Walter Hövel
Warum vergreist gute Pädagogik immer wieder?

Warum ist Freinet-, Gestalt-, non-direktive, anti-autoritäre oder integrierte Gesamtschul-, „über-den-Zaun-geblickte“, „Offen-unterrichtete“, in den „Gewächshäusern-der-Zukunft-“ oder jede andere real existierende alternative, freie Pädagogik out oder nicht mehr gefragt?

Sie haben funktioniert. Noch heute funktionieren sie in der täglichen Praxis oft besser als gewöhnliche Pädagogik.

Es ist nicht die Praxis dieser Pädagogiken, die sich nicht durchsetzt. Denn, wer sie wirklich konsequent und gekonnt umsetzt, ist erfolgreich.

Eher ist ihr Problem ihr Erfolg. Sie arbeiten einige Jahre, oft Jahrzehnte erfolgreich. Sie finden sogar ihre Erben. Mehr passiert nicht.

Ihre Umsetzer*innen, Protagonisten und Künstler*innen werden alt. Sie kommen nicht nachhaltig in die Mehrheit. Sie prägen kein neues System Schule oder Bildung. Sie vergreisen in ihrem Erfolg. Sie propagieren die andere Art Schule zu machen, und ihren Klassen, in ihren Schulen, in Filmen und TV-Berichterstattungen nur zu „ihren Zeiten“. Sie lehren in staatlichen Fortbildungen, an Universitäten und in und für Stiftungen und Projekte der Industrie und Banken. Dann treten sie ab. Der verantwortliche Staat achtet nicht auf erzielte Inhalte, sondern besetzt Stellen.

Zu oft gehen junge Karrieristen und Exzellmacher in die Professuren, gedrillte neue Schulmanager halten die Systeme vor Ort aufrecht. Die Ausbildung der Lehrer*innen, der Schulaufsichtsbeamt*innen und staatlichen Fortbildner*innen wird immer besser didaktisch, systemisch und fachlich gebildet. Und dann sterben sie aus und mit ihnen gehen nur kleine Teile in das sich sehr langsam verändernde Gesamtkonzept der Schule über. Langsam, zu langsam. Es wird in Tagen gedacht, in Jahren gehandelt und in Jahrzehnten verändert.

Gewöhnliche, alltägliche, an der Mehrzahl der Schulen gehandhabte Pädagogik wird mit Unsummen an Geld, Menschen, Ausbildung, Projektmitteln und Opfern gewaltsam aufrechterhalten. Tägliche unzählige Zeitungs-, Online- und Medienberichte, Filme und von Ausbildungsmentor*innen wird sie so erhalten und gesponsert. Wiederzuwählende Politiker faseln von G9, Vergleichsabitur, Unterrichtsausfall und Erhalt der Sonderschulen. Der tägliche Wille der örtlichen Mehrheit der Eltern erhält das bestehende System durch ihr Verständnis von Mitbestimmung, Nachhilfe und Erziehung gegen oder mit dem Wunsch der Lehrkräfte.

Schule wird von der Gesellschaft nicht als notwendiger Ort des Lernens für Gegenwart und Zukunft gesehen, sondern als Ort der Prüfung, der Anpassung, des Funktionierens, der Testate und der Erlaubnis des Verweilens oder Aufstiegs in der alten oder höheren gesellschaftlichen Kaste.

Was nutzt es da, dass Großbetriebe Millionen in ihre unzähligen Stiftungen und Projekte pumpen, Preise für echten reale Alternativen ausloben und Regierungen in der ganzen Welt versuchen die Erkenntnisse der „alternativen“ Pädagogiken in ihre Innovationskonzepte einzubauen. Hier wird mit großen Feigenblättern ein größeres Dilemma verhüllt.

Viele, ob in Regierungen, Dienstaufsicht, Schulleitungen oder in den Klassen, versuchen die existierende Schule zu modernisieren, zu vermenschlichen. Sie reiben sich an der täglichen Praxis, an ihrer Rolle als Erwachsene und dem System Schule und Bildung auf. Veränderungen sind so langsam, dass die Langsamkeit der Entwicklung von Bildung und Erziehung gerne mit der Trägheit der Veränderung von Kirche verglichen wird.

Seit Bestehen der Schule wird von guten Mitarbeiter*innen gezeigt wie Ganzheitliches Lernen, Alters gemischtes Lernen, Inklusives Lernen, Lernen außerhalb von Schule , Lernen in und von der Natur, Demokratisches und Autonomes Lernen gelernt und gelehrt wird. Ständig entwickeln sich neue Strategien, die alle die gleichen Dinge untrennbar gemeinsam haben: Sie stellen die Weiterentwicklung der Technik und Demokratie, des Systems der Bildung und des Denkens der Gesellschaft, die Würde und Wichtigkeit des eigenständigen Lernens und die Rechte der Kinder als Menschenrechte in den Mittelpunkt. Aber sie bleiben da stehen, wo sie herkommen. Sie erfassen verändernd und innovierend den aktuellen Zeitgeist, um dann stehen zu bleiben. Sie erfassen die nächsten, dann folgenden neuen notwendigen Schritte nicht, sondern vergreisen in ihrer Arbeit oder die Erinnerung daran, was bald mit ihnen der Erfolg von gestern ist.

Selbst Elise und Célestin Freinets warnten z.B. schon vor Jahrzehnten vor einer „Freinet“pädagogik, also der Benennung einer pädagogischen Bewegung nach der Pädagogik ihrer Initiatoren. Sie wollten nicht zu Modellen erstarren, wie es etwas in der Waldorf- oder Montessoripädagogik gern geschieht. Sie vertraten eine „Moderne Schule“. Sie vertraten eine „Schule des Volkes“, heute sagen wir „eine Schule für Alle“. Sie wollten Schule für und mit allen so verbessern, dass sie von allen entwickelt wird und alle von ihr profitieren. Sie traten für Kooperation, Demokratie, Gesundheit, Inklusion und Heterogenität bei einem selbst organisierten Lernen ein, um sie ständig und immer wieder weiter entwickeln zu können.

Zu wenige ihrer Nachfolger begriffen wie die Anpassung an die Zeit, an die notwendige Entwicklung von Gesellschafft im Lernen in der Schule umgesetzt wird. Sie konnten weder Delegieren noch Abgeben.

Und, viel schlimmer, sie vergaßen durch die tägliche Mühe der Arbeit ihre Visionen. Sie waren nicht mehr immer sichtbar der Zeit einen Schritt voraus. Ihre Arbeit verbreitete sich nicht. Sie isolierten sich. Sie verloren die Vision der Abschaffung von Schule, die über deren Modernisierung geht.

Gerade „Schule“, sei sie noch so modern, muss heute in Frage gestellt werden, angesichts der Informations-, Denk- und Lernentwicklung der Menschen, angesichts der Menschenrechte, die Freiheit, Leben und Glück für alle fordern.

Lernen kann nur „Lernerwärts“ gehen. Ein langer, mühsamer Weg, der immer über den Umweg des Erfolgs führen wird.