Walter Hövel
Einschulung
Feststellung des „Sprachförderbedarfs"

 

Es gibt heute eine Menge von Verfahren zur Einschulung von Kindern. Seit vielen Jahren gibt es das „Kieler Einschulungsverfahren“. Hier wurde begriffen, dass Kinder nicht „durch-diagnostiziert“ oder „durchgetestet“ werden dürfen. Kinder lernen besser, wenn ihre basalen Fähigkeiten der Bewegung, des Fühlens, Sprechens und Denkens gut entwickelt sind.

 

Viele Lehrkräfte benutzen aber auch das „Kieler Einschulungsverfahren“, um Defizite heraus-zufinden. Diese werden dann soweit „weggearbeitet“ bis das Kind „schulreif“ ist.

 

Zur Zeit (um 2008) ist durch die Politik der Länder, des Bundes und der EU die Sprachentwicklung weit in den Vordergrund gerückt worden. Es werden Kenntnisse in Deutsch als Zweitsprache erfasst, es gibt „Screenung Modelle für Schulanfänger“, „Fit in Deutsch“, „Sprachstandüberprüfung und Förderdiagnostik für Ausländer-und Aussiedler-kinder (SFD)“, CITO und viele andere „Hilfen“ mehr.

 

Und wie so gerne, wenn etwas von Einigen verstanden wird, folgt erst die Zeit in der diese Einsichten mit Artikeln, Fortbildungen, Empfehlungen und gar Richtlinien in eine sich verändernde Praxis eingeführt und propagiert werden. Es folgt mit der Verbreitung eine Zeit der Verankerung, aber auch der Verwässerung und des Rollbacks mit „Backlash-Effekten“. Verstärkt wird so etwas durch Verlage und Institute, die pädagogische Erkenntnisse und Kenntnisse „verlegen“, verkaufen und zu Konsumobjekten machen. Es ist chic möglichst „deutsch“ zu sein. Oft kommt etwas anderes raus als von den Erfindern gewollt war.

 

Viele Schulen verstehen den Einsatz der angebotenen Materialien als professionelle Hilfe, erweiterte Orientierung und als moderne Instrumente der Untersuchung, um den eigenen Blick zu schärfen und noch individueller fördern und fordern zu können. Ihr Ziel ist allerdings eine noch bessere Vorbereitung auf die Lebens- und Berufswelt der Zukunft. Nicht die personelle Ent-wicklung des Kindes, sondern sein „Funktionieren“ steht im Mittelpunkt.

 

Und (un)natürlich hängt in einem Land wie Deutschland die sozialbedingte Schulkarriere vom Sprachstand, der Sprachentwicklung des Kindes ab. Wir nennen unser Grundschule-Harmonie-Einschulungsverfahren - Verfahren "Kompetenzen orientiertes und erfassendes Dialoggespräch zur Ermittlung der Sprachfähigkeit und zum Einfinden in die Schule".

 

Das sieht in der Regel so aus, dass ich jedes Kind zum ersten Mal in dem Augenblick sehe, wo die Eltern ihr Kind an unserer Schule anmelden. Das ist im September/Oktober vor der Ein-schulung im nächsten Jahr im August.

 

Schon vor der Einschulung geht es mir darum dem Kind mögliche negative Einstellungen zu nehmen. Ich möchte das Lernen so unverschult wie möglich belassen. Manche Eltern glauben, aufgrund eigener Erfahrung und der Stimmung in der Bevölkerung, dass spätestens mit der Grundschule der „Ernst des Lebens“ beginnt. Je „besser“ das Kind in der Schule ist, um so besser wird es im Berufsleben sein.

 

Wir aber haben wie manche Kindergärten das Ziel, dass das Kind sich entwickeln, dass es lernen kann. Zudem glauben wir, dass das Kind schon ein Mensch ist. Wir geben, wo immer das möglich ist, dem Kind die gleichen Rechte als Mensch.

 

Bei vielen Kindern gelingt es mir, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, bei anderen nur, wenn Mutter oder Vater dabei sind, bei anderen gar nicht. Und das besagt im Grunde genommen nichts, zumindest nichts über Sprache, wenn ich keine höre. Die Kinder können - auch wenn sie kein Wort sagen - „möglicherweise sprechen“.

