Hartmut Glänzel
Selbstläufer

                                                

Freinet-Pädagogik ist etwas für die Faulen“,

diesen Satz hat Florian Söll, langjähriger Haupt­schul­lehrer in NRW und später Hochschulprofessor, schon vor Jahrzehnten in Umlauf gebracht. Er wollte damit nicht eigentlich der Faulheit das Wort reden, sondern mit der irrigen Vorstellung aufräumen, dass Freinet-Pädagogik bedeutet, an jedem Wochenende Arbeitsmaterialien in Hülle und Fülle für die individuelle Arbeit zu erstellen, über jeden Schüler genauestens Buch zu führen und ihm punktgenau das Arbeitsmaterial vor zu legen, dass er jetzt gerade nach Ansicht des Pädagogen braucht.

Er wollte vielmehr darauf hinweisen, dass von Freinet-Pädagogen eine Reihe von Strukturen entwickelt und erprobt worden sind, die es zumindest der Mehrzahl der Schüler gestatten, sich von der Bevormundung und Gängelei durch den Lehrer frei zu machen und selbstständig und selbsttätig ihren eigenen Lernweg zu finden und zu verfolgen, so dass die Lehrperson mit genügend Zeit und Muße sich denen widmen kann, die – zu­mindest für eine Startphase – ohne deutlichere Hilfe und Impulse des Pädagogen ihren eigenen Lernweg noch nicht finden können.

 

Hört auf zu unterrichten!“,

so schrieb Walter Hövel, ebenfalls ehemaliger Hauptschullehrer und später langjähriger Schulleiter der Grundschule Harmonie, bereits im Mai 1994 in der FuV Nr. 67 (S. 69) und meinte damit Ähnliches, indem er z.B. notierte: „...also das Lernen ist Sache der Lernenden selbst, wir sollten Vertrauen in haben in diese Fähigkeit,...“

 

Mich haben beide Sätze in meiner schulischen Arbeit immer wieder aufs Neue herausgefordert und fasziniert:

 

In der Stadt-als-Schule Berlin[1],

einem Schulversuch für Schüler der Klasse 9 und 10, die in der nor­malen Schule in Schwierigkeiten geraten waren und denen wir in großem Umfang (d.h. an 3 Tagen in der Woche) Lernen in der Stadt (in Form von mehrmonatigen Praktikas) anboten, hatten wir Lehrer ohnehin wenig Chancen, wenn wir unsere Schüler unterrichten wollten oder ihnen Material zum Bearbeiten vor die Nase setzen wollten. Vielmehr ging es darum, ihre oftmals sehr verschütteten Interessen und ihre Mo­tivation wieder frei zu legen und sie wieder in die Lage zu versetzen, etwas zu wollen. So dass es sich im Idealfalle dann so entwickelte, dass ein Jugendlicher nach einer Phase der Orientierung tief in einen Bereich eintauchte, u. U. einen Berufswunsch entwickelte und aus diesem heraus dann z.B. Mathematik von uns Lehrern einforderte. 

 

Für meine Arbeit in der Kinderschule Oberhavel[2],

einer Grundschule, die sich auf die Freinet-Pädagogik beruft, hatte ich zwar viel Wissen und Erfahrung über Freinet-Pädagogik im Gepäck, aber wusste als Sekundarstufenlehrer wenig über die Details der Grundschulpädagogik. So blieb mir (zum Glück, denke ich heute) wahrscheinlich gar nichts anderes übrig als immer aufs Ganze zu schauen und mich nicht in die Details einer Klein-Klein-Didaktik zu verlieren. Das hieß, der Kraft der Kinder zu vertrauen und meinen Ergeiz daran zu setzen, ihnen Räume der Entfaltung zu eröffnen, die sie meiner Beobachtung nach hervorragend angenommen und zu ihrer Entwicklung genutzt haben.

