Jochen Hering

Lilli

 

 

 

Wenn wir uns von jemandem verabschieden, der uns nahe steht, den wir liebgewonnen haben, an dem wir hängen, und wir wissen, dieser Abschied ist für länger oder sogar von Dauer, steigen – spätestens mit dem letzten winkenden Gruß - Gedanken und Erinnerungen an den anderen oder die andere in uns auf. Solche Abschiede wühlen auf und stellen uns den anderen noch einmal lebendig vor unsere inneren Augen. So ist es mir in den letzten beiden Wochen ergangen. Daran möchte ich euch teilhaben lassen. Ich möchte versuchen, aus Erinnerungen ein lebendiges Bild von Lilli Fehr-Rutter zu malen. Ich möchte, dass sie für diesen Tag noch einmal unter uns erscheint.

 

     Als ich Lilli kennen lernte, 1975, also vor mittlerweile mehr als 40 Jahren, trug sie Jeans, dazu meist mehr oder weniger bunte Oberteile. Im Laufe der Jahre hat sie sich mehr und mehr für Schwarz als „Farbe“ entschieden. Ein mir liebes Bild zeigt sie auf der Treppe der Orensteinstraße sitzend, schwarzer Rock, schwarze Strumpfhose, roter Pullover, dazu der ihr eigene Blick, weg vom Betrachter hin zum Boden gerichtet, lächelnd, vielleicht grad in nachdenklicher Freude über etwas. Ein anderer für Lilli sehr typischer Blick war diese Mischung aus Lächeln und skeptischer Distanz. Da konnte sie streng wirken.

 

     Schwarze Haare, schwarz geschminkte blaue Augen, eine eigenwillige Erscheinung, so eigenwillig wie die Einrichtung ihres Zimmers. Ich denke, bis zum Schluss hat das Schälchen Pralinen auf dem Tisch dazu gehört. Lilli hatte Freude daran, sich mit diesem Geheimnisvollen zu inszenieren. Und im Kontakt mit anderen wahrte sie dieses Geheimnisvolle.

 

     Im Gespräch mit anderen konnte sie sehr direkt aufs Innere des Anderen / der Anderen zielen. Jutta Hering hat mir dazu geschrieben: „Sie war immer sehr direkt zu mir, tat ihre Einschätzung unverblümt kund, stellte mir oft unbequeme Fragen. Sie zwang mich nachzudenken, Farbe zu bekennen.“ Wenn Lilli und ich in den letzten Jahren miteinander telefonierten, waren ihre Fragen manchmal überfallartig: „Und, bist du glücklich?“ Oder: Worüber freust du dich gerade? Gibt es eigentlich nichts in deinem Leben, was du bedauerst?

 

     Im Unterschied dazu sprach sie von sich aus nicht viel über sich selbst. Dazu kam ihre Spontaneität und Sprunghaftigkeit auch im Gespräch, in dem sie direkte Fragen anderer auch unbeantwortet lassen konnte, stattdessen geheimnisvoll lächelte, dabei den Blick leicht abgewendet. Das war dann ihre Art, dem andern mitzuteilen: „Dazu möchte ich jetzt nichts sagen!“

 

Vor beinahe 45 Jahren habe ich mit einigen anderen „JunglehrerInnen“an der Hauptschule Dorstfeld angefangene. Wir hatten eine schweren Stand in einem vollständig verknöcherten Kollegium, in dem schon Worte wie „Projekt“ oder „Schülerzeitung“ zum linksradikalen Vokabular gehörten.

 

     Wir waren auf der Suche, nach anderen Unterrichtsformen, anderem Unterrichtsmaterial, nach Gleichgesinnten. Dass ich all das für lange Jahre gefunden habe, verdanke ich Lilli und ihrer umtriebigen Neugier. Irgendwann - gegen Ende der 70er Jahre muss das gewesen sein – schleppte sie mich mit ins Elsass, auf eine Tagung mit französischen ReformpädagogInnen, Anhängern des sozialistischen französischen Lehrers Célestin Freinet. Und danach wurden wir Freinet-PädagogInnen, fuhren regelmäßig zu den entsprechenden Fortbildungen und Treffen, gründeten eine Dortmunder Freinet-Gruppe, dem Motto verpflichtet, Unterricht von den Bedürfnisse und Interessen der Kinder aus zu gestalten, oder, wie Freinet es sagt: „Den Kindern das Wort zu geben“.

