürworten einer harten Linie behielten die Nerven – und die Mehrheit. Ich ging mit dem Klassenrat weiter so um, wie mit einem Klassenrat umzugehen ist. Ich akzeptierte ihren Beschluss. Wir sprachen über die Inhalte der Arbeit, den Umgang damit, das Sozialverhalten, die psychischen Befindlichkeiten etc, etc. Nach zwei Wochen gaben sie auf. Die Mehrheit veränderten ihr Abstimmungsverhalten zugunsten der 'Freien Arbeit'.

 

 

 

Drei Jahre später begann ich ohne Mehrheitsbeschlüsse zu arbeiten. Ich kann mir gut vorstellen, dass Konsenzbeschlüsse auch zu positiven Ergebnissen geführt hätten. Aber vielleicht musste ich wegen meiner eigenen Glaubwürdigkeit den 'falschen' Mehrheitsweg gehen.

 

 

 

Die Resultate 'meiner' ersten Klasse mit Klassenrat blieben erfreulich. Die Mädchen kamen aus ihrer nur angepaßten Haltung heraus. Die 'Freie Arbeit' war ihre Arbeitsform geworden, die sie durchgesetzt hatten. De Jungs nahmen's nicht als 'Niederlage', vielmehr nutzten sie den Klassenrat als den Ort, wo sie sich wirklich auseinandersetzen konnten. Es war ihr Ort, wo sie etwas durchsetzen konnten, wo sie ernst genommen wurden, wo ihnen auch Grenzen von anderen gesetzt werden konnten.

 

 

 

In den verbleibenden 1½ Jahren wurde aus der 'Straßengang' eine recht gut organisierte Lerngemeinschaft, die sich aber nie (und nie mehr) anpaßlerisch verhielt.

 

 

 

Die nächste Klasse 'bekam ich' mit dem 7.Schuljahr. Sie kannten bereits seit zwei Jahren den Klassenrat. Dieser wurde wahrscheinlich etwas anders gemacht, als ich ihn mache, aber die Kids kannten schon vieles, was die vorherigen eben nicht kannten. Im 10. Schuljahr, also nach fünf Jahren Klassenratserfahrung, organisierte dieser Klassenrat wirklich ALLES!

 

 

 

Ich war einer dieser zwanzig Menschen einer Klassenkooperative. Hier gab es Fachkonferenzen, die die Lehrpläne der Fächer lasen. Hier wurde die gesamte Lernzeit des 10.Schuljahres geplant, durchgeführt, evaluiert, der Plan geändert, Streit geschlichtet, der Tod einer Schülermutter verarbeitet, Seiteneinsteigern vom Gymnasium geholfen, usw, usf.

 

 

 

Dies war für mich die größte Zeit, die ich bis dato mit dem Klassenrat erlebt hatte. Ich trauere genau an dieser Stelle meiner Hauptschulzeit nach, die ich 1992 beendete. Mit dem Instrument 'Klassenrat' waren diese Menschen selbstorganisations-, also Demokratie-fähig.

 

 

 

Wenn ich Leute mit dem Spruch höre, dass es in dieser oder jener Schulform leichter oder schwerer, soooooo viel schwieriger wäre, den Klassenrat einzuführen, wird mir ganz anders.

 

 

 

 

 

 

Der Klassenrat wird dem 'Klassenrat' immer ähnlicher, wobei er immer anders und verschieden ist.“