 

In einem Fall des Nichtredens muss ich mit den Eltern über die Sprechfähigkeit ihrer Kinder ins Gespräch kommen. Und hier ist auch in jedem Fall wieder alles sehr verschieden. Unsere Schulen und die „Intelligenzforschung“ sind sehr auf Sprache fixiert.

 

Manchmal kann man von der Sprach- und Sprechfähigkeit der Eltern Rückschlüsse ziehen. Ich finde heraus, welche Sprache oder Dialekt die Eltern sprechen. Ich erfahre, ihren Bildungsstand und ihre Einstellung zum Lernen. (Fast) alle wollen, das es „ihren Kindern einmal besser geht“.

 

Ich bekomme mit, ob das Kind (und die Eltern) bereits Erfahrungen mit der „Reparaturwerkstatt“ unserer Gesellschaft haben. Können sie mit Therapien, „Defiziten“, Fähigkeiten, Auffälligkeiten umgehen - oder eben nicht.

 

Manchmal gibt es Geschwister, die an der Schule sind und mit ihren oder über ihre jüngeren Geschwister reden, wir erfahren Dinge von den Kindergärten oder aus anderen Zusammen-hängen, denen wir nachgehen. Wir machen nicht den Fehler die „neuen“ Kinder mit ihren Geschwistern gleichzusetzen. Vielmehr spiegeln sie ihre Individualität und die immer zeitlich verschiedenen Entwicklungsstände ihrer Eltern und ihrer Beziehungen wieder.

 

Wenn wir gar nichts erfahren, muss ich wieder andere Wege finden oder - die Einschulung riskieren, also mitmachen. Mit oder ohne die Bitte an die Eltern schicke ich Kinder, weil der Staat es so will, zum Sprachkurs vor der Einschulung. Bildung, auch falsche, schadet vielleicht den Menschen. Wir sind aber alle „geschädigt“. Wir sind sehr verschieden aufgewachsen. Der Mensch entscheidet wie sich „Schädigungen“ oder positive Einstellungen auswirken.

 

Das erste Gespräch beginnt immer anders, manchmal mit der Frage nach dem Namen oder Nachnamen, nach dem Kindergarten aus dem sie kommen, nach den mir bekannten Geschwi-stern, nach dem Wetter, einem Ereignis, etc. Manchmal gelingt es, sofort das Themeninteresse des Kindes zu finden.

 

Nun malen die Kinder ein Bild, ohne Themenvorgabe. Einige Kinder reden weiter, andere schweigen konzentriert, einige wollen weder reden noch malen! Wenn sie nichts tun oder wenn sie „mit“machen, muss das nichts heißen.

 

Ich rede mit ihnen über Zahlen und Mengen, die wir legen oder zeigen. Hier reden fast alle, „weil es ja um Rechnen und nicht ums Reden geht“. Es gibt auch hier Kinder, die die Antworten nicht mir sagen, sondern der Mama nur ins Ohr flüstern oder vollkommen gestresst weiter schweigen.

 

Bei den Letzteren gebe ich bald auf, um sie nicht weiter zu stressen. Dann gibt es den,Besuch im Kindergarten oder Zuhause oder eine andere Lösung.

 

Wie auch im weiteren Dialogverlauf überprüfe ich auf vielen Ebenen die Sprachkompetenzen des Kindes, die Aussprache, den korrekten Wortgebrauch, Wortschatz,die Ausdruckmöglichkeiten, Grammatik, Semantik, etc.

 

Wir reden über irgendein Tier. Zum Beispiel über Frösche, was sie fressen, wo sie leben, ob sie rennen, springen, schwimmen oder fliegen können, wie viele Beine sie haben, ob sie alle gleich aussehen, ob alle Frösche grün (im Fernsehen sind sie in der Regel grün, in der Wirklichkeit braun) sind, etc, etc.

 

Im nächsten Teil unseres Dialogs frage ich z.B. Begriffe im Gesicht ab. Ich frage nach Nase, Augen, Ohren, dem Mund. Ich frage nach dem Kinn, der Stirn, den Wimpern und den Augenbrauen. Am Schluss frage ich seit vielen Jahren nach den Schläfen, die aber noch nie ein Kind benennen konnte. Wenn es in Zukunft ein Kind kann, weiß ich wenigstens, dass Eltern ihre Kinder auf dieses Gespräch vorbereitet haben.

 

Falls es mir nötig erscheint, frage ich noch nach Farben, anderen Gegenständen oder Kriterien.

