Walter Hövel
Vom Internationalismus

über das Internationale

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Mein Vater kam, wie seine Vorfahren bis 1945, nur im Krieg in fremde Länder. Jetzt stehen wieder deutsche Soldaten in Afganistan, Mali oder sonstwo, „hingegenscht oder hingefischert“. Sie verteidigen dort ein Grundrecht, das besser hier verteidigt würde. Dann kam auch noch meine Mutter im Urlaub mit dem Vater in andere Länder. Meine Töchter und Enkelkinder sollen Soldatinnen werden und ihr Leben wie seit hunderten von Jahren mit den jungen Männern für die Zivilisation und das Vaterland opfern.

 

Bis 1945 hatte kaum jemand einen Reisepass. Kommunisten waren als einzige „Internationalisten“. Sie sahen andere Proletarier in anderen Ländern unterdrückt. Sie sahen sie in der gleichen Lage wie sich selbst, ihre Frauen und Kinder.

 

Das Neue an meiner Generation war, dass wir nun als friedliche Besetzer von Liegestühlen in fremde Länder kamen. Verreisen wurde zum Geschäft. Neckermann „kaufte“ jüdischen Besitz und „machte es möglich“.

 

Später kamen Erwachsene, Lehrerìnnen, Politikerìnnen und Kinder über Programme als Europäer, als Au Pair oder Austauschschüler*innen in andere Länder. Wir lernten Englisch in der Schule, kein Kölsch oder einen anderen “Dialekt“ mehr auf der Straße. Migrant*innen kannten und konnten nun - wie in den USA - Familiensprachen sprechen. Bald wurde es wichtig – als 70% der „Mittelschichtler“ - selbst „Auslandserfahrungen in Freizeit und Beruf“ zu haben.

 

Im Namen der Freinetleute war ich auf internationalen Treffen in Deutschland, Frankreich, Finnland, Österreich, Japan, Portugal und Polen. Auf vielen nationalen Treffen war ich als Freini in Ungarn, Lettland, Kroatien, Österreich, Italien, der Schweiz und Deutschland. Auf wenigstens einem Treffen war ich in den Niederlanden. Fast immer war ich in Familien und bei Kolleg*innen untergebracht. Ich lernte also das Leben so kennen, wie sie es als Menschen lebten.

 

Über Comenius lernte ich Slowenien, Litauen, Estland, Spanien, das UK, Österreich und Finnland und deren Bildung sehr intensiv kennen, über den „Blick über den Zaun“ Italien, die Schweiz, Luxemburg und immer wieder das eigene Land. Über die Grundschule Harmonie sehr intensiv England und Österreich, alle genannten Comenius und BüZ-Länder, dazu Rumänien, Dänemark, die USA, den Senegal, die Türkei, Irland und Belgien. Auf meinen privaten Reisen sah ich zudem England, Frankreich, Katalanien, Spanien, Island, Schottland, Schweden, Norwegen, Tschechien, Rußland, Bela-Rußland, die Ukraine, Bulgarien, Serbien, Kurdistan, Nordmazedonien, Griechen-land, Costa-Rica, Kanada, Ecuador, Singapur, Kuba, Australien, Gibralta und Ägypten. Oft genug traf ich Menschen dort.

 

An Wochenenden ging es mal eben an die niederländische oder belgische Küste oder in Städte oder an das eigene, französische oder dänische Meer. Das Flugzeug wurde für alle erschwinglich. Selbst Reisen in die Dominikanische Republik, nach Ägypten, in die USA oder nach Israel gehörten bald zum guten Ton. Hauptreiseziele der Deutschen wurden Österreich, Italien, Spanien und Deutschland.

 

Als europäischer Pfadfinder fuhr ich nach Belgien, Wales und England, als junger Mensch in die Sowietunion, in die CSSR, in die DDR, aber auch zu internationalen Festen in und nach Frankreich, Italien, Portugal und in das eigene Land. Als Student kam ich nach England. In Europa „fehlen“ mir nur Moldawien, Malta, Zypern und Albanien.

 

Aber es war auch die Liebe zu den Sinti und Roma und ihren Familien und der Sprache, zu Kurden und den Türken, zu den anderen Gastarbeiter*innen aus Griechenland, Portugal, Yugoslawien, Tunesien, Spanien oder Italien, es waren die Sprachen der Russen, der Polen, Ungarn, Rumänen oder Bulgaren, die Flüchtlinge mit Paschtu, Urdu, Hindi, Arabisch, Hunderte von afrikanischen Sprachen und andere etwa aus Armenien, Kasachstan oder Georgien. Es ist das Begegnen mit anderen Menschen im In- und Ausland.

 

Es sind deutsche oder jetzt ausländische Dialekte. Ich schämte mich immer ein Deutscher mit ihren Morden und ihrem Stolz zu sein. Nie verzieh ich ihnen, dass sie meine Vorfahren versklavt hatten, um ihnen zu dienen. Ich lernte friedlicher, verständnisvoller Europäer zu sein. Ich wurde ein Europäer der Regionen. Ich lernte Rheinländer zu sein und meine Sprache, das Rheinische zu sprechen und so denken zu können. Ich lernte Weltenbürger zu sein. Ich schämte mich der Spezies Mensch. Es ist dieser Rassismus, dieses Herrenmenschendenken, diese Lust am Töten, der Glaube an das Arbeiten, die Menschen zu Untermenschen machen zu können. Es ist sehr schwer Mensch zu sein, wenn nicht eine Zukunft mit Leben, Freiheit und Glück winken würde. Ich will zu denen gehören, die eine andere Weilt, die das Menschsein für alle Lebewesen wollen.

 

Es sind die Sprachen, in denen wir unsere Existenz konstruieren, in denen immer wieder ein Virus oder die Menschenrechte bekämpft werden werden. Wir pflegen unsere Herkunft und Lösungen zur Freiheit. Wir verwechseln sie gerne mit Vielfalt.

 

Früher, vor 500 Jahren dachten die Menschen anders. Sie dachten in ihren Religionen, in ihren Erklärungen des Lebens, auch in Traumwelten und dämonischen Dimensionen. Davor dachten und waren sie noch anders. Irgendwann waren wir Tiere, Pflanzen, Steine, tote Materie, ...

mit und ohne Sprechen, ... leben, wie ... wir wissen es nicht (mehr) .... Wir leben und lebten woanders, in anderen Ländern, Zeiten, auf anderen Planeten, unter anderen Umständen, vor dem so genannten Urknall …

 

Wir suchen Leben, nicht den Tod. Wir sehen Lebendiges, nicht unser Ende.

 

Auf jeden Fall lebten wir, teilweise noch erinnerbar, ohne Nationen, nur mit Herren, vielleicht in Matriarchaten, urkommunistisch, „unzivilisiert“, kosmisch, ohne Menschen, nie in Freiheit, nur frei in und mit unseren Träumen …

 

Dabei hilft unser Sprechen, die Sprache und das Sprechen, der Tanz und das Malen, das Denken, Fühlen, die Ästhetik, das Träumen und Imaginieren, … mein eigener Internationalismus, das Kennen und Nichtkönnen des Fremden.

 

Und ich meine nicht die Leute, die sich oder ihre Erkenntnisse in den Dienst von Menschen oder ihren Zielen stellen, sondern die, die frei sind. Ich meine die, die sich auch von ihren Freiheiten befreien. Ich meine die, die ihrer Verschiedenheiten nicht mit ihrer Freiheit verwechseln, sondern ihre Freiheit verschieden leben lernen.