 

     Ein Freund aus dieser Zeit, Martin, der jetzt in Hamburg lebt, erinnert sich so an Lilli:

 

Am deutlichsten sind in meiner Erinnerung noch Spuren der ersten Freinet Erfahrungen als Lehrer in Unna zu finden. Hatten wir nicht ein Freinet-Lehrer-Treff bei euch in Dorstfeld? Dann sind mir noch die Fortbildungswochen in Schloss Gnadenthal bei Kleve eingefallen. Ein bunter Haufen engagierter, linker Lehrerinnen und Lehrer, die kreativ und chaotisch die Schule im Kapitalismus neu erfinden wollten. Am letzten Abend gab es immer die Vorstellung der Workshops mit viel Musik, Tanz, Theater, Alkohol und Zigaretten. Ein bisschen im positiven Sinn verrückt und außer Rand und Band. Und Lilli immer vorne weg. (...)

 

Lillis kindorientierte Haltung ist mir in Erinnerung. Sie hatte Interesse an den Kindern, mit denen sie zusammenarbeitete und stellte deren Interessen ins Zentrum ihrer Arbeit. Das hat mich in meiner Arbeit als Lehrer beeinflusst und geprägt. 

 

Florian Söll, Lehrer aus Dortmund und mit uns in der Freinetbewegung, schreibt mir zu seinen Erinnerungen an Lilli:

 

Ich habe ja leider nicht mit ihr in der Schule zusammengearbeitet. Aber auf Freinet-Treffen kam es vor, dass wir beide das Treiben betrachteten und wir uns mit Blicken verständigt haben. Diese Art zu schauen ist mir in Erinnerung geblieben. Die mimische-Palette war breit angelegt: Es konnte deutliche Skepsis und Distanz in ihrem Blick liegen, kombiniert mit ihren schwarzen Haaren, der häufig dunklen Kleidung, wirkte sie in diesen Situation streng. Plötzlich zeigte sie aber auch freudige positive Überraschung, und konnte sich mit anderen freuen. Dann strahlte sie. Vor allem dieses Strahlen ist mir in Erinnerung. So kann man nur strahlen, wenn man innerlich beteiligt ist. An diesem Strahlen konnte man sich wärmen.

 

Aber Lillis Strahlen konnten auch verbrennen. Wenn sie etwas nicht einsah, ihr etwas gegen den Strich ging, reagierte sie radikal. Ich erinnere mich an Telefongespräche aus der Zeit kurz nach ihrem Wechsel von der Hauptschule an die Grundschule. Sie litt mit an der Vernachlässigung, unter der viele ihrer Schul-Kinder aufwachsen mussten. Sie hielt das kaum aus. So, als wäre sie ganz neu in dem Geschäft, unverbraucht in ihrer Empathie. Da war sie böse im Gespräch. Da war wenig bis kein Verständnis mehr, wo es um die Kinder ging. Und sie dachte ernsthaft über die zukünftige Möglichkeit eines Elternpasses nach, der nach Überprüfung – einem Führerschein ähnlich - zu erwerben war, bevor man das Recht hatte, Kinder in die Welt zu setzen, Auch den zugegeben unrealistisch-spielerischen, von ihr aber doch emotional ernst gemeinten Gedanken, einen Großteil der Eltern ihrer Klassen-Kinder zu kastrieren, um zumindest zukünftiges Unheil zu verhindern, äußerte sie in diesen Gesprächen.

 

     Lilli war und dachte radikal, war eigenwillig und eigen-sinnig, im positiven Sinn dieses Wortes hatte sie ihren eigenen Sinn, ihre eigene Sinngebung, im Großen wie im Kleinen.

 

     Dieses radikale „Bei-sich-sein“ hat Lilli als Frau und Lehrerin ausgemacht. Ein anderer gemeinsamer Freund und Freinetpädagoge aus dieser Zeit, Walter Hövel, hat das, wie ich finde, beinahe schmerzhaft treffend zusammengefasst.

 

Zu Lilli fällt mir ein, dass sie mit ihrer tiefen Stimme sich scheinbar um nichts "geschissen" hat. Für mich war sie eine Vorläuferin jener Gothics, eine Nachfolgerin französischer Vamps oder Femme Fatale. Aber sie war in sich echt. Sie machte keine Bewegung nach, sondern vertrat sich selbst.