Erfahrungen austauschen

Gesprächsverlauf und Kompetenzen feststellen

Körperwahrnehmung

Familiensprachen

 

Bei Kindern, die zuhause eine andere Sprache sprechen, versuche ich immer heraus-zubekommen, wie weit diese Sprachen entwickelt sind. Ich versuche herauszubekommen, welche Sprache zuerst, und welche in der Familie gesprochen werden. Ich muss die Zahlen oder die Gesichtsteile auch auf Türkisch oder Russisch können. Ich frage darüber hinaus andere Wörter, z.B. im Türkischen nach ,etwa „sürpris“ (Überraschung), „kuş, tavuk, ördek, leylek und kuǧu“ (Vogel, Huhn, Ente, Storch, Schwan). Im Russischen oder anderen Sprachen, weil ich sie viel schlechter kann, frage ich anderes.

 

Erfahrungsgemäß lernen jene Kinder, die eine erste Sprache gut beherrschen, das Deutsche als zweite oder dritte Sprache sehr schnell. Meine eigenen Eltern versuchten mit mir immer Hochdeutsch, nicht Kölsch zu reden. Die Entwicklung der Sprache ist eher schichten-abhängig. Leider ist es bei uns oft so, dass Kinder weder die eigene noch die deutsche Sprache ausreichend gelernt haben. Bei anderen Sprachen können oft die Eltern mit einbezogen werden. Danach weiß man auch mehr über den familiären Sprachhintergrund.

 

Im letzten Teil der „Sprachstandserhebung“ erzähle ich den Kindern, was sie alles an einem Vormittag an unserer Schule tun können: mit anderen reden, sich das Schreiben beibringen, eigene Texte schreiben, Schattentheater oder Theater spielen, drucken, am Computer schreiben, surfen, zu eigenen Themen forschen und arbeiten, Vorträge machen, messen, wiegen, schätzen, Knobelaufgaben lösen , Schach spielen, lesen, im Internet recherchieren, experimentieren, Bilder malenund zeichnen, tanzen, komponieren, ein Instrument spielen lernen, mit Programmen am Computer arbeiten, rechnen, Powerpoint-präsentationen machen, in der Schulband spielen, nähen, weben, sich von einem Mitschüler oder Erwachsenen etwas erklären lassen, Sport machen, Einrad fahren, selber Bücher machen, etc, etc.

 

Sie sollen mir dann erklären, für welche dieser Aktivitäten sie nacheinander an einem Schulmorgen auswählen. Gerade an der Stelle erfährst du viel – auch über die zukünftigen – Schülerinnen und Schüler. Du weißt wie leicht oder schwer sie das sebstständige, freie Lernen lernen.

 

Möglicherweise gibt es noch andere Gesprächsinhalte, wie etwa die Frage, ob sie sofort oder erst später oder gar nicht in die Schule wollen, welche Freunde sie haben oder vermissen werden, auf was sie sich besonders freuen oder, ob es Dinge gibt, vor denen sie sich fürchten.

 

Jedes dieser Gespräche dauert im Schnitt eine halbe Stunde, selten mehr. Höchstens das entstehende Gespräch mit den Elternkann länger dauern. Manche Kinder bleiben bei den Eltern, einige gehen durch die Schule (weil sie sie oder Kinder schon kennen) oder gehen spielen oder in ihrer zukünftigen Klasse, die sie oft schon kennen, lernen.

 

Die Bewegung der Kinder und andere wichtige Dinge schauen sich die Klassenlehrer*in oder vor allem die Sozialpädagog*in an, da es (auch später) nicht um einen „Schulaufnahmetest“, sondern um einen optimalen Einstieg in Schule geht.

 

Meine Aufgabe ist es, den Eltern und den Kindern ein direktes Feedback bezüglich der Ent-wicklung der Sprache und dem Einfinden in das Lernen in der Schule zu geben.

 

Ich muss mit den gemachten Eindrücken bei der Klassenbildung auf die Gleichgewichtung der sozialen Zusammensetzung der Klassen achten und die Klassenlehrer*innen, die Sozial-pädagog*in und unsere Konferenz über jedes Kind informieren.

 

Ich lerne das Kind kennen. Kann ich, ein anderer Erwachsener oder ein Kind mit ihm reden? Kann ich dem Kind helfen? Wie wird es lernen?...