Walter Hövel
Die Sinti in Eitorf

 

In Eitorf leben 2019 weit über hundert Sinti als unsere Mitbürger. Andere sind Roma aus verschiedenen Ländern, hauptsächlich aus dem ehemaligen Jugoslawien. Und es gibt oder gab noch die Jenischen. Sie lebten noch in den 50er und 60er Jahren erkennbar in Eitorf, in „Neu-Texas“, auf der anderen Seite der Sieg.

 

Seit vielen Jahren leben hunderte dieser Menschen friedlich mitten unter uns. Viele wissen nichts von ihnen, einige erinnern sich.

 

Die „Sinti“ leben seit über 6oo Jahren bei uns. Sie kennen sie. Es sind die Menschen aus den Märchen, die in unseren Wäldern lebten. Sie lieferten Feuerholz, Korbwaren, Bohnerwachs oder Textilien. In meiner Kinderzeit lieferten sie Briketts. Ihr Ruf schallte durch die Straßen. „I-Lump, i-Lump, Eisen, Papier“.

 

Sie zogen umher und arbeiteten, um sich zu ernähren. Dies taten dies seit Hunderten von Jahren im Westerwald, in Buchholz oder Eitorf. Sie lebten in Hütten, auf Karren oder in Wohnwagen. Seit 1985 leben sie in Eitorf „in festen Unterkünften“, also in Wohnungen.

 

Sie mögen Eitorf, weil sie hier nicht in Ghettos gesammelt werden, sondern dezentral überall im Ort und in den Dörfern „untergebracht“ wurden. Dafür sorgten kluge Eitorfer, die seit 1985 als Angestellte des Sozialamtes ihnen Wohnungen besorgen. In einer Diskussionsrunde der Inklusion 2014, erklärten Sinti, dass sie deshalb Eitorf mögen und gerne hier leben.

 

Um 1995 kamen die ersten Kinder der Sinti in die Grundschule Harmonie. Sie kamen hierhin, weil sie nicht mehr als Menschen zweiter Klasse diffamiert wurden. Sie alle lernten hier Lesen und Schreiben. Einer von ihnen kam noch einmal als Zwanzigjähriger zur Schule mit den Worten „Ich glaube jetzt habe ich verstanden wie Lesen und Schreiben gehen“. Und er lernte es in 14 Tagen.

 

Sie lernten mit ihren Eltern und dann als Eltern, dass sie von März bis September auf Fahrt gehen durften. Sie lernten, dass sie gehört wurden und an Schulversammlungen, Klassenräten, Eltern-abenden und Veranstaltungen als vollwertige Menschen teilnehmen konnten.

 

1987 wehrte sich ein Justitiar des Rhein-Sieg-Kreises dagegen, „dass Kinder drei Monate lang mit Erlaubnis des Schulleiters fehlen durften“. Für Sinti sollte „das gleiche Recht der Pflichtschule wie für alle gelten“. In einem kurzen aber klaren Gespräch mit der damaligen Schulrätin Frau Brügelmann, Herrn Hövel, als Leiter der Grundschule Harmonie und Max Kiowski, einem Vater der Schule, wurde geklärt, dass die deutsche Vergangenheit ein anderes Recht verlangte. Danach war klar: Sie durften fehlen!

 

In Ermangelung von Geschichtskenntnissen und Geschichtserkenntnissen, verbieten deutsche Schulen heute wieder die Fahrten dieser Menschen von März bis September. Es sind die Monate, in denen du mit Wohnwagen und Karren in den Wald fliehen kannst.

 

Wieder schicken sie Sintikinder, die keinen Deut dümmer sind als andere, weg von Regelschulen an Förderschulen. Die Vorgabe der Inklusion durch UNO und Grundgesetz wird missachtet.

 

Sinti wurden Hunderte von Jahren lang verfolgt. In der Nazizeit wurden Abertausende von ihnen in Konzentrationslagern eingesperrt, vergast und durch Arbeit getötet. Im Dokumentationszentrum der Sinti und Roma Deutschlands findest du auf einer Stehle jeden Namen jedes Ermordeten. Es sind die Namen derer, die dann wieder als gleichnamige Kinder zur Grundschule Harmonie gingen. Die Grundschule Harmonie besuchte diese Stätte mit Elternvertretern.

 

In den Kaiserzeiten und schon hunderte von Jahren vorher waren sie Freiwild. Sie wurden immer wieder verfolgt und in die Wälder vertrieben, um zu überleben. Noch heute gibt es Idioten und Unwissende, die sie als „Zigeuner“ beschimpfen und „bedauern, dass der Hitler sie nicht alle vergaste“. Noch meine Mutter warnte mich vor ihnen und schallt mich „die Wäsche von der Leine zu nehmen“, wenn sie in der Nähe waren. Die Menschen sagten, sie „schlachteten Kinder, um sie zu essen“. Kein Argument ist auch noch heute zu dumm, um sie auszustoßen und zu isolieren.

 

Zum Glück war dies in der Vergangenheit nicht die Mehrheit der Menschen. Viele versteckten sie oder gaben ihnen zu essen. Doch zu viele schwiegen zu den Verbrechen von Nazis, anderen antidemokratischen Kräften und Monarchisten. Zum Glück lässt dies die Mehrheit der Menschen heute nicht mehr zu.

 

Sinti und Roma kamen vor 600 und mehr Jahren aus Indien zurück, um in ganz Europa zu siedeln. Sie sind Menschen, die wie wir von den gleichen „arischen“, also indo-germanischen Vorfahren abstammen. Sie sind streng katholisch. Sie lebten immer um Eitorf herum. In festen Wohnungen sind sie hier seit 1985. Was ihnen immer fehlte, war ein eigener Staat.