 

Sie kam mir vor wie ein Mensch auf der Suche. Sie folgte keinem Vorbild oder fasste nicht zusammen, was sie gehört hatte. Sie suchte die eigene Meinung in sich selbst. Sie suchte außergewöhnliche Dinge und Menschen.

 

     Sie war nahbar, persönlich verbindlich und dennoch in sich selbst distanziert. Für mich war sie immer eine Person, die nicht doublebar war. Oft hatte ich das Gefühl, dass sie viele Dinge "zu früh", vor der Zeit dachte. Sie war eigen-sinnig, akzeptabel nur wie sie war. Sie war - für mich - eine Person, die da war oder entschieden hatte, es nicht zu sein. Sie war nicht abholbar, sie schien alleine. Sie schien schwer identifizierbar zu sein außer als Selbst. Im Nachherein habe ich den Eindruck, sie nur wie einen Schatten, kurz, einmal, aber sehr einmalig wahrgenommen zu haben ... Ich hätte sie in meiner eigenen Hogwardsschule als Lehrerin für besondere Zauberkräfte eingesetzt, die so plötzlich wieder verschwindet, wie sie gekommen ist, aber ihre Schüler mit ihrer eigenen und deren eigenen Zauberkraft beeindruckte.

 

 

 

Ich bin sonst üblicherweise auf christlich geprägten Beerdigungen. Und da sind die Antworten klar, vom Glauben geprägt. Wir Menschen verlassen dieses irdische Leben, gehen zu Gott und erwarten freudig die Auferstehung und das ewige Leben. Wir sehen uns in einem anderen Leben wieder. Diesen uneingeschränkten Glauben habe ich nicht.

 

     Und ich kann euch daher diese tröstliche Antwort auch nicht mit auf den Heimweg geben. Aber eine Antwort habe ich schon. Es ist meine Antwort und damit möchte ich mich von Lilli und euch verabschieden.

 

 

 

Abends am Lagerfeuer erzählte ein alter Indianer seinem Enkelsohn von einem Kampf, der in seinem Inneren tobt.

 

     Er sagte: „Mein Sohn, dieser Kampf wird von zwei Wölfen ausgefochten. Der eine Wolf ist böse: Er ist der Hass, der Zorn, der Neid, die Eifersucht, die Sorgen, der Schmerz, die Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid, die Schuld, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen, der falsche Stolz und das Ego.

 

     Der andere Wolf ist gut: Er ist die Liebe, die Freude, der Friede, die Hoffnung, die Heiterkeit, die Demut, die Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, die Großzügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube.“

 

     Sein Enkel dachte einige Zeit über die Worte des Großvaters nach und fragte dann: „Und welcher der beiden Wölfe gewinnt den Kampf?”

 

     Der alte Cherokee antwortete: „Der, den du fütterst!“

 

Lilli hat – mit ihrem Wohlwollen, ihrer Zuneigung, mit Großzügigkeit, Aufrichtigkeit und Mitgefühl Freunden, Kindern, Bedürftigen gegenüber ihr Leben damit verbracht, den richtigen Wolf zu füttern. So behalte ich sie in Erinnerung.

 

     Und so hat sie dazu beigetragen, das Gute in der Welt zu stärken. Damit wirkt ein Teil von ihr fort und bleibt in dieser Welt. Und wenn wir uns Lilli’s mit Achtung und Wertschätzung erinnern wollen, können wir das tun, indem wir eben das, das Gute in der Welt zu stärken, auch zu unserer Aufgabe machen. Damit die, die dann nach uns kommen, die, die sich auch von uns irgendwann werden verabschieden müssen, sagen können. Er oder sie hat den richtigen Wolf gefüttert. Behalten wir Lilli in diesem Sinne im Gedenken.

 

Bedanken wir uns für Lilli beim Leben, das uns so viel gibt und schon gegeben hat.

 

Gracias a la vida heißt ein Lied, das sie sehr gemocht hat.

 

 

 

Gracias a la vida / que me ha dado tanto
Me dio dos luceros, / que cuando los abro,
Perfecto distingo / lo negro del blanco
Y en el alto cielo / su fondo estrellado
Y en las multitudes / el hombre que yo amo

 

 

 

Danke an das Leben, / das mir soviel gab:
es gab mir zwei Augen, / öffne ich sie,
unterscheide ich perfekt / das Schwarze vom Weißen;
und im hohem Himmel, / seine sternenhelle Tiefe;
und in der Menschenmasse, / die Menschen, die ich liebe.