 

Im Folgenden habe ich tabellarisch eine Reihe von Strukturelementen oder Ritualen aufgelistet, die in dem oben gemeinten Sinn, einmal eingeführt und zunächst mit genügend Geduld und gelegentlich auch Nachdruck begleitet, eine langfristig wirksame Lerndynamik in Gang setzen können - und das teilweise über Jahre hinweg. Die Tabelle habe ich bewusst knapp gehalten, gebe aber auf Anfrage gerne nähere Erläuterungen zu einzelnen Ritualen. Und besonders freue mich, wenn die Liste fortgesetzt wird.                                                                            

 

Langfristig tragfähige Unterrichtsrituale

 

Ritual 

Zeitbedarf geschätzt

Stichworte

Morgenkreis

Täglich 10-20 Min

Ankommen, Besprechung des Tages, Geburtstage etc. (freier mündl Ausdruck)

Abschlusskreis

Täglich 5-10 Min

Abschlussritual, Präsentation von Arbeiten, ggf. Rückmelderunde (freier mündl. Ausdruck)

Startkreis vor freier Arbeitszeit

Täglich 5-10 Min

Arbeitsvorhaben erfragen und ggf. besprechen.

Kann in den Morgenkreis integriert werden.

Klassenrat

Wöchentlich 30-50 Min.

Alle wesentlichen Themen der Klasse, soweit sie den Morgenkreis sprengen.

(Praktizieren und Reflektieren von Demokratie)

Schulversammlung

Monatlich 30-50 Min

Alle Lehrer u. Schüler der Schule (Demokratie)

Arbeit an eigenen Themen/Projekten

Wöchentlich 2-6 h

Bearbeitung von (Sach-) Themen nach eigner Wahl oder aus Auswahlliste

(allein oder in Kleingruppe)

Vorstellung eigener Projekte mit Feedback

Wöchentlich 1-2 h

Vortrag, Experiment, Plakat, Themenheft, Feed­backrunde. Ggf. unterrichtliche Vertiefung

Museum

Täglich 5-10 Min

Lehrer schlägt ein Thema vor, z.B. „Sammelt alles zur „Zeit“. „Alle Fundstücke“ werden gewürdigt. Museum wächst von Tag zu Tag. Bleibt einige Wochen präsent in der Klasse.

Mathem. Er­fin­dungen nach Paul le Bohec

5 Min fürs „Erfinden“,

je Besprechung 10-15 Min.

Gemäß einem vorgegebenen Ritual werden die mathem. Erfindungen einzelner Kinder gemeinsam besprochen (Näheres:  Bohec: Verstehen heißt wiedererfinden, Freinet-Kooperative oder bei mir.)

Mathematische Fragestellungen

Wöchentlich 1-2 h

Schüler entwickeln eigene Aufgabenstellungen zu beliebigen mathematischen Themen oder Themen des Mathe-Unterrichts.

Vorstellung matheti­scher Fragestellungen

Wöchentlich 1 h

Selbst erdachte Aufgaben werden den Mitschülern vorgelegt und von diesen gelöst.

In der Regel gibt es Besprechungsrunden.

Rätselzahl

Tägl. 5 Min

Ein Schüler hat verdeckt eine Zahl z.B. aus Montesorimaterial gelegt und zeigt sie kurz. Die anderen versuchen die Zahl zu erschließen.

Schätzaufgabe

Täglich 5-10 Minuten

evt.auch nur einmal wöchentlich

Auswertung kann länger dauern

Lehrer zeigt z.B. ein Glas mit Erbsen. Schüler sollen schätzen.

Man kann auch Temperaturen, Gewicht, Längen, Zeiten etc. schätzen lassen.

Später übernehmen Sch. diese Aufgabe.

Kopfrechenübungen

Pro Durchgang 5 Min.

Z.B.: „Ich denke mir eine Zahl. Diese ist aus der 7-er-Reihe, gerade und größer als 28. Können auch Sch. übernehmen.

Feelings and tellings

Täglich 5 Min.