 

Ich interviewte eine über 8ojährige Frau von ihnen. Sie und ihre Eltern kommen wie viele Eitorfer aus Köln. Es waren wohlhabende Geschäftsleute in festen Wohnungen in der Diebelsgasse in Ehrenfeld. Erst die Nazis verarmten sie. Sie nahmen ihren Besitz und vertrieben sie. Die meisten von ihnen töteten sie. Nur wenige überlebten, oft mit der Hilfe vieler Deutscher und später der Amerikaner. Nach dem Krieg strandeten sie zunächst im Westerwald und dann in Eitorf.

 

Den meisten Überlebenden stand weder eine Entschädigung zu noch erhielten sie je eine Anerkennung als Opfer. Nur die wenigsten bekamen ihr geraubtes Eigentum zurück. Gesundheitliche Schäden wurden oft nicht anerkannt.

 

In deutscher bürgerlicher Romantik wurden sie gerne als die mit jungen hübschen Mädchen zu fremden Klängen um das Lagerfeuer Tanzende gesehen. Aber schon damals wurde verschwiegen, dass die Menschen im Wald unserer Märchen fast immer Juden, Sinti oder andere verarmte Schichten waren.

 

Als ich in der Grundschule Harmonie das Märchen von Hänsel und Gretl erzählte, sagte eines der Kinder: „Das kenne ich von Zuhause. Meine Großeltern und andere Vorfahren haben auch im Wald gelebt. Sie haben sich da versteckt“.

 

Sinti sind keine Nomaden, die umherziehen. Ihr Umherziehen sind Fluchtbewegungen. Sie haben Angst vor uns und wir haben oft Angst vor ihnen. Die heutigen noch Lebenden sind wie ihre Kinder und Kindeskinder traumatisierte Opfer ungeheurer Verbrechen.

 

Im Volksmund werden die Sinti und Roma gerne als „Zigeuner“ bezeichnet oder beschimpft. Diesen Begriff gibt es bei uns nachweislich seit 1400 als Cingari oder Cigäwnär. Im Englischen sind es die „gypsies“, also die aus „Egypt“, aus Ägypten. Woanders sind es die Vlachi, Çingene, Kurbât, Gýftos, Gitan, Mitirb, Tsyganskiy, Slowaken, Ghajr, Jât, Tataren, Bohéme, Slêb, Halab, Nawar, Cigano, Jípǔ sài rén oder Landfahrer. Diese und viele andere Namen sind zur Verfolgung und Diskriminierung bestimmter Familien immer wieder ge- oder erfunden worden.

 

Selbst in der Kaiserzeit gab es Versuche einer Zwangsintegration von Seiten des deutschen Staates. Kinder wurden aus ihren Familien genommen, ihrer Sprache beraubt und zur Adoption in „deutsche“ Familien „freigegeben“. Sie wurden in Schulen gezwungen, um ihnen eine „deutsche Erziehung“ zu geben. Ähnliches versuchen wenige, oft zu viele Politiker*innen, Verwaltungsleute und Erzieher*innen auch heute noch.

 

Fakt ist, dass sie seit mehr als 6oo Jahren nur schwer bis nicht integrierbar sind. Da hilft keine Integration, nur Inklusion als Form des Zusammenlebens so vieler verschiedener Menschen.

 

Sie sprechen in ihren Familien auch heute noch eine eigene Sprache, das „Romanes“. Leider verliert diese uralte Sanskrit-Sprache immer mehr ihrer ursprünglichen Wörter. Sie werden von jungen Menschen durch deutsche Wörter mehr und mehr ersetzt. Die Grammatik und die Semantik der Sprache bleiben allerdings erhalten. Seit der Nazizeit gibt es kein Wörterbuch für Romanes und Deutsch. Kommen Kinder der Sinti in die Schule, können sie Deutsch. Du hörst nur selten ihre Sprache! Und – geheiratet wird, in der Regel, unter einander.

 

Unsere moderne Gesellschaft und die Art der Produktion verbietet zudem , dass sie ihre klassischen Berufe erlernen. Schon lange gibt es keine Scherenschleifer oder Korbflechter mehr. Das „Schrotten“ wird durch die grünen Mülltonnen der Papierindustrie und das Verbot der Entnahme von Sperrmüll eingeschränkt.

 

Zu meinem 60sten Geburtstag spielte eine zufällig in Eitorf anwesende Musikergruppe ihren eigenen Musikstil für eine Kiste Bier. Es waren Nachfahren von Django Reinhardt, einem der bekanntesten Musiker der Weltgeschichte. Ich habe selten solch eine beeindruckende Musik gehört. Danach merkte ich wie viele von ihnen Reinhardt oder Meinhardt heißen. Ich merkte, was für tolle Musiker sie haben! Die Bildungsverantwortlichen unserer Gesellschaft fördern diese Menschen nicht. Sie fordern sich selbst.

 

Ein ehemaliger Schüler von mir schrieb 2019: „Das mag sehr vielen Menschen gar nicht bewusst sein, mit was für Vorurteilen wir tagtäglich zu kämpfen haben! Das fängt teilweise sogar schon beim normalen Supermarktbesuch an.

 

So wie wir die Natur für unseren Fortschritt ausbeuten, tun wir es auch mit uns Menschen selbst. Viele stoppen, wenn sie es merken. Menschen selber versuchen immer wieder, wenn sie sich ihrer Rolle bewusst sind, sich in ihrer Vielfalt und ihrer Verschiedenheit zu erhalten. So auch in Eitorf.

 

Um das zu können, gab Johann Wolfgang von Goethe schon vor 200 Jahren uns eine Richtschnur mit:
„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen“.