Tägl. im Morgenkreis (So ist Engl. tägl. präsent) 

Englischer Text im Morgenkreis

Täglich 5-10 Min

Täglich wird ein Kind gezogen, das einen englischen Text vorbereitet hat und vorliest.

Englisches Tagebuch

Wöchentlich 1h

Zu jedem Schultag 1 Satz, für d. Wochenende mehr.

Englische Vokabeln erarbeiten/ lernen

Wöchentlich 1-2 h

Effektive Lernmethoden sollten gemeinsam erar­bei­tet werden. (Nur Vokabelheft ist wenig effektiv.) 

Dichterlesung Vorbereitung

Wöchentlich 2-3 h

Texte schreiben, Gedichte lernen, Dialoge schreiben, Sketche einüben, ...

Dichterlesung Auftritt

Wöchentlich/monatl. 0,5 h

Regelmäßiger, häufiger Rhythmus bringt u.a. die Textproduktion in Gang

Bücher lesen und vorstellen

Wöchentlich 2-3 h

Vorstellung z.B. auf Dichterlesung oder in Klasse

Lesetagebuch

Pro Kapitel ca. ½ h

Der Sch. sollte sich mit dem gelesenen Buch intensiv beschäftigen und darüber ein „Tage­buch“ führen. Es gibt sehr offene Formen von Lesetagebüchern. 

Gedicht der Woche

Einmal pro Woche.

Vorbereit. mind. ½ h

Vortrag: 5-10 Min.

Z.B. einmal pro Woche sucht ein Schüler aus ei­ner Sammlung ein Gedicht aus, das er der Grup­pe vorträgt. L. gibt Anregung zur Weiterarbeit.

Zeitungsabschnitt des Tages

Täglich 5-10 Min, bei Interesse der Lern­grup­pe ggf. längere Diskus.

Täglich wird ein Schüler gezogen, der für den nächsten Tag einen Zeitungs­artikel auswählt und vorliest. (Entwickelt politisches Interesse.)

Musikstück vortragen

Unregelm. für Einzelne

Auf Kreisen und Dichterlesung

Sportpräsentation

1 Sportstunden pro Woche

Sch. bereiten (evt. mit Lehreruntestützung ) eine Sportstunde vor und führen sie dann durch.

Zeitungen/Magazine erstellen

Wöchtl. 2-3h, Redaktionssitzung mehr

Z:B. als Abschluss eines bestimmten  Unterrichtsvorhabens oder als Sammlung freier Arbeiten (freie Texte)

.Portfolio erstellen/vorstellen

Wöchentlich 0,5-1 h

Schläft ein ohne regelmäßige Präsentation vor der Klasse. 

Lerntagebuch/Wochen-plan führen

Wöchentlich 0,5-1 h

Würdigung/Besprechung durch/mit Pädagogen ist notwendig, sonst wird das Lerntagebuch nicht mit dem notwendigen Ernst geführt.  

Lernprojekte in der Stadt, z.B. Praktika

1 bis mehrere Tage pro Woche, auch über einen längeren Zeitraum

Hier geht es nicht vorrangig um Berufspraktika, sondern um lernintensive Lebenserfahrungen, die entsprechend aufgearbeitet werden sollten.

Loguch zur Projekt­arbeit bzw. zu Prak­tikas/Vorhaben außer­halb des Schulraumes

Wöchentlich 2-4 h

Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt: Dokumentation, Tagebuch, Plakate, Fotos und Video,..... Empfehlenswert ist eine klare Absprache, wann daran gearbeitet wird.

Bitte fortsetzen....

 

 

 

 

 



[1]    Siehe z.B. FuV Nr. 77 vom September 1996, S. 92-98. Zu dem dort dargestellten Entwicklungsprozess des Schülers Kay gibt es übrigens noch den Nachtrag, dass Kay heute in einem Erdölbetrieb einer Gruppe von 120 Mitarbeitern vorsteht.

[2]      Nähere Infos siehe unter: www.kinderschule-oberhavel.de